Das ungefähre
Kontinuum des Lebens
Der französische
Comicautor Lewis Trondheim
Vor zehn
Jahren konnte er noch nicht mal Knollennasen zeichnen, heute veröffentlicht
er mehrere Alben pro Jahr: Lewis Trondheim, der Star der unabhängigen
Comic-Szene Frankreichs.
Von
Christian Gasser
"Rückblickend
betrachtet, habe ich offenbar meine ganze Jugend allein in meinem
Zimmer verbracht", behauptet Lewis Trondheim trocken, "und
dabei habe ich wohl soviele dermassen unterschiedliche Sachen aufgesogen,
dass es in mir von Geschichten nur so wimmelt." Der Mittdreissiger
trägt den ausgetragenen Mantel mit Karomuster, den man aus
seinen Comics kennt. "Von so unterschiedlichen Geschichten,
dass ich nicht anders kann, als sie in unterschiedlichen Stilen
rauszulassen." Auch sonst gleicht er seinem comicalen Alter
Ego einem mürrischen Papageien mit schütterer Federhaube.
"Müsste ich mich mit einem einzigen Stil begnügen,
würde ich mich langweilen. Unvorstellbar."
Das
sagt einer, der vor zehn Jahren noch nicht mal Knollennasen zeichnen
konnte. Damals krakelte Trondheim jeweils zwei (sehr freundlich
umschrieben) "stilisierte" Köpfe in ein Panel, kopierte
dies ein paar Dutzend Male, klebte die identischen Einzelbilder
aneinander, schrieb die Dialoge in die Sprechblasen, und fertig
waren die Monolinguistes". "Es ging ja nicht anders",
nickt er. "Ich wusste, ich hatte etwas zu erzählen, aber
ich wusste nicht, wie ich es zeichnen sollte. So habe ich zumindest
meine Fertigkeit als Dialogschreiber entwickelt. "Die krude
Mischung aus philosophischem Salbadern und blankem Unsinn war"
so köstlich, dass man nur zu gerne über den dilettantischen
Minimalismus der Zeichnungen hinwegsah. Dann musste ich aber weiter
gehen."
Zeichnen lernte
Trondheim mit "Lapinot et les carottes de Patagonie",
einer schwindelerregenden, vermessenen, aber geradezu genialen,
genau fünfhundert (!) Seiten dicken Improvisation um den tollpatschigen,
aber sympathischen Hasen Lapinot, der sich ein paar Jahre später
als seine populärste Figur entpuppen sollte. Der Wälzer
erschien 1992 in dem von ihm mitgegründeten Kleinverlag L’Association,
der unterdessen die französische Comic-Szene gründlich
aufgemischt hat, und seither hat Trondheim mit verblüffender
Rasanz und beängstigender Produktivität Zeichenstile,
Erzählweisen und Genres vervielfältigt. "Ich liebe
es zu experimentieren und zu improvisieren", erklärt er.
"Ich will möglichst alle Möglichkeiten der Comics
nutzen." Das können philosophische Minimal-Comics sein,
aber auch die haarsträubenden Abenteuer von Herrn Hase, das
kann die Fantasy-Parodie "Donjon" mit ihren bislang zwei
Nebenserien sein, aber auch, in "Monstrueux Bazar", eine
Serie für Kinder, das kann der Alltag einer Stubenfliege sein,
die autobiographische Untersuchung des eigenen Bauchnabels u.v.a.m..
Vorsichtig geschätzt hat Lewis Trondheim, der Star der jüngsten
Generation französischer Comic-Zeichner, seit 1991 über
30 Alben veröffentlicht und arbeitet mit derselben Glaubwürdigkeit
für grosse Konzerne wie für unabhängige Verlage,
für die Werbung wie für Underground-Magazine. "Ich
bin nicht katalogisierbar", sagt er nicht ohne Genugtuung.
"Ich bin höchstens katalogisierbar als der, der nicht
katalogisierbar ist." Ob er nicht Angst hat, mit dieser Vielfalt
und Menge die Leser zu verwirren? "Im Gegenteil. Das Publikum
liebt es doch, überrascht und unterhalten zu werden."
DER BLICK
DURCHS SCHLüSSELLOCH
Sein bislang
interessantester und gelungenster Wurf sind seine 1993/94 in sechs
Heften erschienenen und nun als Buch auch auf Deutsch greifbaren
autobiographischen "Approximative Continuum Comics".
Dass
Comic-Zeichner Episoden aus ihrem eigenen Leben erzählen, ist
nicht wirklich neu Robert Crumb macht es seit den Sechzigerjahren
vor, auch Art Spiegelmans "Maus" trägt sehr persönliche
Züge, und in Frankreich hing Edmond Baudoin schon früh
den Erinnerungen an seine Kindheit und Jugend nach. Zum eigenständigen,
ja modischen Genre entwickelten sich die autobiographischen Comics
aber erst in den späten achtziger Jahren, dank nordamerikanischer
Zeichner wie Chester Brown, Julie Doucet oder Joe Matt. Als Lewis
Trondheim und sein Association-Kumpel Jean-Christophe Menu mit Einblicken
in ihr Leben aufwarteten, wagten sie sich innerhalb der französischen
Comic-Kultur also durchaus auf Neuland vor, umso grösser war
die Neugierde auf diese Hefte und ihre Wirkung. Während Jean-Christophe
Menu seine Beziehungs- und Familiendramen mit roher Schonungslosigkeit
durchspielte (auf Deutsch im Band "Rhesusinkompatibilität",
Reprodukt Verlag), entfaltete sich Lewis Trondheim ganz als der
elegante und raffinierte Erzähler, der mit einem bestechenden
Sinn für Rhythmus, für lange Bögen und belebende
Brüche Privates und Berufliches verquickte, die Wirklichkeit
um seine Phantasien erweiterte und um Träume bereicherte. Seine
Fabulierkunst ist umso virtuoser als er eigentlich --- nichts erzählt.
Oder: fast nichts. Nur Alltägliches. Ausserordentlich Banales.
"Mein Liebesleben ist stabil und geht nur mich was an",
grummelt er. "Mein Berufsleben ist nicht sehr aufregend. Ich
reise selten, und wenn doch, dann erlebe ich nichts." Er zuckt
mit den Schultern. "Ich habe also das Leben von einem erzählt,
der im Grunde genommen nichts zu erzählen hat." Und das
ist hohe Kunst: Den ereignislosen Alltag eines mürrischen Egozentrikers
zu einem witzigen, intelligenten und süffigen Comic-Vergnügen
zu verarbeiten. Aber vielleicht ist gerade das interessant und schafft
eine gewisse Nähe zu mir und meinen Gedanken", mutmasst
er. "Je mehr Abenteuer ich zu erzählen hätte, desto
weniger könnte ich die Psychologie entwickeln."
Seine
Amerika-Reise zum Beispiel. Im dritten Heft kann man Trondheims
Vorbereitungen dieser Urlaubsreise mit seiner Freundin Brigitte
und zwei Freunden beobachten. Das vierte Heft (S. 73 im Buch) beginnt
mit dem grossen Bild eines Flugzeugs. Man wähnt sich im Flug
nach New York landet aber auf der nächsten Seite in Paris.
"Haa ... Köstlich, dieser Augenblick der Heimkehr."
Zurück im Atelier möchte Trondheim von seinen Reiseerlebnissen
berichten, doch kommt ihm nichts in den Sinn. Nur Belangloses. Ausserordentlich
Belangloses. Touristenklischees (zu denen natürlich auch das
Motzen über die anderen Touristen gehört). Die Fahrt durch
Death Valley zum Beispiel, und wie er sich vor dessen Boden ekelt.
Ein Beinaheunfall auf einer Bergstrasse. Die Aufregung, als sie
die Schlagzeile über einen Amokläufer in der Market Street
lesen ("Da sind wir bestimmt zehn Mal vorbeigelaufen!").
Der splitternackte Typ, den sie in Berkeley gesehen haben. "Superanekdote
..." seufzt der Comic-Trondheim und gibt seine Bemühungen
auf: "Wenn ich nichts zu erzählen habe, kann ich nichts
erzählen."
Was natürlich
schamlos untertrieben ist. Zwischen den Reisebruchstücken erzählt
uns Trondheim viel über sich selber, über seinen Alltag
als Comic-Zeichner in Paris, über die bisweilen geradezu unerträgliche
Banalität des Lebens. So wurde er zur Identifikationsfigur
für viele Gleichaltrige, deren Leben weniger aufregend ist,
als sie es sich womöglich erhofften. Überrascht stellte
er fest, "wie stark sich die Leser mit jemandem wie mir identifizieren
konnten. Ich hatte den Eindruck, meine Comics seien ein Schlüsselloch,
durch das die Leser in mein Leben blickten um sich darin selber
wiederzufinden."
THERAPEUTISCHE
WIRKUNG?
Trotz der vordergründigen
Banalität von Trondheims Alltag ist "Approximative Continuum
Comics" alles andere als oberflächlich. Die Beschäftigung
mit sich selber entsprang seinem Bedürfnis herauszufinden,
wer "ich wirklich bin. Früher wollte ich immer jemand
anders sein und ahmte Leute aus meiner Umgebung nach. Auf die Dauer
funktioniert das aber nicht. Ich musste lernen, auch meine Schwächen
zu akzeptieren und daraus vielleicht Stärken zu machen."
Seine Schwächen?
Oh!, davon hat er mehr als genug, und er breitet sie mit geradezu
masochistischer Ehrlichkeit vor uns aus. "Wenn man schon einen
autobiographischen Comic macht, der auch eine therapeutische Wirkung
haben soll, muss man schliesslich bei der Wahrheit bleiben."
Er schildert seine Selbstzweifel und seinen Grössenwahnsinn,
seine krankhafte Egozentrik und die an Schizophrenie grenzende Vielfalt
von Alter Egos (der "Exxageration Man", der Stotterer,
der "Justice Man"), die sich pausenlos einmischen; er
neigt zu Jähzorn und Intoleranz und hadert mit seinem wortgewandt
klugscheissenden Gewissen, er ist immer kompromisslos, bisweilen
feige und meistens mürrisch. "Ja, über solche Sachen
wollte ich ein bisschen nachdenken." Und er zeichnet Situationen,
die viele nachvollziehen können: Wie er etwa den ungehobelten
Zeitgenossen, der sich in die Metro vordrängelt, brutal zur
Rechenschaft zieht. Nur in Gedanken allerdings in Wirklichkeit schweigt
er und ärgert sich über seine fehlende Courage. Nie versinkt
Trondheim dabei in Selbstmitleid oder wird allzu privat zu vital
sind Selbstironie und Humor, mit denen er seine trotz allem gar
nicht unsympathische Persönlichkeit in Szene setzt, zu unbändig
seine Fabulierfreude und zu gross der Ehrgeiz, seine Leser zu unterhalten
und zu amüsieren.
Und, Lewis,
hat die Therapie was genützt? Trondheim zieht seine Baseball-Mütze
tiefer über die Augen. "In dem Sinne, dass ich wirklich
der geworden bin, der ich sein muss, ja." Was wohl nichts anderes
heisst, als dass Trondheim nicht weniger egozentrisch und mürrisch
ist als zuvor, ausser dass er es nun viel bewusster ist. Er zuckt
mit den Schultern und grummelt. "Ich wäre auch ohne das
Buch der geworden, der ich heute bin. Aber es hat den Prozess eindeutig
beschleunigt."
Ein Prozess,
der auf den letzten Seiten von "Approximative Continuum Comics"
offenbar abgeschlossen ist. Lewis Trondheim, inzwischen mit Brigitte
verheiratet (was nicht nur seine Leser, sondern auch seine Freunde
und seine Eltern nur beiläufig erfahren), ist soeben Vater
geworden, und die kleine Familie bereitet den Umzug in die südfranzösische
Provinz vor. Was als lineare Improvisation über einen beliebigen
Abschnitt seines Lebens begann, verdichtete sich zusehends zu einer
hintergründigen Reflektion über das Ende einer Lebensphase.
"Das war nicht so geplant", räumt er ein, aber als
sich das abzeichnete, war ich natürlich froh und habe es ausgenutzt."
Das Ende seiner Jugend? "Sagen wir es mal so: Mein Leben hat
sich stabilisiert. Und nun drohe ich, zum Spiesser zu werden. Und
darüber gibt´s wahrhaftig nichts zu erzählen."
PS: "Approximative
Continuum Comics" liest sich auch wie ein Schlüsselcomic
über die unabhängige französische Comic-Szene rund
um die Association. Eine hübsche Idee ist, dass Trondheim seinen
real existierenden Protagonisten auf den letzten Seiten die Möglichkeit
gibt, ihre Version der jeweiligen Anekdoten zu erzählen, das
Bild, das Trondheim von ihnen entwirft, zu korrigieren oder ganz
einfach über ihn selber herzuziehen.
Bibliographie:
Lewis Trondheim:
"Approximative Continuum Comics", "Die Fliege",
"Mehltau" (Reprodukt Verlag, 29,90 bzw. 19,90); "Herrn
Hases Haarsträubende Abenteuer" (bisher 4 Bände,
Carlsen Verlag, 19,90);" Monströse Geschichten" (Carlsen
Verlag, 19,90) Lewis Trondheim/Joann Sfar: "Donjon" (bisher
2 Bände, Carlsen Verlag, 19,90)
Herrn Hases
haarsträubende Abenteuer
Ein grössenwahnsinniger
Wissenschaftler erfindet ein Pulver, das Menschen besser macht,
die Geheimpolizei und die obligaten fremden Mächte üben
sich in Verschwörungen, eine Leiche verschwindet, Menschen
werden entführt, Monster und Mutationen bedrohen die Stadt
und durch dieses Labyrinth trivialer Versatzstücke aus den
Kolportagethrillern der Jahrhundertwende hoppelt Herr Hase, Beruf:
charmanter Comic-Antiheld.
Mit
"Herrn Hases haarsträubende Abenteuer" hat Lewis
Trondheim die schrägste und schönste neue Comic-Serie
für jung und alt geschaffen. Statt, wie in Serien üblich,
einen eindeutigen Rahmen zu schaffen und mit Konstanten zu arbeiten,
hüpft Trondheim geradezu leichtsinnig durch Zeit und Raum.
Je nach Album tummelt sich Herr Hase (im Original: "Lapinot")
mit den langen Ohren und den langen Füssen im heutigen Frankreich
und macht Skiurlaub ("Slaloms") oder verliebt sich nicht
wirklich erfolgreich ("Amour et Interim"); er schiesst
sich durch den Wilden Westen ("Blacktown"), erlebt im
viktorianischen England eine zarte Romanze ("Vacances de Printemps"),
oder er isst seine Karotten im Paris der Jahrhundertwende ("Walter").
Ungewöhnlich? Nein, nichts als normal, findet Trondheim: "Ich
bin mit Donald Duck und Mickey Mouse aufgewachsen, und die erleben
ihre Abenteuer auch vor den unterschiedlichsten Kulissen und in
den unterschiedlichsten Genres. Und das habe ich immer als normal
empfunden." Er versuche einfach, "Lapinot eine möglichst
glaubwürdige und entwicklungsfähige Persönlichkeit
zu geben und in einem völlig unmöglichen Universum möglichst
realistisch zu bleiben."
Allen Hasen-Abenteuern
ist gemein, dass Trondheim ausserordentlich süffig schreibt
und flüssig zeichnet und dank seines trockenen Humors nicht
mit Überraschungen, Haken und Widerhaken, Anspielungen, philosophischem
Quark und anderen Haarsträubereien geizt. Köstliches Comic-Vergnügen
für die ganze Familie also. Genau das nicht unbedingt ein möglichst
grosses, sondern ein möglichst breites Publikum anzusprechen
ist denn auch Trondheims Ehrgeiz. "Die französischen Verlage",
findet er, "machen keine Comics mehr wie Tintin oder Asterix,
die von unterschiedlichsten Leuten auf verschiedenen Ebenen gelesen
werden können und sowohl Kindern und Jugendlichen, als auch
Erwachsenen etwas bieten. Das ist schade je weniger solcher Bandes
dessinées es gibt, desto weniger interessiert sich ein breites
Publikum für die Comics." Auch wenn Herr Hase noch weit
entfernt ist von der Genialität und dem Erfolg der grossen
Klassiker, verdient er doch, als einer der wenigen Comics der Gegenwart,
das ominöse Label "für Leser von 7 bis 77".
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