Nr. 12 / Juli 2000

















Gästebuch


KURZTIPPS

[tb] "And Then The Rain" und "Hollywood Holiday" - zwei grandiose Rocksongs der Achtziger Jahre von den leider immer etwas unterschätzten True West, die gemeinsam mit Dream Syndicate oder der Rain Parade mit zum Paisley-Underground Kaliforniens gehört haben. Russ Tolman war einst Gitarrist der legendären Band. Seit 1986 kennen wir ihn auch solo. "New Quadrophonic Highway" [Blue Rose/Zomba] ist das jüngste Soloalbum von Tolman, das zwischen Velvetdeskem Rock und einer Prise Country und Folk vierzehn schöne Songs bringt.

[tb] Volume Vier der Label-Reihe "Internationale Deejay Gigolos" [IDG/EfA] ist gleich eine Doppel-CD geworden. Wie immer hat Label-Chef DJ Hell die Compilation zusammengestellt, wobei es diesesmal neben einem Best-Of aus den Maxiveröffentlichungen von International Deejay Gigolos auch unervöffentlichtes Material zu hören gibt. Elektro, Eighties-Techno und House galore mit Gigolo-acts wie Station Rose, Hell, Dopplereffekt, Trike, Miss Kittin & The Hacker. Auch der alte Indie-Disco-Heuler "No Tears" der einst in Brüssel ansässigen kalifornischen Avantgardeband Tuxedomoon erstrahlt in neuem Glanz; wobei das Original mehr oder weniger so belassen worden ist.

[mh]Ein riesiger Roboter-Cyclop wird die Welt vernichten. Australien hat er schon hinter sich, jetzt steht er in Downtown Tokyo und wird von den Beastie Boys in seltsamen Anzügen in Schach gehalten. Klar, die Beastie Boys haben das coole Wissen, kriegen das hin und bezwingen ihn mit ihrem intergalaktischen Sound. Doch weit gefehlt. Als die Beastie Boys schon lange wieder über dem großen Wasser mit ihren Familien beim Barbecue hocken, kommt der große Bruder des Roboter-Cyclopen aus seinem Versteck, zerstört mal eben Tokyo und Osaka und macht sich anschließend auf den Weg nach Europa. Wäre da nicht Mixmaster Mike, der vierte Beastie Boy, zur Stelle gewesen, ich hätte diese Zeilen niemals verfassen und ihr sie nicht lesen können. Jedenfalls hat Mike, der Octopus-Mann mit acht Armen, nicht länger als zwanzig Minuten für diese Aktion gebraucht. Subsonische Bässe, Lichtgeschwindigkeitsscratches, Geräusche, die eigentlich nicht existieren dürften, übermenschliche Juggles, Transformers und jamaikanische Riesen-Echo-Scratches haben den Roboter-Cyclopen bezwungen. Den Soundtrack, "Eye Of The Cyclops" gibt’s jetzt bei Asphodel Records.

[tb] Wer die liner-notes bei Platten/CDs aufmerksam liest, dem wird beim wunderschönen Air-Album "Moon Safari" der Name Beth Hirsch aufgefallen sein. Die in Paris lebende amerikanische Songwriterin sorgte damals als Co-Autorin und Mitsängerin für bewegende Momente ("All I Need" und "You Make It Easy"). Nun ist sie mit ihrem ersten eigenen Album, "Early Days" [K7] zu hören. Schöne, elegische Folkkompositionen, akustisch sehr dramatisch, an Joni Mitchell geschult, mit feiner Stimme gesungen. Eher untypisch für das Elektro-Labl K 7.

[mz] Direkt in die psychedelischen 60er schickt einen der Norweger Oyvind Holm mit seiner Band Dipsomaniacs. Als Ein-Mann-Projekt 1992 gegründet, hat sich das Projekt mittlerweile zur Band gemausert, ohne dabei die Lo-Fi-4-Track-Kassettenrekorder-Vergangenheit von Holm ganz außer Acht zu lassen. "Braid of knees" [Stickman Records/Indigo], das dritte Album von Holm nun, zeichnet sich zwar klanglich durch eine etwas gehobenere Produktion aus, versprüht aber immer noch den Charme der frühen Homerecording-Sessions.

Mitunter erinnern die psychedelischen Klangewitter der Dipsomaniacs an die wunderbare amerikanische Psychedelic-Band Olivia Tremor Control. Ganz ähnlich wie diese verknüpfen die Dipsomaniacs Beatles-Harmonik mit allerlei obskuren Soundeffekten, Mellotron, Theremin, Tablas und Loops. Kalkulierte Song-Strukturen treffen da auf inszenierte Freakout-Sessions. "Sum Genius" wartet mit Sax-Attacken auf, "Ugly side" und "More obscure" geben sich als straighte Popsongs, "Hallelujah Feedback" kommt psychedelisch verklärt wie unter Wasser aus fernen Klanggegenden zu uns.

[tb] Schon seltsam, warum es eine wunderbare Popband wie Saint Etienne hierzulande nie richtig nach oben geschafft hat? Nach dem Popwerk "Good Humor" von 1998 zeigt "Sound Of Water" [Mantra/Connected] Sängerin Sarah Cracknell und ihre Jungs sowohl von der experimentelleren Seite als auch richtig poppig: "Heart Failed (In The Back Seat Of A Taxi)" und das sinfonische "How We Used To Live" sind poppy, arty und sophisticated zugleich. Eigentlich hitverdächtig.

[tb] Die kalifornischen Fusselbärte von Grandaddy überraschen auf dem neuen Werk "The Sophtware Slump" [V2/Tomba] mit einem üppigen neunminütigen Einstieg zwischen verschmielter Pink-Floydesker Psychedelic und Lo-Fi-Pop, ehe man mit "Hewlett`s Daughter" Pavement-artig losrockt. Verspielt und durchgeknallt geht das Album weiter, das eigentlich noch besser als der Erstling gelungen ist

[mz] Ganz hervorragend war "The Fidelity Wars", das letzte Album von Darren Hayman und seinen Hefner. Album drei ist bereits komplett geschrieben und erscheint vermutlich im Herbst. Bis es soweit ist, kann man sich mit der Compilation "Boxing Hefner" [Zomba] Freude ins Haus respektive den CD-Player holen. "Boxing Hefner" vereint rare Singles, BBC-Sessions und diverse Live-Favourites. Groß ist gleich der Anfang: Single Nummer Eins ("Christian Girls") klingt verdächtig nach Jonathan Richmans Modern Lovers, von dem Hefner auf diesem Album übrigens auch "To hide a little thought" covern. Hinzu kommen die unveröffentlichten Songs "The Science Fiction" sowie "Twisting Mary´s Arm", das Stück das beinahe jeden Auftritt von Hefner in den letzten Jahren beendete, und das hier zum ersten Mal auf CD erscheint.

[tb] Angeblich haben die texanischen The Baptist Generals ihr Album "Dog" in der Küche aufgenommen. So ähnlich klingen diese lo-fi-Heimaufnahmen auch, wobei dem seltsamen Trio eine interessante Platte mit schrägem Country-Folk-Rock gelungen ist. Skurrile Heimarbeiten mit hohem Unterhaltungswert.

[tb] "Melody Of Certain Damaged Lemons" [Touch & Go/EfA] ist schon das fünfte Album dieser wunderbaren Indie-Rockband aus New York City. Anfang der Neunziger Jahre vom italienischstämmigen Zwillingsbrüder-Paar Amedeo und Simone Pace mit der Japanerin Kazu Makino gegründet, hatte bei den ersten beiden Platten Steve Shelly von Sonic Youth noch seine Finger in der Produktion. Orientierten sich Blonde Redhead damals noch stark an eben jenen legendären Indie-Heroen, so haben sie sich inzwischen als eigenständige Grösse etabliert. Ihre Songs liegen zwischen schrägem Lo-Fi-Pop und lärmigen Ausbrüchen, wobei den Dreien hier einige grossartige Stücke gelingen. So kommt das von Kazu Makino gesungene"This Is Not" als federleichter Indie-Pop daher, während andere Stücke, auf denen Amedeo Pace singt, rockiger klingen. Wo "Hated Because Of Great Qualities" verträumt daherkommt, ist "A Cure" sehr melancholisch. Richtiggehend anrührend ist "For The Damaged", bei dem Kazu mit ihrer charmanten brüchigen Stimme zum Klavier und dezenter Gitarre singt. Bislang sind die drei New Yorker hierzulande noch unbeschriebene Blätter: das sollte diese tolle Platte ändern!

[tb] Voller durchaus witziger Soundeinfälle steckt "Some Best Friend You Turned Out To Be" [Domino/Zomba] des britischen Electronic-Tüftlers Ben Jacobs alias Max Tundra, bei dem repetitive Bassfiguren auf Blockflöten treffen, Kinderzimmer-Pop mit Handystörgeräuschen kommuniziert. Seltsam-schöne Platte.

[mh] Langsam fängt es an, unübersichtlich zu werden. Will man sich auch noch um andere Dinge, als den aktuellen deutschen HipHop-Output kümmern, muss man schon Kompromisse eingehen. Da fällt auch mal was unter den Tisch, was vor zwei Jahren noch draufgelegen hätte. Stereoton etwa. Die Beats gehen klar, schielen eher Richtung schmooves New York und gehen beim ersten Hören klar. Auch der MC auf "Breaker One, Two" [Sonar Kolletkiv/Groove Attack] kann was, allerdings muss man sich heute mit Samy, Eißfeldt, Dende oder Max messen, was die eigenen Fähigkeiten schnell mal relativiert. Verstehen sie mich bitte nicht falsch, liebe Leser, Stereoton sind besser als vieles, was gerade so im HipHop-Orbit rumschwirrt, aber Standards setzen dieser Tage andere. Man muss sich heute als junger HipHop-Künstler wohl entscheiden, ob man sich damit begnügt, nur einen kleinen Schritt hinter dem state of the art herzuhinken, um so auf Nummer sicher zu gehen. Oder ob man Neues versucht und dadurch Gefahr läuft, auf die Schnauze zu fallen, wenn man ausschert um zu überholen. Höre ich mich eigentlich gerade an, wie mein eigener Großvater?

[tb] Überraschendes Comeback: Von Rowland S. Howard, dem legendären Aussie, der einst bei Boys Next Doors (mit dem blutjungen Nick Cave) die Saiten quälte, zuletzt mit dem Projekt Thes Immortal Souls unterwegs war, habe ich Jahre nix mehr gehört. "Teenage Snuff Film" [Cooking Vinyl/Indigo] ist sein erstes Album unter dem eigenen Namen. Schleppender Cityblues, wie man ihn auch von den alten Crime & The City Solution (mit Howard) kannte. Nicht unbedingt this year`s model, aber gute CD.

[tb] Den Vorschusslorbeeren wird die siebenköpfige finnische Band Giant Robot auf ihrem Debüt "Crushing You With Style" [Clearspot/EfA] leider nicht gerecht. Naja, das groovt ja ganz nett, in besseren Momenten erinnert der Sound an die Beastie Boys oder an eine bekiffte finnische Kapelle, die in Jamaika Urlaub macht. Allzuoft freilich klingt`s leider nach schnödem Funkrock und das ist dann ein wenig öde. Leider nix mit finnischer Finesse à la 22-Pistepirkko, Opel Bastards oder Larry & The Lefthanded.

[tb] Western Electric heisst das jüngste Projekt des ehemaligen Sängers der fantastischen Long Ryders, die freilich leider nur die älteren unter den Lesern kennen dürften: In den 80s war das eine der sensationellen Südwest-Rockbands, die - das "y" im Namen deutet es an - auf den Spuren der Byrds wandelten. Mit "Western Electric" [Glitterhouse/EfA] verbindet Griffin Tradition mit der Moderne. So stehen dem gelegentlich massiven Einsatz von Pedal-Steel-Gitarren einige moderne Rhythmen gegenüber, groovt der byrdeske Cow-Pop ganz schön. Ein Zuckerl: Als Gastsänger ist der von mir sehr verehrte Robyn Hitchcock mit von der Partie. Wer Wilco und Hazeldine liebt, sollte auch bei Western Electric zugreifen. Unbedingt!

[mh] Beyond Real, das Label von DJ Spinna, macht seinem Namen alle Ehre. Für alle Sesselfurzer, Glatzenpolierer und Couchnichtverlassenkönner bringt man auf "Grass Roots - Lyrical Fluctuation" [Beyond Real/groove attack] alle Maxis und Compilationbeiträge der fabulösen Jigmastas, für die man, um sie zu Gehör zu kriegen, schon das Haus hätte verlassen müssen. Die Jigmastas sind DJ Spinna und Kriminul und rocken von Brooklyn bis "Across the Globe". Diese Zusammenstellung ist wunderbar, noch wunderbarer ist aber "Lyrical Fluctuation 2000", ein Track, der in seiner Wunderbarkeit (gibt’s das als Wort?) den Kauf schon rechtferigt. In der Originalversion nur auf der Beyond-Real-Compilation zu finden, holt man sich für den Remix folgende Meister ins Boot: Pharaohe Monch, Talib Kweli, Mr. Complex, Shabaam Sahdeeq und weil’s noch nicht reicht, auch noch Mos Def. Also, schmeisst das Heft in die Ecke und rennt zum Plattenhändler eures Vertrauens. Wer das hier noch liest, hat schon verloren.

[tb] Der Mutter aller Postrock-Bands, den formidablen Slint, entspringt Gitarrist Brian McMahan. The For Carnation heisst sein jüngstes Projekt, dessen gleichnamiges Album [Domino/Zomba] grossartien Ambient-Rock zelebriert. Mit dabei ist u.a. John McEntire von Tortoise, dessen klare Produktion diesem Ambient-Rock den Feinschliff gegeben hat. .

[tb] In die immer länger werdende Schlange seltsamer schottischer Bands/Projekte -von Belle & Sebastian bis Arab Strap, Mogwai bis Delgados - reiht sich das Duo Electric Music ein. Auf dem Debüt "North London Spiritualist Church" [Grand Royal/Zomba] entwerfen Anth Brown und Tom Doyle 12 Songs zwischen melancholischem Lo-Fi-Folk-Pop, Syd Barrett beeinflusster Kleinküchen-Psychedelic und Spielzeug-sounds gestütztem Kinderzimmerpop. Da passt dann auch, dass Reggae-Voice Bim Sherman bei einem Stück mitsingt. Schliesslich hat der Reggae-Master den Beiden drei Monate lang sein Mischpult geliehen. Hübsches Album.

[tb] Erstmals positiv aufgefallen ist mir der Songwriter Chris Burroughs 1990 mit seiner wunderbaren Debütplatte "West Of Texas", damals noch auf dem formidablen Pariser Label New Rose erschienen. Nach einem weiteren Album hatte ich den aus Arizona kommenden Musiker aus den Augen verloren, ehe mir vor zwei Jahren da Album "Liberty", nun beim deutschen Label Blue Rose erschienen, in den Schoss gefallen ist. Verglichen mit den beiden Frühwerken hat Burroughs auf seinen neuen Platten meiner Meinung nach ein wenig an Intensität verloren. Geblieben sind dennoch auch auf "Loose" [Blue Rose/Zomba] packende Rocksongs mit US-Südwest-Touch.

[tb] Mit seinem letzten Album "Silur" hat das Berliner Duo Tarwater vor allem im Ausland, ob nun in Frankreich, England oder den USA für erhebliches Aufsehen gesorgt. Den wunderschönen, angenehm ins Ohr gehenden elektronischen Pop von "Silur" haben Bernd Jestram und Robert Lippok - letzterer dürfte auch als ein Drittel des exzellenten Trios To Rococo Rot bekannt sein - auch auf das aktuelle Werk "Animals, Suns & Atoms" [Kitty-Yo/EfA] herübergerettet. Nach einem gespenstischen Intro mit elektronischer Stimme, eröffnen Tarwater das Album mit dem Ohrwurm-Titel "All The Ants Left Paris", dem sich das mysteriöse "Noon" anschliesst, auf dem Ronald Lippoks weicher Gesang von einer verführerischen Frauenstimme begleitet wird. Auch der weitere Verlauf dieses feinen Werkes begeistert. Ob sich Tarwater nun ganz dem Instrumental ergeben ("Song Of The Moth") oder mit dem Cow-Synthie-Pop von "At Low Frequency" an die alten Wall Of Voodoo erinnern, während "Seven Ways To Fake A Perfect Skin" auf andere Art und Weise Achtziger-Jahre-Luft atmet.

[tb] Ich bereue es noch heute, dass ich letztes Jahr die Münchner Show der Residents den am selben abend in der Stadt auftretenden Built To Spill vorgezogen habe. Wo die von mir einst so geschätzten Residents doch ein solch erbärmlich langweiliges Konzert geboten haben! Dass ich die formidablen Built To Spill verpasst habe, schmerzt umso mehr, beim hören des feinen Livealbums [City Slang/Virgin]. Aufgenommen in verschiedenen US-Städten ihrer letzten Tour lässt das Album keine Wünsche offen. Neben eigenen Krachern wie "The Plan" oder "Virginia Reel Around The Fountain" gibt`s auch eine zwanzigminütige Orgie des Neil-Young-Klassikers "Cortez The Killer".

[mh] Lenny Hunger ist ein netter Typ und ziemlich fotogen. Das Cover zu seiner EP "Hunger" [Groove attack/gap]’ zeigt ihn, mit dicht am Kopf nach hinten geflochtenen Haaren und einem Blick, der jetzt schon die nächste Generation Flygirls verführt hat. Er kommt mit der Unterstützung von DCS (Schivv, Peerbee, Lifeforce) und dem ehemaligen House-Wunderkind ARJ Snoek, hier mit seinem HipHop-alter ego DJ Chestnut. Vier Tracks, die sich ziemlich weit aus dem Fenster lehnen, dick auftragen und mit den ‚Kaspageschichten’ der Kollegen aufräumen wollen. Klappt allerdings nur bedingt. Es reicht nicht, nur davon zu reden, dass man den Kram anders machen will, als die anderen. Den Scheiß muss man dann auch wirklich durchziehen, erst dann wird ´n Schuh draus. Aber Lenny kriegt das früher oder später hin, da bin ich mir sicher.

[tb] Das Berliner Label City Slang wird dieses Jahr zehn Jahre alt! Unsere Glückwünsche in Form einer längeren Labelgeschichte findet der geneigte Leser etwas weiter vorne. Anlässlich des Jubiläums gibt`s aber auch den Sampler "Grand Slang" [City Slang/Virgin], auf dem ehemalige CS-acts wie Yo La Tengo und Tortoise ebenso vertreten sind wie Calecxico, Lambchop, Wheat oder das jüngste Signing Larmousse. Wobei es hier neben unveröffentlichtem Material auch einige rare B-Seiten zu hören gibt.

[tb] Rückkehr alter Bekannter, Teil 1: Mit den Carnival Of Souls hatte ich eigentlich schon nicht mehr gerechnet, umso erfreulicher ist das Auftauchen des neuen Albums "Ritorno a casa" [Kamikaze Records/Indigo]. Erinnern wir uns: Anfang der Neunziger, als noch niemand vom Postrock oder von neuerlichen Instrumental-Versuchen sprach, waren Achim Weigel und seine Band die interessantesten Instrumentalrocker diesseits des grossen Teiches. Auf dem neuen Album entführen die neuformierte Gruppe in ihr Universum zwischen Surf-Sounds und Soundtrack-Musik, Instrumentalrock und - country, Easy Listening und Heavy Listening. Mit diversen Gitarren, Dobro, Theremin und einem "Kopfgeld-Bass" (was immer das sein mag) entwirft das Quintett seine Sounds.

[tb] Rückehr alter Helden, Teil 2: Auch mit Grant Hart, dem ehemaligen Drummer und Co-Schreiber der legendären Hüsker Dü hat keiner mehr gerechnet. Nach dem Split 1987, schufen sowohl Bob Mould (solo und mit Sugar) als auch Grant Hart (solo und mit Nova Mob) ihre eigenen Werke, post-Hüsker-Dü, aber immer noch besser als vieles anderes in Sachen Alternative-Rock. Zwischen Harts Solodeübt "Intolerance" (1989) und seinem letzten Streich "Ecce Homo" (96) sind einige feine Platten und Songs erschienen. Nach vierjähriger Pause ist "Good News For Modern Man" [World Service/Zomba] Grant Harts neues Werk, das klingt, als sei der Mann aus Minneapolis zu keiner Zeit weg vom Musikbusiness gewesen. Wie schon auf "Intolerance" hat Hart auch hier alle Instrumente selbst gespielt und elf klasse Tracks geschreiben. Zumindest die ersten paar Songs bestechen durch catchy Sixties-Melodien, feine Gitarrenlinien und Harts Gesang. Gegen Ende der CD wird dann auch mal das (experimentelle) Rocktier losgelassen; für meine Begriffe nicht mehr so spannend - was den guten Gesamteindruck allerdings nicht trübt.

[tb] Hinter dem Pseudonym Midfield General verbirgt sich mit Damian Harris einer der einflussreichsten Menschen der englischen Breakbeat- und Dancefloorszene. Nach Erfolgen mit seinem Kumpel Norman Cook (der sich heute Fatboy Slim nennt) als Pizzaman gründet Harris Mitte der Neunziger Jahre das Label Skint, das schnell zur Speerspitze der Breakbeat- oder Big-Beat-Bewegung wird. Skint veröffentlicht Platten von Fatboy Slim, Bentley Rhythm Ace, den Lo Fidelity Allstars und vielen anderen. Nun macht Harris auch noch selber Musik. Als Midfield Generel erscheint mit "Generaliisation" [Skint/sony] seine albumlanges Debüt, auf dem sich der Meister zwischen HipHop und Breakbeat, House, Electro und modernem Soul austoben kann.

[tb] "The Limehouse Link" war vor zwei Jahren eine der angenehmen Überraschungen aus dem Hause Wiiija. Das englische Duo Mucho Macha legt mit "Death On Wild Onion Drive" [Wiiija/Connected] nun einen nach. Verwurzelt im Electro der Achtziger haben Tim Punter und Neil Dunford ihren Dance-Pop noch clubtauglicher gemacht. Wie schon auf dem Erstling ist auch hier zwishen frankophonem House und englischen Breakbeats, funky Sounds und Jazz-Pop, opulentem Lounge-Core und Streichergestützten Tracks (fast)alles möglich.

[tb] "You Can Always Get What You Want" [Thrill Jockey] wandelt den alten Rolling-Stones-Titel ab. Das Livealbum der Chicagoer Postrocker Trans Am ist ein Dokument, das aufgenommen bei dieversen Shows in den letzten sechs Jahren auch das Wachsen dieser ezellenten Band dokumentiert. Wobei Trans Am nicht zuletzt auch schon immer eine gute Liveband waren.

[tb] Daniel Johnston gehört sicherlich mit zu den ganz wenigen amerikanischen Songwritern, die echten Kultstatus haben und eigentlich viel berühmter sein müssten, als sie sind: Nennen wir noch den verstorbenen Townes van Zandt, Michael Hurley oder Jad Fair, den umtriebigen Kopf der Half Japanese. Ähnlich wie van Zandt ist auch Daniel Johnston ein Getriebener, ein manchmal kranker Mann zwischen Genie und Wahnsinn, der anrührendste Songs geschrieben hat. Im vergangenen Jahr hat Johnston in der Berliner Volksbühne ein wunderbares Konzerte gegeben, das die CD "Why Me?" [Trikont/Indigo] dokumentiert. Mal mit Gitarre, mal am Flügel spielt Daniel Johnston zwei Dutzend seiner Songs, die in den letzten zwanzig Jahren entstanden sind.

[tb] Irgendwo zwischen den sanften Folk-Kompositionen eines Nick Drake, der Psychedelic von Syd Barrett und den drogengeschwängerten kosmischen Sounds eines Julian Cope bewegt sich der in Berlin lebende US-Amerikaner Jeff Tarlton mit seinem zweiten Soloalbum "draginSpring" [Delerium Records/Cargo]. Anscheinend gibt es neben dem Debüt "Astral Years" auch noch eine EP, die Tarlton gemeinsam mit Musikern der Berliner Bands Mina und Contriva eingespielt hat.

[tb] Der inzwischen in München lebende Österreicher Hans Platzgumger (HP Zinker, Die Goldenen Zitronen) ist sicherlich einer der umtriebigsten Musiker. Nach diversen Rock-, Elektro- und Ambientprojekten fährt Platzgumer auf "Datacard" [Disko B/EfA] wieder einmal das harte, elektronische Brett. Zwischenn Tracks wie "Hedonist Nightmare", "Boogieman" und "Weather Report" gibt es Drum & Bass, Breakbeats und andere elektronische Frickeleien.

[mz] Nach dem schönen Akustik-Album "A sad ride on the line again" meldet sich "Favez", der jüngste Neuzugang von Sticksister, nun mit einem elektrifizierten Album zurück. "Gentleman start your engine" [Stickman Records/Indigo], das zweite Album der Lausanner, lotet die Möglichkeiten amerikanischen Alternativ-Rocks aus und wagt gelegentliche Ausflüge in poppigere europäische Gefilde. Favez liegen dabei aber deutlich näher bei Dinosaur JR als bei den englischen Delgados, mit denen sie im vergangenen Jahr auf Tour waren. Dass das wundervolle akustische Album von Favez dabei soviel intensiver, spannender und einzigartiger geriet, als der jüngste Output der Lausanner, mag am musikalischen Rahmen liegen. Bei "Gentleman" klingt vieles doch altbekannt. Fazit: Das Akustikalbum kaufen und die elektrifizierte Favez-Version live bestaunen.

[tb] Eine sehr schön Platte ist das zweite Album der dänischen Sängerin Gry geworden. Unter der Regie von Ex-Neubauten-Schlagwerker FM Einheit sind bei öffentlichen Aufnahmesesssions im Münchner Marstall-Theater zwölf Tracks entstanden, die zwischen Pop und Ambient, Rock und schräger Elektronik keine Wünsche offen lassen. Zusammengehalten von Grys eigenartiger Stimme wirken auf "Public Recording" [FM 451/Indigo] Gäste wie Meret Becker, Caspar Brötzmann oder die Elektroniker von Terranova respektive Funkstörung mit. Wo ein Track wie "Rocket" an eine TV-Serienmelodie aus den 60s erinnert, kommt "Princess Crocodile" als Swing daher oder "Cocktailism" experimentell. Einzig die Lee-Hazlewood/Nancy-Sinatra-Coverversion "Summer Wine" finde ich nicht ganz so geglückt. Da ist das Original einfach zu gross!

[tb] Das schöne Pseudonym tele:funken hat sich der Brite Tom Fenn zugelegt. Bislang kannte man Fenn durch seine Kollaboration mit der Bristoler Band Flying Saucer Attack. Nach ersten Singles ist "A Collection Of Ice Cream Vans Vol. 2" [Domino/Zomba] meines Wissens nach das erste Album von tele:funken. Wir hören ein Dutzend schräger, elektronischer Experimente, die zwischen Pop und Ambient pendelnd, an Autechre erinnern.

[tb] Sowohl an die Werke von Michael Nyman, dem Hauskomponisten des englischen Filmemachers Peter Greenaway als auch an die klassischen Kompositionen des Holländers Wim Mertens erinnert "Vertonung" [Hausmusik/Kollapos] des Weilheimer Projekts Alles Wie Gross. Ursprünglich wurden die Stücke vor vier Jahren für eine Stummfilm-Aufführung von Sven Gades "Hamlet" (1920; mit Asta Nielsen) geschrieben. Wobei wir hier auf Finyl und CD Auszüge aus der 2 ½-Stunden-Produktion hören. Alles Wie Gross, hinter dem sich die Münchner Musiker Michael Heilrath (Couch, Blond) und Markus Acher (Notwist) verbergen, bestechen hier mit aufwendigen Streicherarrangements, die mit Bass und Schlagzeug verstärkt werden. Melancholische Filmmusik.

[tb] Einst schrieb er mit den Swell Maps Rockgeschichte, seit fast zwei Jahrzehnten ist der Brite Nikki Sudden solo oder mit seinen Jacobites unterwegs die vergessenen Sixties zu retten. Und wenn einer im Paisley-Anzug auf der Bühne stehen und ungestraft Retrorock zelebrieren darf, dann ist es uns Nikki. "The Last Bandit" [Glitterhouse/EfA] ist eine klug ausgewählte Compilation aus Suddens Schaffen der letzen zwei Jahrzehnte. Da fehlt weder "Jangle Town" vom Sudden-Meisterwerk "Texas" (von 1986) noch "When I Crossed The Line". Neben den Texten sind im hübschen Booklet auch Suddens Anmerkungen zu den einzelnen Songs abgedruckt.

[tb] Das Reservoir an tollen Songwritern ist in den USA und Kanada unerschöpflich. Da graben die Kollegen von Glitterhouse immer mal wieder grossartige Sachen aus. Wie zum Beispiel den mir bisher gänzlich unbekannten Kanadier Tim Gibbons, der mit "Shylingo" [Glitterhouse/EfA] einen trägen, behutsamen, von Country und Folk gespeisten Wüstenrock spielt. Country noir oder so ähnlich. Unbedingt reinhören.

[tb] Paul Wallfisch kennt man u.a. von seiner Mitarbeit bei Kid Congo Powers Combo Congo Norvell. Botanica heisst seine eigene Band, deren Album "Malediction" [Cargo] emtionsgeladenen Undergroundrock mit schrägen Gitarren und seltsamen Keyboard-Sounds bringt. Sehr abwechslungsreich, fällt dabei auch ein skurriler Titel wie "The Castration Tango" ab.

Letzte Änderungen: 28.12.2001
Produziert von
Peter Pötsch