Nr. 10 / Mai 1999

















Gästebuch


Neue Comics

Krass!

Endlich finden die Irren und Wirren Buddy Bradleys ihre Fortsetzung: Was vor einigen Jahren unter dem Titel "Leck Mich" begann, wird nun als "Krass" weitergeführt: Buddy Bradley, ein pickelbesäter, Karohemden tragender Mittzwanziger mit negativer Attitüde hat mit seiner verrückten Freundin Lisa das hippe Seattle verlassen und ist in die öden Vorstädte New Jerseys zurückgekehrt, wo sein Vater im Spital vegetiert, die Mutter im Alkohol verbittert und die Schwester unglückliche Mutter unausstehlicher Blagen wurde. Und seine alten Kumpels erst! – Ausgerechnet hier will Buddy Lebenspläne schmieden.

Peter Bagge ist der Mann des zynischen Humors, der seine Figuren, zumeist Verlierer, Schlampen und andere Gescheiterte, wie hyperhysterische Gummipuppen überzeichnet an den Rand des Abgrunds hetzt. In der erschreckenden Leere des Vorortsspiessertums wirbeln Buddy und Lisa im Kreis herum und wachsen uns trotz allem ans Herz. Schliesslich ist Peter Bagge dank seiner Meisterschaft im Schildern von Alltagssituationen und irrwitzigen, aber lebensgrossen Dialogen der beste Chronist einer nicht erwachsen werden wollenden Generation.

Peter Bagge: "Krass"
(32 Seiten, schwarzweiss, Jochen Enterprises; DM 5.90)

Priester oder Polizist?

In Priesterkleidung betritt David Solomon, kurz: Soda, jeden Morgen den Aufzug – 23 Stockwerke weiter unten verlässt er ihn in Polizeiuniform. Seine herzkranke Mutter würde, glaubt der Leutnant des New Yorker Police Department, die Wahrheit nicht überleben. Dafür kümmert er sich um sie und bringt sie am Anfang von "Beichte schnell" für ein paar Gesundheits-Checks ins Spital. Während eines EKG raucht Soda draussen eine Zigarette, wird Zeuge eines Verkehrsunfalls, dessen Opfer, eine schwarze Frau, ihm was zuflüstert – und es beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit: Soda rast durch das vom Marathon blockierte New York, schlittert in ein Mordkomplott gegen den Bürgermeister, kümmert sich zwischen den Tests um seine Mutter und ihre Katze, wird vom FBI verfolgt u.v.m. – und schafft es, nach getaner Pflicht rechtzeitig im Spital einzutrudeln, um seine nichtsahnende Mama abzuholen. "Soda" von Gazzotti und Tome ist wie ein TV-Krimi – nur schneller und witziger. Und weil der Arzt Soda warnt, seine Mutter nicht zu stressen, wird er auch in Zukunft abends sein Wohnhaus als Cop betreten und den Aufzug 23 Stockwerke weiter oben als Priester verlassen.

Gazzotti/Tome: "Soda 6: Beichte Schnell"
(Salleck Productions, DM 19.80)

Nichts geht über die Retrozukunft:

Nichts ist besser als böse Nazis, zwei geheimnisvolle Diebe aus der Zukunft, die die Pläne einer Zeitmaschine klauen, und deren Verfolgung ins 31. Jahrhundert. Zurück in die Zukunft sozusagen: Der blonde Draufgänger Campbell und die kluge Tess Wood landen in einer Welt, in der eine reiche Minderheit (dekadent wie Hi-Tech-Römer) das Volk (in einem futuristischen Souk darbend) ausbeutet und mit blutigen Zirkusspielen unterhält.

Für ihre Zeitreisenoper "Vortex" bedienen sich die beiden Franzosen Stan und Vince der retrofuturistischen Visionen alter amerikanischer Comics und jagen Campbell und Wood genüsslich durch sämtliche Klischees – bis hin zu den exquisit-exotischen Bikinis, die die brünette Tess immer wieder zur Schau stellt. Das gehört sich so in der Retro-Zukunft trashiger Comics. Der Witz an "Vortex": Vince zeichnet die Abenteuer aus der Perspektive der langbeinigen Tess, während Stan dem strammen Campbell folgt.

Stan: "Vortex. Campbell, Gefangener der Zukunft".
Vince: "Vortex. Tess Wood, Gefangene der Zukunft"
(beide: Alpha Comics Verlag, je DM 19.80)

Fliegenjungs und Fliegenmädchen

Auf den ersten Seiten schlüpft sie aus ihrem Ei, auf den letzten erobert sie Hand in Hand mit ihrer Freundin die grosse weite Welt – und auf den hundert kleinformatigen Schwarzweiss-Seiten dazwischen erkundet sie die wunderbare Welt einer glücklicherweise nicht allzu sauberen Küche: "Die Fliege". Lewis Trondheim, ein Autodidakt, der vor zehn Jahren kaum Knollennasen zeichnen konnte, als Gründungsmitglied des Verlags L’Association in der französischen Comic-Szene viel ausgelöst hat und nun mit wachsendem Erfolg mehrere Alben pro Jahr veröffentlicht (minimale Experimente! autobiographische Anekdoten! phantastische Strips! die Abenteuer von "Herrn Hase", dem Comic-Helden für die ganze Familie!), dieser Lewis Trondheim schildert hier die Lehr- und Wanderstunden einer Stubenfliege: überall lauern Gefahren (Monster! Menschen!), sie verliebt sich in ein Fliegenmädchen, sie nascht und nippt, sie bleibt im Staub stecken, sie ist neugierig, leichtsinnig, übermütig, bisweilen feige und manchmal schlicht albern (wenn sie vor ihrem Spiegelbild auf der Weinflasche blöde Grimassen schneidet), und ihr wird übel, als sie die geschleuderte Wüsche in der Maschine betrachtet. Kurz: Dieses Erkunden einer alltäglichen Umgebung aus der Sicht einer Fliege ist hinreissend! köstlich! witzig! niedlich! unwiderstehlich! und es überrascht nicht, dass Trondheims Fliege schon bald zum Trickfilmstar wird (demnächst im Vorabendprogramm Eures öffentlich-rechtlichen Senders).

Lewis Trondheim: "Die Fliege"
(112 Seiten, Reprodukt Verlag DM 19.90)

Letzte Änderungen: 28.12.2001
Produziert von
Peter Pötsch