Nr. 1 / April 1995


















Gästebuch


Tortoise - Band aus Chicago zwischen Dub und Rock

Weitermachen ohne bankrott zu gehen

Chicago ist das neue Musikmekka. Musikkritiker und Fans entdecken pausenlos innovative Bands, die bislang in den klirrend kalten Wintermonaten unbemerkt von der Weltöffentlichkeit vor sich hin klimperten. So auch Tortoise (=Schildkröte, tordes ausgesprochen).

Von Harald Fette

Es ist die erste Europa-Tournee von Tortoise. Aber die Musiker der noch jungen Band kennen sich ganz gut aus in den Musikklubs und Konzerthallen auf diesem Kontinent. Während vier Jungs der Gruppe Tortoise im Café der Münchner Muffathalle hocken und auf den Soundcheck warten, zählen sie auf: Einer ist vier Mal mit den Tar Babies hier gewesen. Ein anderer tourte mit den Palace Brothers. Einer mit den Eleventh Dream Day. Einer mit den Mekons. Und Bastro. Weitere Überschneidungen gibt es mit Red Crayola, Gastr del Sol, The Sea and Cake, Seam, Poster Children, Shrimp Boat und Liz Phair.

Sitze ich also am Tisch mit einer neuen Supergruppe? Zumindest mit einer Gruppe der anderen Art. Denn während John McEntire, John Herndon, Dough McComb, Dan Bitney, Bundy K. Brown und Brad Wood in oben genannten Bands die Kultur des Rock’n Roll pflegen, spielen sie mit Tortoise eine völlig andere Musik.

Da haben sich also nicht wie in den 60er und 70er Jahren "die Besten" aus verschiedenen Bands zusammengetan, um unter Getöse und Medienrummel die Kassen der Plattenfirma klingeln zu lassen. Bei Tortoise klingeln nur die Ohren der Zuhörer. Mit der schwer konsumierbaren Mischung aus Punk und Free Jazz bleibt die Band vorläufig im Untergrund.

Schon die Beschreibung "zwischen Punk und Free Jazz" birgt allerdings ein kritisches Element. Denn Schubladendenken ist bei dieser Band fehl am Platz. Die musikalischen Einflüsse - das belegt das Engagement der Tortoise-Musiker in den unterschiedlichsten anderen Gruppen - sind vielseitig.

Einmal durchwechseln

Vielseitig bis unüberschaubar ist auch das Line-up der Band. Zwischen den Songs wechseln die fünf Musiker (Bundy war beim Konzert leider nicht dabei) einmal durch. Bei einem Stück gibt es zwei Schlagzeuger. Im nächsten spielen dafür zwei gleichzeitig den E-Baß. Es können aber auch schon mal drei der fünf Musiker Baß spielen.

Tortoise sind offen für alles. Auf der Bühne hat niemand einen festen Platz. Kein Beleuchter fährt mit dem Verfolgerspot auf den Gitarristen, der gerade ein Solo aus dem Ärmel schüttelt. Überhaupt: Wer wollte bei Tortoise Solist sein? Selbst so schräge und auffällige Instrumente wie Vibraphon oder Melodica (die kleinen Blasinstrumente mit den Tasten einer Klaviatur, an denen im Grundschulunterricht neben der Blockflöte niemand vorbeikommt) werden beiläufig eingestreut, verdichten sich mit den hypnotischen Rhythmen zu einem Soundgeflecht.

"Jeder steuert Ideen bei," erklärt Dough McCombs die Arbeitsweise von Tortoise, "ob das eine Melodie oder ein anderes Segment ist. Die Gruppe ist der Komponist. Manchmal improvisieren wir auch einfach, nehmen das auf Band auf und versuchen das anschließend wieder zusammen zu pfriemeln. Aber es gibt in der Band niemanden, der die Stücke komponiert."

Es gab da einmal einen Song, den ein Freund komponiert hat. Eine Country-Ballade. Aber das Stück ist nicht original erhalten geblieben. "Wir haben die Melodie übernommen", berichtet John Hendon "und sie über ein ganz anderes Gerüst gelegt. So arbeitet Tortoise: wir nehmen verschiedene Einflüsse auf und reinterpretieren sie, ohne daß dabei das herauskommt, was der Zuhörer offensichtlich erwartet. Musik muß nicht immer in Schubladen gesteckt werden. Es kann auch alles verschmelzen. In unserer Live-Show gibt es atmosphärische, stimmungsbetonte Stellen. Es gibt aber auch sehr dynamische Passagen."

Verschiedene Einflüsse, wie sie die Musiker von Tortoise mitbringen, werden allesamt absorbiert. Trotz der Unmöglichkeit, dem instrumentalen Konglomerat der Tortoise-Musik einen Namen zu geben: Mich erinnert der wabernde Klangteppich an Dub.

Wie einst der Reggae bis aufs Fundament zusammengestutzt wurde, kommen auch bei Tortoise assoziative Klänge zum Tragen. Der Rhythmus wird aufgeschichtet mit Sounds. Ob Gesangsfetzen oder Töne aus den Instrumenten eingefügt werden, am Ende steht ein in sich geschlossenes Klanggebilde. Die Bühnenshow der Band hat Session-Charakter.

Soundtrack-Musik

Ein Stück auf der Debut-CD trägt den Namen "Ry Cooder". Dahinter verbirgt sich aber keine Hommage an den Musiker. Der Titel soll ausdrücken, daß das Stück "eine filmische Qualität hat". Soundtrack-Musik. Stimungen erzeugen und auskosten.

"Gewöhnlich konzentrieren wir uns auf Dinge im Song", meint Dough McComb, "die sehr abstrakt sind. Was uns gewöhnlich und schon bekannt und bereits gehört erscheint, schieben wir in den Hintergrund. Dann wird das Ungewöhnliche sichtbar. Damit wird die Musik viel interessanter. Man kann beim Hören versuchen, durch die Schichten zu dringen und herausfinden, was da gerade passiert."

John Hendon und Dough haben Tortoise 1991 ins Leben gerufen. Die beiden wohnten gemeinsam in einer Wohnung. Neben ihrem Engagement bei den Mekons/Poster Children oder 11th Dream Day wollten sie musikalisches Neuland betreten. Mit ihren Freunden aus der Chicagoer Musikerszene begannen sie in Sessions, wie sie für Chicago nicht untypisch sind.

"Manchmal gibt es dort verückte Jazz Sessions - mit zwei Schlagzeugern, zwei Bassisten, fünf Bläsern, Keyboard und Gitarre. Ich wünschte, das würde öfter passieren" meint Dan Bitney. Dan war früher bei den Tar Babies, bis seiner Meinung nach "die Band an Energie verloren hat". Weil er in Chicago Freunde hatte, mit denen er auch weiterhin musizieren wollte, kam er in die Stadt.

Außerdem ist John McIntyre mit von der Partie. Er ist in der Szene der Stadt ohnehin ein fester Bestandteil, spielt oder spielte bei Sea and Cake, Red Crayola, Gastr del Sol, Seam und Bastro. Bundy Brown - Bassist bei Red Crayola, Gastr del Sol, Seam, Bastro - hat ebenso Lust auf Ungewöhnliches wie Brad Wood, der auch bei Liz Phair für Soundsamples sorgt und ein gefragter Studiotechniker ist. Zusammengenommen ist Tortoise komplett. Sie spielen bei kleinen Chicagoer Labels zwei (inzwischen längst vergriffene) Singles ein.

Im November 1994 erscheint dann die erste LP/CD. In den USA sind sie bei Thrill Jockey unter Vertrag, in Europa kümmert sich das rührige Berliner Label City Slang um sie. Einen Manager haben sie nicht. Dan Bitney, von Haus aus ein funky- Schlagzeuger mit viel Jazz-Erfahrung, hält das für ebenso überflüssig wie seine anderen drei Kollegen am Tisch im Café: "Es ist nicht notwendig, einen Manager zu haben. Das würde uns nur davon abhalten, unseren Kram geregelt zu bekommen."

Sie sind es ohnehin gewohnt, sich im Leben durchzuschlagen. Neben dem Engagement in Bands warten noch die üblichen Musikerjobs auf sie: Barkeeper, Taxifahrer, Musikunterricht geben oder fürs Plattenlabel arbeiten. "Das Beste am Musikerdasein ist es, Musik zu schreiben und sie zu spielen." Und doch machen sie vieles mehr. Bundy hat die Rohversion des Plattencovers entworfen. Die Geschäfte kontrollieren sie in enger Zusammenarbeit mit den Labels. John meint: "Nach meinem Gefühl geht es mit Tortoise stetig aufwärts. Aber Rockstar möchte ich sowieso nicht werden."
Originalton Tortoise: Wav 1.8 MB

Nur Dan nörgelt, daß es doch meist die falschen trifft: "Ich bin schon lange im Musikgeschäft. Und ich habe gesehen, wie Musiker, die nichts können, ganz gut verdienen."

Vielleicht spielen die Jungs von Tortoise auch mal genug ein, um auf die Aushilfsjobs in Chicago zu verzichten. Das Medieninteresse für Tortoise jedenfalls ist beträchtlich. Was sie nicht sonderlich beeindruckt. "Inzwischen schauen die Leute gespannt, was in Chicago passiert. Es gab immer schon gute Musik in der Stadt. Nun haben sich die Medien Chicago ausgesucht. Im Jahr davor war es Seattle, davor Minneapolis, davor Athens in Georgia, Louisville in Kentucky oder Austin. Aber das bedeutet nichts."

Das Fazit von Tortoise zum Thema Chicago: Es gibt keinen spezifischen Musikstil in der Stadt. Und doch gibt es mit Tortoise und den Souled American kaum Bands, die den Moment beim musizieren so auskosten und in ein derart intensives, gelegentlich in Zeitlupe vorgetragenes Gerippe packen wie diese Bands aus Chicago.

"Auch in anderen Städten gibt es zu jedem Zeitpunkt gute Musik. Nur weiß niemand davon. Bis die Medien sich darauf stürzen. Bald ist es mit der Hysterie um Chicago vorbei, dann pendelt sich wieder alles auf das normale Maß ein."

Letzte Änderungen: 28.12.2001
Produziert von
Peter Pötsch