Nr. 10 / Mai 1999

















Gästebuch


Bücher

Hermann Nitsch

Das 6-Tage Spiel
52 min VHS / 450 …S
[Cosmos Factory GmbH Wien]

[fs] Es ist wohl bis dato um keinen Künstler mehr Aufhebens gemacht worden als um den Wiener Aktionisten Nitsch, der 1957 die Idee des Orgien Mysterien Theaters (O.M. Theater) faßte und seit 1975 in unregelmäßigen Abständen realisierte: Eine neue Form eines Gesamtkunstwerkes, ein sechs Tage dauerndes blutrotes Festspiel, in dem reale Geschehnisse naturtrüb und orchestriert inszeniert werden. Alle fünf Sinne der Spielteilnehmer werden direkt beansprucht, jeder Zuschauer ist potentieller Mitwirkender und es wäre bei Interesse empfohlen, sich mit ausreichend Wechselkleidung auszurüsten!

Die vorliegende ORF-Dokumentation der 100. Aktion (1998) auf Schloß Prinzendorf und Umgebung (von Peter Kasperak) gibt einen ekstatischen Querschnitt dieses rotschimmernden Aktionstheaters unter Leitung des Zeremonienmeisters Nitsch, der diese permanente Ekstase, dies totemistisch-archaische Spektakel hin zum Grundexzess (intensivstes sinnliches, ekstatisches Erleben, exzessiver Ausbruch unserer Natur, unserer Energie) begleitet. Zwischen rituellen Schlachtungen, Ausweidungs-, Mal- und Beschüttungsaktionen, Prozessionen und Wanderungen schimmert immer deutlicher das mythische Leitmotiv durch: Der Versuch einer religionsarchäologischen Analyse. Diese Orgiastik mündet am 5.Tag in einer Lärmekstase, dem Höhepunkt des Spieles, der existentialen Konfrontation des Daseins mit dem Nichts mit anschließender Auferstehung des Selbst (viele Fackelzüge gehen durch die Nacht). Der 6. Tag ist der Abschluß der Auferstehung, reine Daseinsfreude: das O-M. Theater wird zum Volksfest, unbeschreiblicher Jubel macht sich breit, und bei Sonnenaufgang umarmen und küssen sich die Spielteilnehmer.

Ob dies ein Schüren öffentlichen Ärgernisses ist, eine Verletzung der Gebote des öffentlichen Raums, ist nicht entscheidbar. Zuletzt entfloh Nitsch mit dem Erwerb des Schlosses (1971) und der Gründung des "Verein zur Förderung des O.M. Theaters" (1973) diesem begrenzten Einheitskreis der öffentlichen Befindlichkeit und seiner strengen Auflagen. Sein geistesverwandter Aktionist Otto Muehl ("Psychomotorik" mit seinem Nouveau Variétéschocker "Akt natur", für Jugendliche unter 21 Jahren verboten!) hingegen hat sich im Räderwerk der öffentlich-rechtlichen Administration eher festgefahren. Der Aktionismus aber lebt fort, heuer (101. Aktion) wie jedes Jahr an Pfingsten im offenen Kreis der großen Familie des O.M. Theaters mit einer festlichen Retrospektive der 100. Aktion. Everybody«s wellcome.

[Infos unter: H. Nitsch, Schloss 1, A-2185 Prinzendorf, phone: +43/2533/ 89380, fax: +43/2533/89693;
e-mail: hermann@nitsch.org oder http://www. nitsch.org]

 

Joan Billing

>The skin I«m in No.1
Großformat 116 Seiten / 80 sFr
[Verlag Trend-Information GmbH]

[fs] Entstanden ist das Projekt, das nun vierteljährlich erscheinen soll und dessen erste Nummer (1999 limitierte, nummerierte und handsignierte Exemplare) nach 4 1/2 Monaten Arbeit nun vorliegt, im Rahmen der Diplomarbeit für die Fachklasse K+K Körper und Kleid der Höheren Schule für Gestaltung Basel. Dreh- und Angelpunkt des Projekts sind aber nicht primär stoffliche Kollektionsentwürfe als designte zweite Haut, sondern die Haut selbst mit all ihren Verletzlich-keitsspuren und Faltungen, die in diesem eher als Kunstkatalog anmutendem Magazin von zahlreichen Autoren reflektiert werden. Ergebnis sind viel-fältige philosophische Exkurse über den unerschöpflichen Reichtum menschlicher Körperfalten, über Falten der Seele (Leibniz), über die geschwungenen Falten des von de Sade so priveligierten Körperteils (Bataille), über die Faltungen des Seins (Heidegger) oder der Materie (Deleuze). Illustre Schreiber wie Ulf Poschardt (SZ Magazin) ergießen sich dann über die Ikonographie der Mode als Ausbruchstreben der Hyperindividualisierten aus den luftig-leichten Gattern der stofflichen Selbstinszenierung, aus den autistischen Prothesen der Außenweltkontaktaufnahme. Mode macht den Träger zum Sender und Empfänger gleichzeitig: "Da die Mode immer nur Prothesen des Ich sind, unwesentliche Erweiterungen des Menschen, fällt es leicht, das Fremde zum Eigenen zu machen: ganz einfach indem man es anzieht". ">The Skin I’m in" hat aber noch mehr zu bieten. Abgesehen von den faszinierend abschweifenden 5-Farb-Abbildungen von Körper, Dessours und entfremdetetem Verbandsmaterial liegt noch eine vielversprechende CD von "rm 74" (>Verwirrter Katalog-Beitrag, Glitter und Elefantenmist, Hüllen) bei, eine elektro-akkustischen "Spiegelung" des optischen Hautgeschehen ("Fiebersenken", "Porenverstopfung"): Eine überzeugende Symbiose von Klang, Bild und Text, und man darf auf die Fortführung des Projekts mehr als gespannt sein.

[Bezug: Verlag Trend-Information, Merker-Areal, Postfach 1417, CH-5400 Baden, phon: +41562226622, fax: +41562217811]

 

Peter Rautmann / Nicolas Schalz

"Passagen.
Kreuz- und Quergänge durch die Moderne"
1400+36 Seiten + 2CDs /198.- DM
[ConBrio Verlagsgesellschaft]

[fs] In den 15 Jahren nach 1822 entstanden in Paris mehere Passagen: eine Erfindung des bourgeoisen Luxus und Sinnbild industriell-technischen Fortschritts. Diese Gebilde, die wie Labyrinthe ganze Häusermassen und Straßenzüge durchzogen, boten öffentlichen Freiraum für zielloses Flanieren zwischen Marmor, Glas und Metall, zwischen Läden und Schaufenstern, die einen Blick auf die neueste Warenproduktion freigaben. Es waren stets helle (Glasüberdachung und Gaslicht) und offene Architekturen, die keinen Zugang privilegieren und sich wie ein Netzwerk den Passanten gefangennahmen; eine leise Ahnung immerhin vermittelt die berliner Passage "Potsdamer Platz" mit ihren "Kreuz- und Quergänge", Arkaden, Toren, Vitrinen und Cafés. "Passage" im hier verwandten Sinn ist aber auch eine ästhetische Kategorie, die in architektonischer Anlehnung an Benjamins geschichtsphilosophisches Passagen-Fragment den gewaltigen Versuch eines künstlerischen Horizontentwurfs der späten Moderne unternimmt. Was für Benjamin das 19.Jhrt bedeutete, findet sich hier unter Beihilfe von Weiss ("Ästhetik des Widerstands") und Lyotard ("Widerstreit") als Entwurf des 20. Jhrts mit seinen zahllosen künstlerischen Widerstandslinien, die das ideelle Gebäude durchziehen, sich überschneiden, im Glanz der Schaufenster-scheiben spiegeln und mit ihren Reflexen für Helligkeit sorgen. "Das Moment der Passage , als Gang durch unterschiedliche künstlerische Konzeptionen" verläuft "in und zwischen Werken der Gegenwart": ein "historischer Bogenschlag zu Werken aus der Vergangenheit" als Zeitraffung und Zeitdehnung, der an ihren Schnitt- und Knotenpunkten die Fluchtlinien, Schneisen und Auswege unterschiedlicher künstlerischer Verfahren wie: Montage, Collage, Organizität, Serialität, Übermalung: die "Präsenz der Materie" in Farbe und Klang spiegelt. Eine Beschwörung der Benjaminschen "Magie der Ecke". Vor den Augen der Hörers/Lesers entsteht dann ein organisches Gebilde von Verweisungen und Bezügen, das angesichts der Fülle des Materials stets nur ein vorläufiges sein kann. Doch wie Orientierung finden bei beliebiger Zugänglichkeit? Am Einfachsten:Man folgt den 13 Spuren, die vom Eingang über das Archiv und die Tauschbörse, beim Lumpensammler vorbei auf die Galerie und letztlich wieder auf die Staße führt: Man trifft Kienholz, Tarkowskij, Warhol oder Twombly genauso wie die musikalischen Exegeten der Neuen Moderne (Varèse, Lachenmann, Nono und und und), erlebt an den klanglichen und plastischen Torsi ("In der Torsi-Galerie") die Spannung zwischen Fragment und Totalität (Nono, Hollinger, Beuys oder Cage) und in der "Tauschbörse" entfremdete, -stellte und verwandelte Welten von Globokar, Kafka oder dem Koreaner Pagh-Paan.

Abgerundet werden diese zwei umfangreichen Bänden dann noch von zwei CDs mit Klangbeispielen zum Text und einem eindrucksvoll kunstvoll gestaltetem Bildband "Farbklänge" mit Farb- und Notenabbildungen (von Xenakis« famosen "Metastasis", von Kurtàg oder Spahlinger). Und all dies in einer edlen 5 kg mächtigen Schuberedition, die ihre Investition mehr als wert ist: Ein dokumentarischer Meilenstein und ein Geniestreich.

Karl Bruckmaier

Soundcheck. Die 101 wichtigsten Platten der Popgeschichte.
[Verlag C.H. Beck, 172 Seiten, 17.90 DM]

[mz] Nein, das sind natürlich nicht die 101 definitiven Platten der Popgeschichte. So etwas gibt es nicht, kann es nicht geben. Das weiß auch Karl Bruckmaier [Jahrgang `56], "DJ, Autor und Regisseur des Bayerischen Rundfunks" wie es im Klapptext heißt, vor allem aber bekannt für seine Aufsätze zum Popgeschehen in der Süddeutschen Zeitung oder seine Radiobeiträge auf B2 ("Zündfunk"). Bruckmaier versteht sein kleines Büchlein "Soundcheck" deswegen auch als ganz persînliche musikalische Reise durch seine Plattensammlung. Ihm geht es nicht darum zum x-ten Mal "Sergent Pepper`s..." in den Himmel zu loben, sondern eher darum die etwas verquereren, mitunter auch vordergründig gescheiterten Platten diverser Künstler in seine Liste der 101 wichtigsten (und nicht besten) Platten zu integrieren. Platten also von "anfangs vielleicht unhörbarer Grandeur" und nicht "makellose Kopfnickplatten. Von den Beatles also "Let it be" und nicht obige "Sergeant Pepper`s...", von Captain Beefheart "Clear spot" und nicht "Trout Mask Replica", von John Cale "Music for a new society" und nicht "Paris 1919" oder gar das erste Album der Velvet Underground etc etc. Eine "ideale Plattensammlung" also und zugleich eine unterhaltsame Reise durch die Popgeschichte von A wie American Music Club bis Z wie Zappa, von Blues und Country bis Drum & Bass. Sicherlich ist man an der ein oder anderen Stelle anderer Meinung, hält es zweifellos nicht für nötig gleich vier (!) Alben der Rolling Stones in diese Liste einzureihen, geschweige denn "Piledriver" von Status Quo. Nichtsdestotrotz sind es vor allem die Anekdoten, Feinheiten eines Kenners die dieses Buch kurzweilig und unterhaltsam zugleich werden lassen, Lust machen auf die Suche zu gehen nach dem Countryalbum der Byrds ("Sweetheart of the Rodeo") bzw. in die Archive der eigenen Sammlung. Wie lange hat man eigentlich schon "Fire of Love", das Debütalbum der amerikanischen Gun Club nicht mehr gehört, wie lange "Loaded" von Velvet Underground oder "Nothing can stop us" von Robert Wyatt.

Ein Index, Bezugsadressen sowie die Top-100 der deutschen Rolling Stone-Readaktion und die "perfekte Plattenliste" von Daisys Sammlung runden das Ganze ab.

Letzte Änderungen: 28.12.2001
Produziert von
Peter Pötsch