Die zweite
Reise müssen wir schon selber machen Der Comic-Autor Edmond Baudoin
Der 57jährige
Comic-Autor Edmond Baudoin reifte dank seiner persönlichen Geschichten
vom ewigen Geheimtip zum Vorbild einer neuen Generation. LEESON
unterhielt sich mit Edmond Baudoin über sein erstes auf Deutsch
übersetztes Album »Die Reise«.
Von
Christian Gasser
Simon ist Mitte
dreißig, er ist verheiratet, wohnt mit seiner Frau, seinerTochter
und einer Katze in einer hübschen Wohnung und ist beruflich
durchaus erfolgreich. Und doch – an einem Sommertag hält
er die Spannungen und die Enge von Paris und seinem Leben nicht
mehr aus: Er sieht sich vonTotenschädeln umgeben, er bekommt
Angstzustände, flüchtet zum Bahnhof und steigt in den
nächstbesten Zug.
Diese Geschichte
erzählte Edmond Baudoin 1987 zum ersten Mal unter demTitel
»Le Premier Voyage«. Sie gefiel dem großen japanischen
Manga-Verlag Kodansha so gut, dass sie den französischen Zeichner
baten, sie nochmal aufzugreifen. »Für mich war die Geschichte
zu Ende, als Simon wegfährt. Jeder von uns nimmt mal einen
Zug und fährt davon, aber jeder fährt, wohin er will,
und es war nicht meine Aufgabe, Simon zu sagen, wohin er gehen soll.«
Die Redakteure von Kodansha, dem Manga-Giganten, der in den frühen
neunziger Jahre zahlreiche europäische Zeichner für den
japanischen Markt arbeiten ließ, schüttelten, wie Baudoin
sich lächelnd erinnert, den Kopf. ›Wir in Japan können
nicht verstehen, dass einer einen Zug nimmt, wenn wir nicht auch
erfahren, wohin er fährt.‹ – ›Aber das weiß
ich doch nicht‹, erwiderte ich. ›Dann müssen sie
uns eben die Fortsetzung der Geschichte erzählen.‹«
Simon fährt
also in den Süden, und es ist auf den ersten Seiten bereits
deutlich, dass die geographische Reise auch eine innere ist: Baudoin
schildert die Initiationsreise eines Manns in einer Lebenskrise.
Weit weg von Routine und Stress entdeckt Simon die Kunst des Lebens
und seine kleinen Freuden neu, er zieht mit einem Puppenspieler
durch die Dörfer und verliebt sich in Lea.

»Die Reise«
wurde im Magazin »Morning« abgedruckt, das wöchentlich
in einer Auflage von einer Million erscheint, und im Gegensatz zu
den Mangas vieler europäischer Zeichner, die in Japan floppten,
hat Baudoins Roadcomic die Leserschaft offenbar beeindruckt. Kein
Zufall, glaubt Baudoin. Kodansha hat mich sehr bewusst um diesen
Stoff gebeten. Sie haben ja Statistiken über alles – selbst
über die Zahl japanischer Kaderleute, die von einem Tag auf
den anderen alles hinschmeißen und die man dann manchmal auf
einer Insel wiederfindet, völlig verwildert. Das ist ein echtes
Problem, und deshalb interessierte es sie, dass ich die Geschichte
eines Mannes erzähle, der allem den Rücken kehrt.«
Mit dem Pinsel
schreiben
»Die
Reise« hat aber nicht nur eine gesellschaftliche Ebene, sondern
erzählt, leicht verschlüsselt, auch Baudoins persönliche
Erfahrungen.»Ich habe zwar nie eine Reise wie diese unternommen,
aber die Geschichte ist trotzdem autobiographisch. Ich war Personalchef
eines Unternehmens, 33jährig – so alt wie Simon ungefähr
– und hatte zwei Kinder, als ich alles aufgab, um Comics zu
zeichnen. Personalchef sein und Comics zeichnen sind zwei so unterschiedliche
Sachen, dass der Bruch wie eine Reise in andere, intellektuelle
Länder war.« Weil Baudoin als Erwachsener ohne große
Comic-Bildung zur »Bande Dessinée«, wie man die
Comics in Frankreich nennt, gestoßen ist, hatte er die innere
Reife und die künstlerische Freiheit, seinen eigenen Stil abseits
von Stereotypen und Klischees zu entwickeln. »Ich bin in die
Welt der Comics eingedrungen, ohne ihre Gesetze zu kennen. Ich rollte
wie eine Bowlingkugel ins Spiel und schmiss die Kegel um, ohne mir
dessen bewusst zu sein. Meine eigene Schreibweise habe ich entwickelt,
ohne zu wissen, dass es auch andere Formen und bestimmte Regeln
gibt.«
Baudoin zeichnet
seine Geschichten mit einem ebenso leichten wie ausdrucksstarken
Pinselstrich, er schafft ohne Vorskizzen, damit seine Bilder möglichst
lebendig und manchmal sogar skizzenhaft wirken. Empfindet er sich
eher als Zeichner oder als Maler? »Vielleicht kann man es
Malerei nennen. Aber Malerei im Sinn der Chinesen. Vielleicht ist
es auch eine Art Schreiben. Mir kommt es vor, als würde ich
mit dem Pinsel Buchstaben schreiben, die es nicht gibt.« Mit
seinen Bildern entführt er uns nicht in phantastische Fluchtwelten,
sondern erzählt leise Geschichten von Menschen, von ihren Liebschaften,
Ängsten, Träumen und Erinnerungen.
Die Geschichte
von Simon zum Beispiel, dessen Kopf Baudoin ohne Schädeldecke
zeichnet, weit offen klaffend wie eine Wunde. Durch das Loch hinaus
materialisieren sich, sichtbar für uns alle, seine Empfindungen
und Gedanken – und gleichzeitig dringt durch die Öffnung
die Außenwelt in Simon ein, manchmal inspirierend und befreiend,
oft bedrohlich und bedrückend. »Es ist wichtig«,
erklärt Baudoin seinen visuellen Zaubertrick, »dass Simon
den Kopf offen hat und alles lebt und spürt, was um ihn herum
passiert. Wäre er nicht so sensibel und offen, könnte
er gar nicht weggehen!« Dieser geniale Einfall, den Baudoin
auch zeichnerisch wunderbar umsetzt, verleiht Simons Reise »die
poetische und metaphorische Dichte, die ihre Schwächen wettmacht
– Baudoins Hang zum Bedeutungsschwangeren, zu unnatürlich
tiefsinnigen Dialogen, die bisweilen arg ins Sentimentale und Kitschige
abdriften
Ein hilfloses
Stammeln
Dank seiner
ungewöhnlichen Bildergeschichten ist der 57jährige Edmond
Baudoin in den neunziger Jahren vom ewigen Geheimtip zum Vorbild
für die neue Generation französischer Comic-Zeichner geworden.
Seine intimen, autobiographischen und unkonventionellen Comics treffen
den Nerv einer Zeit, in der sich junge Zeichnerinnen und Zeichner
mehr und mehr vom Mainstream und seinen Serien ab- und eigenen,
persönlichen Stoffen zuwenden. Er selber ist natürlich
glücklich über die Entwicklung der Comics in den letzten
Jahren. »Heute scheint in der Tat eine junge Generation in
diese Richtung weiterzugehen, und das erschließt den Comics
neue Räume. Während langer Zeit erzählten die Comics
den Angriff auf die Postkutsche oder den Krieg der Sterne. Aber
die Bande dessinée ist vielleicht die Ausdrucksform, die
heute am besten dazu geeignet ist, sein Weltbild zu vermitteln,
seine Freuden und Leiden zu schildern. Die Comics stehen wirklich
noch am Anfang ihrer Möglichkeiten, und verglichen mit dem,
was sie morgen werden erzählen können, ist das, was wir
heute vollbringen, ein hilfloses Stammeln.« Baudoins braune
Augen strahlen schwärmerisch, als er anfügt: »Es
ist eine außergewöhnliche, wunderbare Ausdrucksform!«
Im Verlauf
seiner über 200 Seiten langen Reise durch Frankreich kommt
Simon sich selber immer näher und entfremdet sich seiner alten
Welt, bis keine Rückkehr mehr möglich ist. An diesem Punkt
bricht Baudoin die Schilderung der Reise ab. »Wir wissen alle,
dass Simons Reise weitergeht. Aber die zweite Reise, die müssen
wir schon selber machen, ohne uns um Simon zu kümmern.
Edmond Baudoin:
Die Reise 228 Seiten, schwarz-weiss Edition Moderne |