Tortoise - Band
aus Chicago zwischen Dub und Rock
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ohne bankrott zu gehen
Chicago ist
das neue Musikmekka. Musikkritiker und Fans entdecken pausenlos
innovative Bands, die bislang in den klirrend kalten Wintermonaten
unbemerkt von der Weltöffentlichkeit vor sich hin klimperten. So
auch Tortoise (=Schildkröte, tordes ausgesprochen).
Von
Harald Fette
Es ist die erste
Europa-Tournee von Tortoise. Aber die Musiker der noch jungen Band
kennen sich ganz gut aus in den Musikklubs und Konzerthallen auf
diesem Kontinent. Während vier Jungs der Gruppe Tortoise im Café
der Münchner Muffathalle hocken und auf den Soundcheck warten, zählen
sie auf: Einer ist vier Mal mit den Tar Babies hier gewesen. Ein
anderer tourte mit den Palace Brothers. Einer mit den Eleventh Dream
Day. Einer mit den Mekons. Und Bastro. Weitere Überschneidungen
gibt es mit Red Crayola, Gastr del Sol, The Sea and Cake, Seam,
Poster Children, Shrimp Boat und Liz Phair.
Sitze ich also
am Tisch mit einer neuen Supergruppe? Zumindest mit einer Gruppe
der anderen Art. Denn während John McEntire, John Herndon, Dough
McComb, Dan Bitney, Bundy K. Brown und Brad Wood in oben genannten
Bands die Kultur des Rock’n Roll pflegen, spielen sie mit Tortoise
eine völlig andere Musik.
Da haben sich
also nicht wie in den 60er und 70er Jahren "die Besten"
aus verschiedenen Bands zusammengetan, um unter Getöse und Medienrummel
die Kassen der Plattenfirma klingeln zu lassen. Bei Tortoise klingeln
nur die Ohren der Zuhörer. Mit der schwer konsumierbaren Mischung
aus Punk und Free Jazz bleibt die Band vorläufig im Untergrund.
Schon die Beschreibung
"zwischen Punk und Free Jazz" birgt allerdings ein kritisches
Element. Denn Schubladendenken ist bei dieser Band fehl am Platz.
Die musikalischen Einflüsse - das belegt das Engagement der Tortoise-Musiker
in den unterschiedlichsten anderen Gruppen - sind vielseitig.
Einmal durchwechseln
Vielseitig bis
unüberschaubar ist auch das Line-up der Band. Zwischen den Songs
wechseln die fünf Musiker (Bundy war beim Konzert leider nicht dabei)
einmal durch. Bei einem Stück gibt es zwei Schlagzeuger. Im nächsten
spielen dafür zwei gleichzeitig den E-Baß. Es können aber auch schon
mal drei der fünf Musiker Baß spielen.
Tortoise sind
offen für alles. Auf der Bühne hat niemand einen festen Platz. Kein
Beleuchter fährt mit dem Verfolgerspot auf den Gitarristen, der
gerade ein Solo aus dem Ärmel schüttelt. Überhaupt: Wer wollte bei
Tortoise Solist sein? Selbst so schräge und auffällige Instrumente
wie Vibraphon oder Melodica (die kleinen Blasinstrumente mit den
Tasten einer Klaviatur, an denen im Grundschulunterricht neben der
Blockflöte niemand vorbeikommt) werden beiläufig eingestreut, verdichten
sich mit den hypnotischen Rhythmen zu einem Soundgeflecht.
"Jeder
steuert Ideen bei," erklärt Dough McCombs die Arbeitsweise
von Tortoise, "ob das eine Melodie oder ein anderes Segment
ist. Die Gruppe ist der Komponist. Manchmal improvisieren wir auch
einfach, nehmen das auf Band auf und versuchen das anschließend
wieder zusammen zu pfriemeln. Aber es gibt in der Band niemanden,
der die Stücke komponiert."
Es gab da einmal
einen Song, den ein Freund komponiert hat. Eine Country-Ballade.
Aber das Stück ist nicht original erhalten geblieben. "Wir
haben die Melodie übernommen", berichtet John Hendon "und
sie über ein ganz anderes Gerüst gelegt. So arbeitet Tortoise: wir
nehmen verschiedene Einflüsse auf und reinterpretieren sie, ohne
daß dabei das herauskommt, was der Zuhörer offensichtlich erwartet.
Musik muß nicht immer in Schubladen gesteckt werden. Es kann auch
alles verschmelzen. In unserer Live-Show gibt es atmosphärische,
stimmungsbetonte Stellen. Es gibt aber auch sehr dynamische Passagen."
Verschiedene
Einflüsse, wie sie die Musiker von Tortoise mitbringen, werden allesamt
absorbiert. Trotz der Unmöglichkeit, dem instrumentalen Konglomerat
der Tortoise-Musik einen Namen zu geben: Mich erinnert der wabernde
Klangteppich an Dub.
Wie einst der
Reggae bis aufs Fundament zusammengestutzt wurde, kommen auch bei
Tortoise assoziative Klänge zum Tragen. Der Rhythmus wird aufgeschichtet
mit Sounds. Ob Gesangsfetzen oder Töne aus den Instrumenten eingefügt
werden, am Ende steht ein in sich geschlossenes Klanggebilde. Die
Bühnenshow der Band hat Session-Charakter.
Soundtrack-Musik
Ein Stück auf
der Debut-CD trägt den Namen "Ry Cooder". Dahinter verbirgt
sich aber keine Hommage an den Musiker. Der Titel soll ausdrücken,
daß das Stück "eine filmische Qualität hat". Soundtrack-Musik.
Stimungen erzeugen und auskosten.
"Gewöhnlich
konzentrieren wir uns auf Dinge im Song", meint Dough McComb,
"die sehr abstrakt sind. Was uns gewöhnlich und schon bekannt
und bereits gehört erscheint, schieben wir in den Hintergrund. Dann
wird das Ungewöhnliche sichtbar. Damit wird die Musik viel interessanter.
Man kann beim Hören versuchen, durch die Schichten zu dringen und
herausfinden, was da gerade passiert."
John Hendon
und Dough haben Tortoise 1991 ins Leben gerufen. Die beiden wohnten
gemeinsam in einer Wohnung. Neben ihrem Engagement bei den Mekons/Poster
Children oder 11th Dream Day wollten sie musikalisches Neuland betreten.
Mit ihren Freunden aus der Chicagoer Musikerszene begannen sie in
Sessions, wie sie für Chicago nicht untypisch sind.
"Manchmal
gibt es dort verückte Jazz Sessions - mit zwei Schlagzeugern, zwei
Bassisten, fünf Bläsern, Keyboard und Gitarre. Ich wünschte, das
würde öfter passieren" meint Dan Bitney. Dan war früher bei
den Tar Babies, bis seiner Meinung nach "die Band an Energie
verloren hat". Weil er in Chicago Freunde hatte, mit denen
er auch weiterhin musizieren wollte, kam er in die Stadt.
Außerdem ist
John McIntyre mit von der Partie. Er ist in der Szene der Stadt
ohnehin ein fester Bestandteil, spielt oder spielte bei Sea and
Cake, Red Crayola, Gastr del Sol, Seam und Bastro. Bundy Brown -
Bassist bei Red Crayola, Gastr del Sol, Seam, Bastro - hat ebenso
Lust auf Ungewöhnliches wie Brad Wood, der auch bei Liz Phair für
Soundsamples sorgt und ein gefragter Studiotechniker ist. Zusammengenommen
ist Tortoise komplett. Sie spielen bei kleinen Chicagoer Labels
zwei (inzwischen längst vergriffene) Singles ein.
Im November
1994 erscheint dann die erste LP/CD. In den USA sind sie bei Thrill
Jockey unter Vertrag, in Europa kümmert sich das rührige Berliner
Label City Slang um sie. Einen Manager haben sie nicht. Dan Bitney,
von Haus aus ein funky- Schlagzeuger mit viel Jazz-Erfahrung, hält
das für ebenso überflüssig wie seine anderen drei Kollegen am Tisch
im Café: "Es ist nicht notwendig, einen Manager zu haben. Das
würde uns nur davon abhalten, unseren Kram geregelt zu bekommen."
Sie sind es
ohnehin gewohnt, sich im Leben durchzuschlagen. Neben dem Engagement
in Bands warten noch die üblichen Musikerjobs auf sie: Barkeeper,
Taxifahrer, Musikunterricht geben oder fürs Plattenlabel arbeiten.
"Das Beste am Musikerdasein ist es, Musik zu schreiben und
sie zu spielen." Und doch machen sie vieles mehr. Bundy hat
die Rohversion des Plattencovers entworfen. Die Geschäfte kontrollieren
sie in enger Zusammenarbeit mit den Labels. John meint: "Nach
meinem Gefühl geht es mit Tortoise stetig aufwärts. Aber Rockstar
möchte ich sowieso nicht werden."
Originalton Tortoise:
Wav 1.8 MB
Nur Dan nörgelt,
daß es doch meist die falschen trifft: "Ich bin schon lange
im Musikgeschäft. Und ich habe gesehen, wie Musiker, die nichts
können, ganz gut verdienen."
Vielleicht spielen
die Jungs von Tortoise auch mal genug ein, um auf die Aushilfsjobs
in Chicago zu verzichten. Das Medieninteresse für Tortoise jedenfalls
ist beträchtlich. Was sie nicht sonderlich beeindruckt. "Inzwischen
schauen die Leute gespannt, was in Chicago passiert. Es gab immer
schon gute Musik in der Stadt. Nun haben sich die Medien Chicago
ausgesucht. Im Jahr davor war es Seattle, davor Minneapolis, davor
Athens in Georgia, Louisville in Kentucky oder Austin. Aber das
bedeutet nichts."
Das Fazit von
Tortoise zum Thema Chicago: Es gibt keinen spezifischen Musikstil
in der Stadt. Und doch gibt es mit Tortoise und den Souled American
kaum Bands, die den Moment beim musizieren so auskosten und in ein
derart intensives, gelegentlich in Zeitlupe vorgetragenes Gerippe
packen wie diese Bands aus Chicago.
"Auch in
anderen Städten gibt es zu jedem Zeitpunkt gute Musik. Nur weiß
niemand davon. Bis die Medien sich darauf stürzen. Bald ist es mit
der Hysterie um Chicago vorbei, dann pendelt sich wieder alles auf
das normale Maß ein." |