Nr. 10 / Mai 1999

















Gästebuch


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Ars Acustica: riverrun

[Schott-Wergo]

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Neue Vocalsolisten Stuttgart: Diverse

[col legno Musikproduktion]

[fs] Am Anfang , vor jeder Formung war das Geräusch. So müßte die Genesis der "Ars Acustica" beginnen, und sie setzt wirklich mit der Befreiung des Klangs aus seiner harmonischen Syntax ein, mit Luigi Russolo und seinen systematischen 6 Geräuschfamilien ("Die Geräuschkunst", 1913) und seinen Intonorumori, diesen geräuscherzeugenden Maschinen, die ihren autonomen Stellenwert innerhalb der Orchestrierung einforderten. Nicht nur Maschinellerzeugtes, auch die Intonationen der Mundhöhle strebten wie auch bei Artauds "Theater der Grausamkeit" nach Geltung: Eine stimmlich atmende Gebärdensprache kombinierter Kontraktions- und Entspannungszustände vor jeder Äußerung, Fragmente des Sprachlich-sinnlichen. Eine weitere Spur: die neo-semantische "phonetische Poesie" Jandls ("Spaltungen" der Stimme), die den Ausdrucksgehalt in die Gestaltung der Syntax verlagert, an eine Sprache erinnert, deren Geheimnis die Sprache verloren hat. "Voicings" (CD1) und "soundscapes" (CD2) erinnern an die Grenzen der semantischen Artikulation, operieren in einem Grenzbezirk, der unbestimmte Laut- und Milieuklänge zu unzähligen Synthesen montiert: Henri Chopins poésie sonore (Mundhöhle als Klangfabrik), Bermanges Artikulation im leeren Raum ("SOS"), Kagels Reflexionen auf Orwell oder "Nah und Fern", ein Radiostück für Glocken und Trompeten mit Hintergrund (Utrecht), Pierre Henrys Ruttmann-Homage "La ville" (Paris) oder Pauline Oliveros´ Indienerinnerungen "Humayun´s Tomb" unter dem übergreifenden Motto: Versuche nicht den Klang zu ändern, laß den Klang sich selbst ändern. Das Geheimnis aber lichtet sich spätestens mit den Neuen Stuttgarter Vocalsolisten mit Werken von Scelsi, Neuwirth, Dohmen, Xenakis oder Schnebel, eine stimmliche Alchimie im Grenzbezirk ihrer Autonomie. Die Stimme dient in ihrer Reinheit hier ebensowenig als semantische Begleitfunktion, eher als Gestalterin des eigenen Milieus, und somit ergänzen die drei CDs (auf zwei Editionen verteilt) die Entdeckungsreise ins Reich stimmlich-artikulierter Forschung trefflichst.

Letzte Änderungen: 28.12.2001
Produziert von
Peter Pötsch