Nr. 11 / Februar 2000

















Gästebuch


Die zweite Reise müssen wir schon selber machen Der Comic-Autor Edmond Baudoin

Der 57jährige Comic-Autor Edmond Baudoin reifte dank seiner persönlichen Geschichten vom ewigen Geheimtip zum Vorbild einer neuen Generation. LEESON unterhielt sich mit Edmond Baudoin über sein erstes auf Deutsch übersetztes Album »Die Reise«.

Von Christian Gasser

Simon ist Mitte dreißig, er ist verheiratet, wohnt mit seiner Frau, seinerTochter und einer Katze in einer hübschen Wohnung und ist beruflich durchaus erfolgreich. Und doch – an einem Sommertag hält er die Spannungen und die Enge von Paris und seinem Leben nicht mehr aus: Er sieht sich vonTotenschädeln umgeben, er bekommt Angstzustände, flüchtet zum Bahnhof und steigt in den nächstbesten Zug.

Diese Geschichte erzählte Edmond Baudoin 1987 zum ersten Mal unter demTitel »Le Premier Voyage«. Sie gefiel dem großen japanischen Manga-Verlag Kodansha so gut, dass sie den französischen Zeichner baten, sie nochmal aufzugreifen. »Für mich war die Geschichte zu Ende, als Simon wegfährt. Jeder von uns nimmt mal einen Zug und fährt davon, aber jeder fährt, wohin er will, und es war nicht meine Aufgabe, Simon zu sagen, wohin er gehen soll.« Die Redakteure von Kodansha, dem Manga-Giganten, der in den frühen neunziger Jahre zahlreiche europäische Zeichner für den japanischen Markt arbeiten ließ, schüttelten, wie Baudoin sich lächelnd erinnert, den Kopf. ›Wir in Japan können nicht verstehen, dass einer einen Zug nimmt, wenn wir nicht auch erfahren, wohin er fährt.‹ – ›Aber das weiß ich doch nicht‹, erwiderte ich. ›Dann müssen sie uns eben die Fortsetzung der Geschichte erzählen.‹«

Simon fährt also in den Süden, und es ist auf den ersten Seiten bereits deutlich, dass die geographische Reise auch eine innere ist: Baudoin schildert die Initiationsreise eines Manns in einer Lebenskrise. Weit weg von Routine und Stress entdeckt Simon die Kunst des Lebens und seine kleinen Freuden neu, er zieht mit einem Puppenspieler durch die Dörfer und verliebt sich in Lea.

»Die Reise« wurde im Magazin »Morning« abgedruckt, das wöchentlich in einer Auflage von einer Million erscheint, und im Gegensatz zu den Mangas vieler europäischer Zeichner, die in Japan floppten, hat Baudoins Roadcomic die Leserschaft offenbar beeindruckt. Kein Zufall, glaubt Baudoin. Kodansha hat mich sehr bewusst um diesen Stoff gebeten. Sie haben ja Statistiken über alles – selbst über die Zahl japanischer Kaderleute, die von einem Tag auf den anderen alles hinschmeißen und die man dann manchmal auf einer Insel wiederfindet, völlig verwildert. Das ist ein echtes Problem, und deshalb interessierte es sie, dass ich die Geschichte eines Mannes erzähle, der allem den Rücken kehrt.«

Mit dem Pinsel schreiben

»Die Reise« hat aber nicht nur eine gesellschaftliche Ebene, sondern erzählt, leicht verschlüsselt, auch Baudoins persönliche Erfahrungen.»Ich habe zwar nie eine Reise wie diese unternommen, aber die Geschichte ist trotzdem autobiographisch. Ich war Personalchef eines Unternehmens, 33jährig – so alt wie Simon ungefähr – und hatte zwei Kinder, als ich alles aufgab, um Comics zu zeichnen. Personalchef sein und Comics zeichnen sind zwei so unterschiedliche Sachen, dass der Bruch wie eine Reise in andere, intellektuelle Länder war.« Weil Baudoin als Erwachsener ohne große Comic-Bildung zur »Bande Dessinée«, wie man die Comics in Frankreich nennt, gestoßen ist, hatte er die innere Reife und die künstlerische Freiheit, seinen eigenen Stil abseits von Stereotypen und Klischees zu entwickeln. »Ich bin in die Welt der Comics eingedrungen, ohne ihre Gesetze zu kennen. Ich rollte wie eine Bowlingkugel ins Spiel und schmiss die Kegel um, ohne mir dessen bewusst zu sein. Meine eigene Schreibweise habe ich entwickelt, ohne zu wissen, dass es auch andere Formen und bestimmte Regeln gibt.«

Baudoin zeichnet seine Geschichten mit einem ebenso leichten wie ausdrucksstarken Pinselstrich, er schafft ohne Vorskizzen, damit seine Bilder möglichst lebendig und manchmal sogar skizzenhaft wirken. Empfindet er sich eher als Zeichner oder als Maler? »Vielleicht kann man es Malerei nennen. Aber Malerei im Sinn der Chinesen. Vielleicht ist es auch eine Art Schreiben. Mir kommt es vor, als würde ich mit dem Pinsel Buchstaben schreiben, die es nicht gibt.« Mit seinen Bildern entführt er uns nicht in phantastische Fluchtwelten, sondern erzählt leise Geschichten von Menschen, von ihren Liebschaften, Ängsten, Träumen und Erinnerungen.

Die Geschichte von Simon zum Beispiel, dessen Kopf Baudoin ohne Schädeldecke zeichnet, weit offen klaffend wie eine Wunde. Durch das Loch hinaus materialisieren sich, sichtbar für uns alle, seine Empfindungen und Gedanken – und gleichzeitig dringt durch die Öffnung die Außenwelt in Simon ein, manchmal inspirierend und befreiend, oft bedrohlich und bedrückend. »Es ist wichtig«, erklärt Baudoin seinen visuellen Zaubertrick, »dass Simon den Kopf offen hat und alles lebt und spürt, was um ihn herum passiert. Wäre er nicht so sensibel und offen, könnte er gar nicht weggehen!« Dieser geniale Einfall, den Baudoin auch zeichnerisch wunderbar umsetzt, verleiht Simons Reise »die poetische und metaphorische Dichte, die ihre Schwächen wettmacht – Baudoins Hang zum Bedeutungsschwangeren, zu unnatürlich tiefsinnigen Dialogen, die bisweilen arg ins Sentimentale und Kitschige abdriften

Ein hilfloses Stammeln

Dank seiner ungewöhnlichen Bildergeschichten ist der 57jährige Edmond Baudoin in den neunziger Jahren vom ewigen Geheimtip zum Vorbild für die neue Generation französischer Comic-Zeichner geworden. Seine intimen, autobiographischen und unkonventionellen Comics treffen den Nerv einer Zeit, in der sich junge Zeichnerinnen und Zeichner mehr und mehr vom Mainstream und seinen Serien ab- und eigenen, persönlichen Stoffen zuwenden. Er selber ist natürlich glücklich über die Entwicklung der Comics in den letzten Jahren. »Heute scheint in der Tat eine junge Generation in diese Richtung weiterzugehen, und das erschließt den Comics neue Räume. Während langer Zeit erzählten die Comics den Angriff auf die Postkutsche oder den Krieg der Sterne. Aber die Bande dessinée ist vielleicht die Ausdrucksform, die heute am besten dazu geeignet ist, sein Weltbild zu vermitteln, seine Freuden und Leiden zu schildern. Die Comics stehen wirklich noch am Anfang ihrer Möglichkeiten, und verglichen mit dem, was sie morgen werden erzählen können, ist das, was wir heute vollbringen, ein hilfloses Stammeln.« Baudoins braune Augen strahlen schwärmerisch, als er anfügt: »Es ist eine außergewöhnliche, wunderbare Ausdrucksform!«

Im Verlauf seiner über 200 Seiten langen Reise durch Frankreich kommt Simon sich selber immer näher und entfremdet sich seiner alten Welt, bis keine Rückkehr mehr möglich ist. An diesem Punkt bricht Baudoin die Schilderung der Reise ab. »Wir wissen alle, dass Simons Reise weitergeht. Aber die zweite Reise, die müssen wir schon selber machen, ohne uns um Simon zu kümmern.

Edmond Baudoin: Die Reise 228 Seiten, schwarz-weiss Edition Moderne

Letzte Änderungen: 28.12.2001
Produziert von
Peter Pötsch