Nr. 10 / Mai 1999

















Gästebuch


Expect the Unexpected!

Die US-amerikanische Band Wilco

Von Anne Holzapfel

Die Gründungsgeschichte Wilcos sollte inzwischen bekannt sein. Nachdem Jeff Tweedy im Zuge der Veröffentlichung des zweiten Albums "Being There" endlose Fragen nach seinem Verhältnis zu Jay Farrar beantworten musste und auch die Presse zum neuen Werk "Summer Teeth" anscheinend nicht ohne erneute langatmige Berichterstattung über die musikalische Vor-Vergangenheit der Herren Tweedy, Coomer und Stirratt auskommt, ersparen wir uns hier diesen Umweg. Die Bandmitglieder sind eh nicht mehr gewillt darüber Auskunft zu geben. Wozu auch, denn "Summer Teeth" an sich bietet schon genügend Stoff.

War "Being There" noch eine Gratwanderung zwischen Gram Parsons, den Replacements, kleinen Pavement-esquen Schrägheiten plus country-lastiger Vibes nebst allgemeiner Wir-haben-Spass-Mentalität, so erwartet uns beim neuen Album eine schwindelerregende Dichte und die dunklere Seite des Pop. Expect the unexpected! Wilco haben sich – nicht nur durch den Wegfall der Steel- und Pedal-Gitarren – vom Schatten ihrer Vergangenheit gelöst.

Die dominierenden Pop-Eskapaden des Keyboarders Jay Bennett werden immer wieder unterlaufen durch Zitate von John Lennon über Neil Young bis Velvet Underground gepaart mit unzähligen kleinen Soundbits. Letztere setzen sich im Hintergrund zu einem facettenreichen Kaleidoskop zusammen. Brüche zwischen Stimme und Instrumenten, Gitarre und Samples, rückwärtslaufendem Tape, Feedbacks und nicht zuletzt den streckenweise provokativen Texten. Zeilen wie "Dreamed about killing you again last night/ And it felt all right to me/ Dying on the banks of Embarcadero skies/ I sat and watched you bleed." ("Via Chicago") irritieren zwar, bestimmen aber nicht vollends den Tenor. Vielmehr wandert "Summer Teeth" sehr poetisch zwischen dem Thema gespaltener Beziehungen, das sich für Tweedys Verhältnis zum Rock’n’Roll schon auf "Being There" fand.

"Auch wenn wir alle mit Nebenprojekten beschäftigt sind und waren," sagt Bassist John Stirratt, "war die Zusammenarbeit diesmal sehr viel intensiver. Gut dafür war auch, daß wir durch die Aufnahmen zu "Mermaid Avenue", die die Arbeit an "Summer Teeth" unterbrachen, Abstand gewinnen konnten." Es scheint, als ob die Band sich in der Zusammenarbeit mit Billy Bragg in Sachen Country austoben und dann konzentrierter an das neue Material herangehen konnte. Ken pflichtet dem bei: "Ja, wir konnten zudem auch neue Inspirationen mit reinnehmen." Wer hier noch Anklänge an alte Zeiten erwartet, der muß sich leider damit abfinden, daß Wilco wohl auch in Zukunft jegliche Grenzen der Erwartung sprengen werden.

Alles in allem ist über Wilco zu schreiben wahrscheinlich genauso absurd, wie Schaltpläne zu tanzen oder Gedichtinterpretationen zu häkeln. Soll heissen, daß man sie hören oder live erleben muß. Dennoch zeigen sich bei der Live-Umsetzung von "Summer Teeth" auch Tücken. Die Dichte der Songs und die Betonung von Samples und Loops etc. erfordert eigentlich mehr als die fünf Musiker, die sich Ende März im Hamburger Grünspan die Ehre gaben.

Genügte auf der "Being-There"-Tour noch ein verschmitztes Grinsen seitens Jeff Tweedys in Richtung Band, um plötzliche Kurswechsel von Countryrock zu Polkaversionen jeglicher Stücke zu verursachen oder Songs durch ausgelassene Improvisationen ins Unendliche auszudehnen, so konnte man an diesem Abend erkennen, daß sich das Quintett bei den neuen Stücken nicht immer so ganz wohlfühlte. Allein die ständige Präsenz von Gitarren macht den Stoff des zweiten Albums flexibler für Improvisationen. John grauste gar vor der aktuellen Tour: "Ich hatte Horror davor, "Summer Teeth" live zu spielen. Wir haben zwar den Dreh raus, die Stücke umzusetzen, aber wir hängen dabei sehr stark von der Technik ab. Wenn die ausfällt, wird es hart werden." "Ein Abend mit Akustikversionen wäre keine gute Idee," meint Drummer Ken. "Aber," fügt John erleichtert grinsend hinzu, "wir kšnnen dann immer noch Rocksongs spielen!" Für die Auftritte haben Wilco die wesentlichen Elemente des neuen Materials herausgearbeitet; es war jedoch nicht zu übersehen, daß sie bei Stücken wie "Red-Eyed and Blue", "I Got You" oder dem doch noch zur Polka mutierten "Outtasite (Outta Mind)" sichtlich mehr Spaß hatten. Bis zu den nächsten Shows in Deutschland Ende Juni und Anfang Juli werden Wilco wohl noch Gelegenheit haben sich reinzufransen.

Bleibt noch die Frage nach der Bedeutung des Titels "Summer Teeth". "Das ist ein Insider-Witz. Während der Being There-Tour mussten wir alle zum Zahnarzt. So entstand der Joke: ’I’ve got summer teeth. Some are teeth, some aren’t.’" Aha!

Letzte Änderungen: 28.12.2001
Produziert von
Peter Pötsch