Nr. 12 / Juli 2000

















Gästebuch


Das ungefähre Kontinuum des Lebens

Der französische Comicautor Lewis Trondheim

Vor zehn Jahren konnte er noch nicht mal Knollennasen zeichnen, heute veröffentlicht er mehrere Alben pro Jahr: Lewis Trondheim, der Star der unabhängigen Comic-Szene Frankreichs.

Von Christian Gasser

"Rückblickend betrachtet, habe ich offenbar meine ganze Jugend allein in meinem Zimmer verbracht", behauptet Lewis Trondheim trocken, "und dabei habe ich wohl soviele dermassen unterschiedliche Sachen aufgesogen, dass es in mir von Geschichten nur so wimmelt." Der Mittdreissiger trägt den ausgetragenen Mantel mit Karomuster, den man aus seinen Comics kennt. "Von so unterschiedlichen Geschichten, dass ich nicht anders kann, als sie in unterschiedlichen Stilen rauszulassen." Auch sonst gleicht er seinem comicalen Alter Ego einem mürrischen Papageien mit schütterer Federhaube. "Müsste ich mich mit einem einzigen Stil begnügen, würde ich mich langweilen. Unvorstellbar."

Das sagt einer, der vor zehn Jahren noch nicht mal Knollennasen zeichnen konnte. Damals krakelte Trondheim jeweils zwei (sehr freundlich umschrieben) "stilisierte" Köpfe in ein Panel, kopierte dies ein paar Dutzend Male, klebte die identischen Einzelbilder aneinander, schrieb die Dialoge in die Sprechblasen, und fertig waren die Monolinguistes". "Es ging ja nicht anders", nickt er. "Ich wusste, ich hatte etwas zu erzählen, aber ich wusste nicht, wie ich es zeichnen sollte. So habe ich zumindest meine Fertigkeit als Dialogschreiber entwickelt. "Die krude Mischung aus philosophischem Salbadern und blankem Unsinn war" so köstlich, dass man nur zu gerne über den dilettantischen Minimalismus der Zeichnungen hinwegsah. Dann musste ich aber weiter gehen."

Zeichnen lernte Trondheim mit "Lapinot et les carottes de Patagonie", einer schwindelerregenden, vermessenen, aber geradezu genialen, genau fünfhundert (!) Seiten dicken Improvisation um den tollpatschigen, aber sympathischen Hasen Lapinot, der sich ein paar Jahre später als seine populärste Figur entpuppen sollte. Der Wälzer erschien 1992 in dem von ihm mitgegründeten Kleinverlag L’Association, der unterdessen die französische Comic-Szene gründlich aufgemischt hat, und seither hat Trondheim mit verblüffender Rasanz und beängstigender Produktivität Zeichenstile, Erzählweisen und Genres vervielfältigt. "Ich liebe es zu experimentieren und zu improvisieren", erklärt er. "Ich will möglichst alle Möglichkeiten der Comics nutzen." Das können philosophische Minimal-Comics sein, aber auch die haarsträubenden Abenteuer von Herrn Hase, das kann die Fantasy-Parodie "Donjon" mit ihren bislang zwei Nebenserien sein, aber auch, in "Monstrueux Bazar", eine Serie für Kinder, das kann der Alltag einer Stubenfliege sein, die autobiographische Untersuchung des eigenen Bauchnabels u.v.a.m.. Vorsichtig geschätzt hat Lewis Trondheim, der Star der jüngsten Generation französischer Comic-Zeichner, seit 1991 über 30 Alben veröffentlicht und arbeitet mit derselben Glaubwürdigkeit für grosse Konzerne wie für unabhängige Verlage, für die Werbung wie für Underground-Magazine. "Ich bin nicht katalogisierbar", sagt er nicht ohne Genugtuung. "Ich bin höchstens katalogisierbar als der, der nicht katalogisierbar ist." Ob er nicht Angst hat, mit dieser Vielfalt und Menge die Leser zu verwirren? "Im Gegenteil. Das Publikum liebt es doch, überrascht und unterhalten zu werden."

DER BLICK DURCHS SCHLüSSELLOCH

Sein bislang interessantester und gelungenster Wurf sind seine 1993/94 in sechs Heften erschienenen und nun als Buch auch auf Deutsch greifbaren autobiographischen "Approximative Continuum Comics".

Dass Comic-Zeichner Episoden aus ihrem eigenen Leben erzählen, ist nicht wirklich neu Robert Crumb macht es seit den Sechzigerjahren vor, auch Art Spiegelmans "Maus" trägt sehr persönliche Züge, und in Frankreich hing Edmond Baudoin schon früh den Erinnerungen an seine Kindheit und Jugend nach. Zum eigenständigen, ja modischen Genre entwickelten sich die autobiographischen Comics aber erst in den späten achtziger Jahren, dank nordamerikanischer Zeichner wie Chester Brown, Julie Doucet oder Joe Matt. Als Lewis Trondheim und sein Association-Kumpel Jean-Christophe Menu mit Einblicken in ihr Leben aufwarteten, wagten sie sich innerhalb der französischen Comic-Kultur also durchaus auf Neuland vor, umso grösser war die Neugierde auf diese Hefte und ihre Wirkung. Während Jean-Christophe Menu seine Beziehungs- und Familiendramen mit roher Schonungslosigkeit durchspielte (auf Deutsch im Band "Rhesusinkompatibilität", Reprodukt Verlag), entfaltete sich Lewis Trondheim ganz als der elegante und raffinierte Erzähler, der mit einem bestechenden Sinn für Rhythmus, für lange Bögen und belebende Brüche Privates und Berufliches verquickte, die Wirklichkeit um seine Phantasien erweiterte und um Träume bereicherte. Seine Fabulierkunst ist umso virtuoser als er eigentlich --- nichts erzählt. Oder: fast nichts. Nur Alltägliches. Ausserordentlich Banales. "Mein Liebesleben ist stabil und geht nur mich was an", grummelt er. "Mein Berufsleben ist nicht sehr aufregend. Ich reise selten, und wenn doch, dann erlebe ich nichts." Er zuckt mit den Schultern. "Ich habe also das Leben von einem erzählt, der im Grunde genommen nichts zu erzählen hat." Und das ist hohe Kunst: Den ereignislosen Alltag eines mürrischen Egozentrikers zu einem witzigen, intelligenten und süffigen Comic-Vergnügen zu verarbeiten. Aber vielleicht ist gerade das interessant und schafft eine gewisse Nähe zu mir und meinen Gedanken", mutmasst er. "Je mehr Abenteuer ich zu erzählen hätte, desto weniger könnte ich die Psychologie entwickeln."

Seine Amerika-Reise zum Beispiel. Im dritten Heft kann man Trondheims Vorbereitungen dieser Urlaubsreise mit seiner Freundin Brigitte und zwei Freunden beobachten. Das vierte Heft (S. 73 im Buch) beginnt mit dem grossen Bild eines Flugzeugs. Man wähnt sich im Flug nach New York landet aber auf der nächsten Seite in Paris. "Haa ... Köstlich, dieser Augenblick der Heimkehr." Zurück im Atelier möchte Trondheim von seinen Reiseerlebnissen berichten, doch kommt ihm nichts in den Sinn. Nur Belangloses. Ausserordentlich Belangloses. Touristenklischees (zu denen natürlich auch das Motzen über die anderen Touristen gehört). Die Fahrt durch Death Valley zum Beispiel, und wie er sich vor dessen Boden ekelt. Ein Beinaheunfall auf einer Bergstrasse. Die Aufregung, als sie die Schlagzeile über einen Amokläufer in der Market Street lesen ("Da sind wir bestimmt zehn Mal vorbeigelaufen!"). Der splitternackte Typ, den sie in Berkeley gesehen haben. "Superanekdote ..." seufzt der Comic-Trondheim und gibt seine Bemühungen auf: "Wenn ich nichts zu erzählen habe, kann ich nichts erzählen."

Was natürlich schamlos untertrieben ist. Zwischen den Reisebruchstücken erzählt uns Trondheim viel über sich selber, über seinen Alltag als Comic-Zeichner in Paris, über die bisweilen geradezu unerträgliche Banalität des Lebens. So wurde er zur Identifikationsfigur für viele Gleichaltrige, deren Leben weniger aufregend ist, als sie es sich womöglich erhofften. Überrascht stellte er fest, "wie stark sich die Leser mit jemandem wie mir identifizieren konnten. Ich hatte den Eindruck, meine Comics seien ein Schlüsselloch, durch das die Leser in mein Leben blickten um sich darin selber wiederzufinden."

THERAPEUTISCHE WIRKUNG?

Trotz der vordergründigen Banalität von Trondheims Alltag ist "Approximative Continuum Comics" alles andere als oberflächlich. Die Beschäftigung mit sich selber entsprang seinem Bedürfnis herauszufinden, wer "ich wirklich bin. Früher wollte ich immer jemand anders sein und ahmte Leute aus meiner Umgebung nach. Auf die Dauer funktioniert das aber nicht. Ich musste lernen, auch meine Schwächen zu akzeptieren und daraus vielleicht Stärken zu machen."

Seine Schwächen? Oh!, davon hat er mehr als genug, und er breitet sie mit geradezu masochistischer Ehrlichkeit vor uns aus. "Wenn man schon einen autobiographischen Comic macht, der auch eine therapeutische Wirkung haben soll, muss man schliesslich bei der Wahrheit bleiben." Er schildert seine Selbstzweifel und seinen Grössenwahnsinn, seine krankhafte Egozentrik und die an Schizophrenie grenzende Vielfalt von Alter Egos (der "Exxageration Man", der Stotterer, der "Justice Man"), die sich pausenlos einmischen; er neigt zu Jähzorn und Intoleranz und hadert mit seinem wortgewandt klugscheissenden Gewissen, er ist immer kompromisslos, bisweilen feige und meistens mürrisch. "Ja, über solche Sachen wollte ich ein bisschen nachdenken." Und er zeichnet Situationen, die viele nachvollziehen können: Wie er etwa den ungehobelten Zeitgenossen, der sich in die Metro vordrängelt, brutal zur Rechenschaft zieht. Nur in Gedanken allerdings in Wirklichkeit schweigt er und ärgert sich über seine fehlende Courage. Nie versinkt Trondheim dabei in Selbstmitleid oder wird allzu privat zu vital sind Selbstironie und Humor, mit denen er seine trotz allem gar nicht unsympathische Persönlichkeit in Szene setzt, zu unbändig seine Fabulierfreude und zu gross der Ehrgeiz, seine Leser zu unterhalten und zu amüsieren.

Und, Lewis, hat die Therapie was genützt? Trondheim zieht seine Baseball-Mütze tiefer über die Augen. "In dem Sinne, dass ich wirklich der geworden bin, der ich sein muss, ja." Was wohl nichts anderes heisst, als dass Trondheim nicht weniger egozentrisch und mürrisch ist als zuvor, ausser dass er es nun viel bewusster ist. Er zuckt mit den Schultern und grummelt. "Ich wäre auch ohne das Buch der geworden, der ich heute bin. Aber es hat den Prozess eindeutig beschleunigt."

Ein Prozess, der auf den letzten Seiten von "Approximative Continuum Comics" offenbar abgeschlossen ist. Lewis Trondheim, inzwischen mit Brigitte verheiratet (was nicht nur seine Leser, sondern auch seine Freunde und seine Eltern nur beiläufig erfahren), ist soeben Vater geworden, und die kleine Familie bereitet den Umzug in die südfranzösische Provinz vor. Was als lineare Improvisation über einen beliebigen Abschnitt seines Lebens begann, verdichtete sich zusehends zu einer hintergründigen Reflektion über das Ende einer Lebensphase. "Das war nicht so geplant", räumt er ein, aber als sich das abzeichnete, war ich natürlich froh und habe es ausgenutzt." Das Ende seiner Jugend? "Sagen wir es mal so: Mein Leben hat sich stabilisiert. Und nun drohe ich, zum Spiesser zu werden. Und darüber gibt´s wahrhaftig nichts zu erzählen."

PS: "Approximative Continuum Comics" liest sich auch wie ein Schlüsselcomic über die unabhängige französische Comic-Szene rund um die Association. Eine hübsche Idee ist, dass Trondheim seinen real existierenden Protagonisten auf den letzten Seiten die Möglichkeit gibt, ihre Version der jeweiligen Anekdoten zu erzählen, das Bild, das Trondheim von ihnen entwirft, zu korrigieren oder ganz einfach über ihn selber herzuziehen.


Bibliographie:

Lewis Trondheim: "Approximative Continuum Comics", "Die Fliege", "Mehltau" (Reprodukt Verlag, 29,90 bzw. 19,90); "Herrn Hases Haarsträubende Abenteuer" (bisher 4 Bände, Carlsen Verlag, 19,90);" Monströse Geschichten" (Carlsen Verlag, 19,90) Lewis Trondheim/Joann Sfar: "Donjon" (bisher 2 Bände, Carlsen Verlag, 19,90)

Herrn Hases haarsträubende Abenteuer

Ein grössenwahnsinniger Wissenschaftler erfindet ein Pulver, das Menschen besser macht, die Geheimpolizei und die obligaten fremden Mächte üben sich in Verschwörungen, eine Leiche verschwindet, Menschen werden entführt, Monster und Mutationen bedrohen die Stadt und durch dieses Labyrinth trivialer Versatzstücke aus den Kolportagethrillern der Jahrhundertwende hoppelt Herr Hase, Beruf: charmanter Comic-Antiheld.

Mit "Herrn Hases haarsträubende Abenteuer" hat Lewis Trondheim die schrägste und schönste neue Comic-Serie für jung und alt geschaffen. Statt, wie in Serien üblich, einen eindeutigen Rahmen zu schaffen und mit Konstanten zu arbeiten, hüpft Trondheim geradezu leichtsinnig durch Zeit und Raum. Je nach Album tummelt sich Herr Hase (im Original: "Lapinot") mit den langen Ohren und den langen Füssen im heutigen Frankreich und macht Skiurlaub ("Slaloms") oder verliebt sich nicht wirklich erfolgreich ("Amour et Interim"); er schiesst sich durch den Wilden Westen ("Blacktown"), erlebt im viktorianischen England eine zarte Romanze ("Vacances de Printemps"), oder er isst seine Karotten im Paris der Jahrhundertwende ("Walter"). Ungewöhnlich? Nein, nichts als normal, findet Trondheim: "Ich bin mit Donald Duck und Mickey Mouse aufgewachsen, und die erleben ihre Abenteuer auch vor den unterschiedlichsten Kulissen und in den unterschiedlichsten Genres. Und das habe ich immer als normal empfunden." Er versuche einfach, "Lapinot eine möglichst glaubwürdige und entwicklungsfähige Persönlichkeit zu geben und in einem völlig unmöglichen Universum möglichst realistisch zu bleiben."

Allen Hasen-Abenteuern ist gemein, dass Trondheim ausserordentlich süffig schreibt und flüssig zeichnet und dank seines trockenen Humors nicht mit Überraschungen, Haken und Widerhaken, Anspielungen, philosophischem Quark und anderen Haarsträubereien geizt. Köstliches Comic-Vergnügen für die ganze Familie also. Genau das nicht unbedingt ein möglichst grosses, sondern ein möglichst breites Publikum anzusprechen ist denn auch Trondheims Ehrgeiz. "Die französischen Verlage", findet er, "machen keine Comics mehr wie Tintin oder Asterix, die von unterschiedlichsten Leuten auf verschiedenen Ebenen gelesen werden können und sowohl Kindern und Jugendlichen, als auch Erwachsenen etwas bieten. Das ist schade je weniger solcher Bandes dessinées es gibt, desto weniger interessiert sich ein breites Publikum für die Comics." Auch wenn Herr Hase noch weit entfernt ist von der Genialität und dem Erfolg der grossen Klassiker, verdient er doch, als einer der wenigen Comics der Gegenwart, das ominöse Label "für Leser von 7 bis 77".

Letzte Änderungen: 28.12.2001
Produziert von
Peter Pötsch