Bücher
Hermann Nitsch
Das 6-Tage Spiel
52 min
VHS / 450 …S
[Cosmos
Factory GmbH Wien]
[fs]
Es ist wohl bis dato um keinen Künstler mehr Aufhebens gemacht worden
als um den Wiener Aktionisten Nitsch, der 1957 die Idee des Orgien
Mysterien Theaters (O.M. Theater) faßte und seit 1975 in unregelmäßigen
Abständen realisierte: Eine neue Form eines Gesamtkunstwerkes, ein
sechs Tage dauerndes blutrotes Festspiel, in dem reale Geschehnisse
naturtrüb und orchestriert inszeniert werden. Alle fünf Sinne der
Spielteilnehmer werden direkt beansprucht, jeder Zuschauer ist potentieller
Mitwirkender und es wäre bei Interesse empfohlen, sich mit ausreichend
Wechselkleidung auszurüsten!
Die vorliegende
ORF-Dokumentation der 100. Aktion (1998) auf Schloß Prinzendorf
und Umgebung (von Peter Kasperak) gibt einen ekstatischen Querschnitt
dieses rotschimmernden Aktionstheaters unter Leitung des Zeremonienmeisters
Nitsch, der diese permanente Ekstase, dies totemistisch-archaische
Spektakel hin zum Grundexzess (intensivstes sinnliches, ekstatisches
Erleben, exzessiver Ausbruch unserer Natur, unserer Energie) begleitet.
Zwischen rituellen Schlachtungen, Ausweidungs-, Mal- und Beschüttungsaktionen,
Prozessionen und Wanderungen schimmert immer deutlicher das mythische
Leitmotiv durch: Der Versuch einer religionsarchäologischen Analyse.
Diese Orgiastik mündet am 5.Tag in einer Lärmekstase, dem Höhepunkt
des Spieles, der existentialen Konfrontation des Daseins mit dem
Nichts mit anschließender Auferstehung des Selbst (viele Fackelzüge
gehen durch die Nacht). Der 6. Tag ist der Abschluß der Auferstehung,
reine Daseinsfreude: das O-M. Theater wird zum Volksfest, unbeschreiblicher
Jubel macht sich breit, und bei Sonnenaufgang umarmen und küssen
sich die Spielteilnehmer.
Ob dies ein
Schüren öffentlichen Ärgernisses ist, eine Verletzung der Gebote
des öffentlichen Raums, ist nicht entscheidbar. Zuletzt entfloh
Nitsch mit dem Erwerb des Schlosses (1971) und der Gründung des
"Verein zur Förderung des O.M. Theaters" (1973) diesem
begrenzten Einheitskreis der öffentlichen Befindlichkeit und seiner
strengen Auflagen. Sein geistesverwandter Aktionist Otto Muehl ("Psychomotorik"
mit seinem Nouveau Variétéschocker "Akt natur", für Jugendliche
unter 21 Jahren verboten!) hingegen hat sich im Räderwerk der öffentlich-rechtlichen
Administration eher festgefahren. Der Aktionismus aber lebt fort,
heuer (101. Aktion) wie jedes Jahr an Pfingsten im offenen Kreis
der großen Familie des O.M. Theaters mit einer festlichen Retrospektive
der 100. Aktion. Everybody«s wellcome.
[Infos
unter: H. Nitsch, Schloss 1, A-2185 Prinzendorf, phone: +43/2533/
89380, fax: +43/2533/89693;
e-mail: hermann@nitsch.org
oder http://www. nitsch.org]
Joan Billing
>The skin
I«m in No.1
Großformat
116 Seiten / 80 sFr
[Verlag
Trend-Information GmbH]
[fs] Entstanden
ist das Projekt, das nun vierteljährlich erscheinen soll und dessen
erste Nummer (1999 limitierte, nummerierte und handsignierte Exemplare)
nach 4 1/2 Monaten Arbeit nun vorliegt, im Rahmen der Diplomarbeit
für die Fachklasse K+K Körper und Kleid der Höheren Schule für Gestaltung
Basel. Dreh- und Angelpunkt des Projekts sind aber nicht primär
stoffliche Kollektionsentwürfe als designte zweite Haut, sondern
die Haut selbst mit all ihren Verletzlich-keitsspuren und Faltungen,
die in diesem eher als Kunstkatalog anmutendem Magazin von zahlreichen
Autoren reflektiert werden. Ergebnis sind viel-fältige philosophische
Exkurse über den unerschöpflichen Reichtum menschlicher Körperfalten,
über Falten der Seele (Leibniz), über die geschwungenen Falten des
von de Sade so priveligierten Körperteils (Bataille), über die Faltungen
des Seins (Heidegger) oder der Materie (Deleuze). Illustre Schreiber
wie Ulf Poschardt (SZ Magazin) ergießen sich dann über die Ikonographie
der Mode als Ausbruchstreben der Hyperindividualisierten aus den
luftig-leichten Gattern der stofflichen Selbstinszenierung, aus
den autistischen Prothesen der Außenweltkontaktaufnahme. Mode macht
den Träger zum Sender und Empfänger gleichzeitig: "Da die Mode
immer nur Prothesen des Ich sind, unwesentliche Erweiterungen des
Menschen, fällt es leicht, das Fremde zum Eigenen zu machen: ganz
einfach indem man es anzieht". ">The Skin I’m
in" hat aber noch mehr zu bieten. Abgesehen von den faszinierend
abschweifenden 5-Farb-Abbildungen von Körper, Dessours und entfremdetetem
Verbandsmaterial liegt noch eine vielversprechende CD von "rm
74" (>Verwirrter Katalog-Beitrag, Glitter und Elefantenmist,
Hüllen) bei, eine elektro-akkustischen "Spiegelung" des
optischen Hautgeschehen ("Fiebersenken", "Porenverstopfung"):
Eine überzeugende Symbiose von Klang, Bild und Text, und man darf
auf die Fortführung des Projekts mehr als gespannt sein.
[Bezug:
Verlag Trend-Information, Merker-Areal, Postfach 1417, CH-5400 Baden,
phon: +41562226622, fax: +41562217811]
Peter Rautmann
/ Nicolas Schalz
"Passagen.
Kreuz-
und Quergänge durch die Moderne"
1400+36
Seiten + 2CDs /198.- DM
[ConBrio
Verlagsgesellschaft]
[fs] In den
15 Jahren nach 1822 entstanden in Paris mehere Passagen: eine Erfindung
des bourgeoisen Luxus und Sinnbild industriell-technischen Fortschritts.
Diese Gebilde, die wie Labyrinthe ganze Häusermassen und Straßenzüge
durchzogen, boten öffentlichen Freiraum für zielloses Flanieren
zwischen Marmor, Glas und Metall, zwischen Läden und Schaufenstern,
die einen Blick auf die neueste Warenproduktion freigaben. Es waren
stets helle (Glasüberdachung und Gaslicht) und offene Architekturen,
die keinen Zugang privilegieren und sich wie ein Netzwerk den Passanten
gefangennahmen; eine leise Ahnung immerhin vermittelt die berliner
Passage "Potsdamer Platz" mit ihren "Kreuz- und Quergänge",
Arkaden, Toren, Vitrinen und Cafés. "Passage" im hier
verwandten Sinn ist aber auch eine ästhetische Kategorie, die in
architektonischer Anlehnung an Benjamins geschichtsphilosophisches
Passagen-Fragment den gewaltigen Versuch eines künstlerischen Horizontentwurfs
der späten Moderne unternimmt. Was für Benjamin das 19.Jhrt bedeutete,
findet sich hier unter Beihilfe von Weiss ("Ästhetik des Widerstands")
und Lyotard ("Widerstreit") als Entwurf des 20. Jhrts
mit seinen zahllosen künstlerischen Widerstandslinien, die das ideelle
Gebäude durchziehen, sich überschneiden, im Glanz der Schaufenster-scheiben
spiegeln und mit ihren Reflexen für Helligkeit sorgen. "Das
Moment der Passage , als Gang durch unterschiedliche künstlerische
Konzeptionen" verläuft "in und zwischen Werken der Gegenwart":
ein "historischer Bogenschlag zu Werken aus der Vergangenheit"
als Zeitraffung und Zeitdehnung, der an ihren Schnitt- und Knotenpunkten
die Fluchtlinien, Schneisen und Auswege unterschiedlicher künstlerischer
Verfahren wie: Montage, Collage, Organizität, Serialität, Übermalung:
die "Präsenz der Materie" in Farbe und Klang spiegelt.
Eine Beschwörung der Benjaminschen "Magie der Ecke". Vor
den Augen der Hörers/Lesers entsteht dann ein organisches Gebilde
von Verweisungen und Bezügen, das angesichts der Fülle des Materials
stets nur ein vorläufiges sein kann. Doch wie Orientierung finden
bei beliebiger Zugänglichkeit? Am Einfachsten:Man folgt den 13 Spuren,
die vom Eingang über das Archiv und die Tauschbörse, beim Lumpensammler
vorbei auf die Galerie und letztlich wieder auf die Staße führt:
Man trifft Kienholz, Tarkowskij, Warhol oder Twombly genauso wie
die musikalischen Exegeten der Neuen Moderne (Varèse, Lachenmann,
Nono und und und), erlebt an den klanglichen und plastischen Torsi
("In der Torsi-Galerie") die Spannung zwischen Fragment
und Totalität (Nono, Hollinger, Beuys oder Cage) und in der "Tauschbörse"
entfremdete, -stellte und verwandelte Welten von Globokar, Kafka
oder dem Koreaner Pagh-Paan.
Abgerundet werden
diese zwei umfangreichen Bänden dann noch von zwei CDs mit Klangbeispielen
zum Text und einem eindrucksvoll kunstvoll gestaltetem Bildband
"Farbklänge" mit Farb- und Notenabbildungen (von Xenakis«
famosen "Metastasis", von Kurtàg oder Spahlinger). Und
all dies in einer edlen 5 kg mächtigen Schuberedition, die ihre
Investition mehr als wert ist: Ein dokumentarischer Meilenstein
und ein Geniestreich.
Karl Bruckmaier
Soundcheck.
Die 101 wichtigsten Platten der Popgeschichte.
[Verlag
C.H. Beck, 172 Seiten, 17.90 DM]
[mz] Nein, das
sind natürlich nicht die 101 definitiven Platten der Popgeschichte.
So etwas gibt es nicht, kann es nicht geben. Das weiß auch Karl
Bruckmaier [Jahrgang `56], "DJ, Autor und
Regisseur des Bayerischen Rundfunks" wie es im Klapptext heißt,
vor allem aber bekannt für seine Aufsätze zum Popgeschehen in der
Süddeutschen Zeitung oder seine Radiobeiträge auf B2 ("Zündfunk").
Bruckmaier versteht sein kleines Büchlein "Soundcheck"
deswegen auch als ganz persînliche musikalische Reise durch seine
Plattensammlung. Ihm geht es nicht darum zum x-ten Mal "Sergent
Pepper`s..." in den Himmel zu loben, sondern eher darum die
etwas verquereren, mitunter auch vordergründig gescheiterten Platten
diverser Künstler in seine Liste der 101 wichtigsten (und nicht
besten) Platten zu integrieren. Platten also von "anfangs vielleicht
unhörbarer Grandeur" und nicht "makellose Kopfnickplatten.
Von den Beatles also "Let it be" und nicht obige "Sergeant
Pepper`s...", von Captain Beefheart "Clear spot"
und nicht "Trout Mask Replica", von John Cale "Music
for a new society" und nicht "Paris 1919" oder gar
das erste Album der Velvet Underground etc etc. Eine "ideale
Plattensammlung" also und zugleich eine unterhaltsame Reise
durch die Popgeschichte von A wie American Music Club bis Z wie
Zappa, von Blues und Country bis Drum & Bass. Sicherlich ist
man an der ein oder anderen Stelle anderer Meinung, hält es zweifellos
nicht für nötig gleich vier (!) Alben der Rolling Stones in diese
Liste einzureihen, geschweige denn "Piledriver" von Status
Quo. Nichtsdestotrotz sind es vor allem die Anekdoten, Feinheiten
eines Kenners die dieses Buch kurzweilig und unterhaltsam zugleich
werden lassen, Lust machen auf die Suche zu gehen nach dem Countryalbum
der Byrds ("Sweetheart of the Rodeo") bzw. in die Archive
der eigenen Sammlung. Wie lange hat man eigentlich schon "Fire
of Love", das Debütalbum der amerikanischen Gun Club nicht
mehr gehört, wie lange "Loaded" von Velvet Underground
oder "Nothing can stop us" von Robert Wyatt.
Ein Index, Bezugsadressen
sowie die Top-100 der deutschen Rolling Stone-Readaktion und die
"perfekte Plattenliste" von Daisys Sammlung runden das
Ganze ab. |