Nr. 2 / Juli 1995

















Gästebuch


Dario Argento und seine Filme

von Norbert Faulhaber

Teil 1: (Leeson Nr. 2, Juli 1995)

Die surreale Ästhetik des Horrors - Dario Argentos blutrote Opern

Die hohe Wertschätzung, die er in diversen Horror- und Splatter-Fankreisen genießt, steht in krassem Gegensatz zu seinem doch recht bescheidenen Bekanntheitsgrad bei der breiten Masse der Kino-, Video- und TV-Konsumenten: Ein Phänomen für sich ist der italienische Regisseur Dario Argento, einerseits ein Meister des subtilen Hichtcock’schen SUSPENSE, andererseits der Schöpfer von ausgesprochen blutigen, grausamen Leinwand-Epen, der deswegen auch von der bundesdeutschen Zensur verfolgt wird wie kein zweiter.

Von Norbert Faulhaber

In Deutschland, wie auch in vielen anderen Ländern, ist der Name Dario Argento in erster Linie Video-Fans ein Begriff. Vor allem in den schummrigen, dunklen Ecken der einschlägigen Etablissements stehen seine Filme als Verleihkassetten im Regal. In den Räumen, die man nur betreten darf, wenn man nachgewiesen hat, daß man über 18 ist. Räume, in denen die wahren Junkies unentwegt nach bisher unentdeckt gebliebenen Schätzen suchen. Die Aura des Verbotenen schwebt über dem, was hier zu finden ist, und tatsächlich verschwindet immer mal wieder ein Titel aus dem Regal, weil die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften oder irgendeine übereifrige Staatsanwaltschaft zugeschlagen hat. Die Besitzer der Videotheken haben seit dem ersten Boom dieses Business, vor über zehn Jahren, in der Regel alle Hände voll zu tun, sich permanent auf dem neuesten Stand der Dinge zu halten, d.h. zu wissen, was gerade neu indiziert ist oder gar ganz verboten. Saftige Geldstrafen winken demjenigen, der hier nicht penibel den Bestimmungen des Gesetzes Folge leistet - angesichts des immer enger werdenden finanziellen Spielraums für viele Videotheken eine latente Bedrohung, die zu ignorieren unmöglich ist. Der eine oder andere Videothekenbesitzer übt sich mittlerweile schon in vorauseilendem Gehorsam und nimmt bereits von sich aus Ware, die er für potentiell anstößig hält, aus dem Sortiment - eine sehr verständliche Strategie, die aber dazu führt, daß viele VIDEO-NASTIES der achtziger Jahre mittlerweile nur noch per Mailorder käuflich zu erwerben sind und der wahre Splatter-Fan von heute schon einiges hinlegen muß, um sich regelmäßig mit den neuesten Werken seiner Favoriten versorgen zu können.

Die Kassetten mit den Filmen Dario Argentos nehmen traditionell in jeder gutsortierten Videothek in dieser vom Ruch des Verbotenen gekennzeichneten Ecke einen prominenten Platz ein - zwischen der "Friday the 13th"-Saga, den frühen Cronenberg-Schockern und George Romeros legendärer "Living Dead"-Trilogie. Im Kino (in Deutschland!) ist ein Film des 54jährigen Italieners so gut wie nie zu sehen. Im Fernsehen läuft mit schöner Regelmäßigkeit "Das Geheimnis der schwarzen Handschuhe", sein Erstlingswerk von 1969 (?), ein ziemlich konfuser, wenn auch visuell recht interessant gestalteter konventioneller Psycho-Thriller, der mit Argentos späterem Oeuvre leider nicht allzuviel zu tun hat. Allein die ARD sorgte im Herbst `92 für eine mittlere Sensation und strahlte zu mitternächtlicher Stunde eine um 20(?) Minuten gekürzte Fassung von "Opera" aus - ein Musterbeispiel für die never-ending-story von der (aus "pädagogischen" Gründen erfolgten) Verstümmelung von Kunstwerken, denn in dieser Version (in der beileibe nicht nur Splatterszenen der Schere der Zensur zum Opfer fielen) blieb von Argentos Meisterwerk von `87 kaum noch etwas übrig: Man stelle sich einmal eine gekürzte Fassung von Hitchcocks "Psycho" vor, bei der die berühmte Duschszene, der Mord an dem Versicherungsagenten Arbogast (?) auf der Treppe und die Schlußszene mit der mumifizierten Mutter im Schaukelstuhl fehlen... Bedauerlicherweise ist die deutsche Videofassung von "Opera" fast identisch mit der ARD-Version und auch bei vielen anderen Filmen des italienischen Horrorstars, die man sich per Verleihvideo zu Hause reinziehen kann, fehlen nicht unwichtige Sequenzen. Tatsächlich gibt es wohl kaum einen, der NICHT (und sei es nur um wenige Minuten oder Sekunden) gekürzt worden ist, wenn auch in keinem anderen Fall so kraß wie bei "Opera". Kein anderer Regisseur dieses Genres hat mit den Zensurinstanzen in diesem unserem Lande so viele Probleme wie Argento, und er selbst nennt Deutschland und die skandinavischen Länder als diejenigen Staaten, in denen er sich von den Behörden am meisten drangsaliert fühlt - ein Skandal, wenn man bedenkt, welche Reputation er im eigenen Lande genießt (wo er zu den bekanntesten Regisseuren überhaupt gehört, sein Name in einem Atemzug mit Fellini oder Bertolucci genannt wird und seine Filme in voller Länge im Fernsehen zu genießen sind). Der Verdacht liegt nahe, daß die besondere Inbrunst, mit der Argentos Arbeiten hierzulande zensiert, geschnitten und verstümmelt werden, etwas mit der Art und Weise zu tun haben muß, mit der er mit den gesellschaftlichen Reizthemen Tod, Gewalt und Sex umgeht - mit anderen Worten, daß seine spezifische Methode, den Zuschauer zu einer Achterbahnfahrt ins Grauen einzuladen, an einen Nerv rühren muß, den wohl viele lieber unberührt lassen wollen.

Drei Charakteristika sind seit "Profondo Rosso" (1976) allen Filmen Argentos eigen: Eine hanebüchene Story, eine formale und technische Brillanz, die ihresgleichen sucht und ein ausgeprägter Sinn für Stil und Ästhetik. Und genau letzteres ist wohl das, was die deutschen und skandinavischen Oberzensoren an diesen Filmen am meisten stört: Eine morbide Faszination geht hier vom Bösen aus, ein Strudel wird freigelegt, der geradewegs in eine mit himmlischen Accessoires angereicherte Hölle führt (so paradox dies auch klingt). Hymnisch jubeln Engelschöre auf der Soundtrack-Spur, während der Held oder die Heldin der Geschichte immer tiefer in den Sog des Verderbens gerät - und die Bestien, seien sie menschlicher ("Profondo Rosso", "Phenomena", "Opera") oder nichtmenschlicher Natur ("Suspiria", "Inferno") auf ihre Opfer lauern. In "Inferno" gibt es eine Szene, in der die Heldin völlig verängstigt, von Dämonen gejagt einen wildfremden jungen Mann bittet, ihr in ihrer Wohnung etwas Gesellschaft zu leisten. Kaum haben sie es sich halbwegs gemütlich gemacht und zur Entspannung etwas Musik aufgelegt (den Gefangenenchor aus Verdis "Nabucco"), fällt der Strom aus. Im Dunkeln tastet sich der junge Mann, dirigiert von dem dem Nervenzusammenbruch nahen Mädchen, zum Sicherungskasten vor, sporadisch geht derweil der Strom (und damit das Licht und vor allem die in ohrenbetäubender Lautstärke dröhnende Musik) an - und gleich wieder aus. "Ich hab’s", schreit schließlich der junge Mann, Licht und Musik durchfluten das Appartment, der Gefangenenchor nähert sich jubilierend der Klimax - und mit schreckgeweiteten, totenstarren Augen fällt der selbstlose Helfer, ein Messer in der Kehle, dem nun endgültig hysterisch gewordenen Mädchen in die Arme. Das ist Argento pur, und es ist perfekt gefilmt: Eine der spannendsten Szenen in der Geschichte der Leinwand überhaupt - aber auch gleichzeitig eine der verstörendsten. Eine ganz eigene, surreale Ästhetik des Horrors ist hier zu bewundern, eine höchst individuelle und unnachahmliche Kombination aus makelloser Schönheit (der Musik) und abgrundtiefem Grauen (die Bilder des Todes) - kein Wunder, daß die Gutachter der Bundesprüfstelle mit Derartigem ihre Probleme haben. Nur schade, daß die Spezialisten für Schnittauflagen hier - leider, leider - etwas ganz wesentliches übersehen: Nicht die Splatterszenen sind es, die in Argentos Filmen ästhetisiert werden, sondern ihr Ambiente - nicht der Mord als solcher wird verklärt, sondern die Aura, in der er passiert. Und genau das ist schließlich der Punkt bei der ganzen leidigen Diskussion um Gewalt im Film und die jugendgefährdende Wirkung derselben: Problematisch ist eine Gewaltdarstellung nicht dann, wenn sie GEZEIGT, sondern wenn sie ÄSTHETISIERT wird ( und damit - eventuell! - zur Nachahmung anregen könnte). Problematisch sind Filme wie "Clockwork Orange", oder "Apocalypse Now" (um nur zwei prominente Beispiele zu nennen), die DEN GEWALTAKT SELBST stilisieren (durch Zeitlupe, Weichzeichner, oder wie auch immer), aber nicht solche, die ihn in aller Drastik unverhüllt zeigen. Und hier muß man Argento einen glatten Freispruch bescheinigen: Grausam und brutal sind die Morde, die in seinen Filmen begangen werden, zweifellos - aber auch gleichzeitig so abstoßend und häßlich , daß nur jemand, der bereits völlig krank ist, sich durch so etwas animieren lassen könnte. Nicht der Tod ist es, der bei Argento die suggestive Faszinationskraft entwickelt (der ist stets grausam und häßlich), sondern die TODESANGST: Durch ein geradezu klassisches Horrorambiente (weitläufiger Park bei Nacht, altertümliches Gemäuer) irrt eine der Heldinnen in "Phenomena", bekleidet lediglich mit einem hauchdünnen Nachthemdchen, verfolgt von einem psychopathischen Killer, mit dessen Augen wir das Ganze sehen. Immer wieder blickt sie sich um, blickt DIREKT UNS AN, schreit und rennt davon - doch wir hören ihre Schreie nicht, auf der Tonspur dröhnt überlaute Heavy-Metal- Musik (von Bruce Dickinsons IRON MAIDEN). Der morbide Reiz daran, Angst zu haben und die Angst eines anderen mitzuerleben, ist es, der Argentos Filme so unwiderstehlich macht - ein im Grunde genommen durchaus sadomasochistisches Motiv, das aber wiederum so alt ist wie das Kino selbst: man denke an Hitchcock, an John Carpenter und die frühen Meister des Spiels mit dem Entsetzen - Friedrich Wilhelm Murnau etwa oder Fritz Lang. Voyeurismus war schon immer DER Reiz, der die Massen dazu trieb, ins Kino zu gehen: Zusehen, wie die Helden und Heldinnen auf der Leinwand Angst hatten - und gleichzeitig mitzuzittern, ihre Angst mitzuerleben (für anderthalb oder zwei Stunden), sich, wie es so treffend heißt, von der Handlung fesseln zu lassen. SO gesehen ist Argento einer der ganz Großen, nicht nur des Horror-Genres, sondern des Kinos überhaupt, und derjenige Film, bei dem dies alles am deutlichsten zutage tritt, der schon mehrfach erwähnte "Opera" (aus dem Jahre `87) - weshalb im Folgenden auf ihn näher eingegangen werden soll.

Auf dem klassischen Schauerroman "Das Phantom der Oper" von Gaston Leroux basiert "Opera", nicht die erste Verfilmung und nicht einmal die eigenwilligste (das dürfte wohl die 1974 gedrehte Rockmusik-Adaption "Phantom of Paradise" von Brian de Palma sein). Von den ersten paar Szenen einmal abgesehen entfernt sich Argento jedoch immer mehr von der Vorlage, bis schließlich nichts mehr übrigbleibt als eine Oper als Ort der Handlung (hier die Mailänder Scala) und das Motiv von der auf perverse Art und Weise angebeteten Opernsängerin (Christina Marsillach). Verdis Oper "Macbeth" wird in Mailand gegeben. Am Abend der Premiere fällt die Diva, die die Lady Macbeth spielen soll, einem (fingierten) Unfall zum Opfer. Betty, eine junge Nachwuchssängerin, wird dazu überredet, die Rolle zu übernehmen. Bei der Premiere stirbt auf spektakuläre Art und Weise ein Bühnenangestellter. Mehrere grauenerregende Morde passieren, jedesmal ist Betty Augenzeugin - gegen ihren Willen. Bevor er mordet, bringt der Killer jeweils die Sängerin in seine Gewalt, knebelt sie und fesselt sie an eine Säule, klebt ihr mit scharfen Nadeln gespickte Klebestreifen ins Gesicht - so daß sie die Augen offenhalten muß, wenn sie verhindern will, daß die Nadeln ihre Lider durchbohren. Hilflos muß sie mitansehen, wie mehrere Freunde und Bekannte (darunter auch ihr Lover) vor ihren Augen quasi abgeschlachtet werden (DAVON ist allerdings in der deutschen Verleihfassung kaum noch etwas zu sehen). Völlig verstört behält sie die Einzelheiten dieser grausamen Erlebnisse erst einmal für sich, vertraut sich erst nach längerem Zögern dem den Fall untersuchenden Kriminalkommissar an. Als - nach einer Suspense-Sequenz, die in der Kinogeschichte ihresgleichen sucht -auch noch ihre beste Freundin von dem anonymen Mörder umgebracht wird, ergreifen sie und der mit ihr befreundete Regisseur der Oper (Ian Charleson) die Initiative: Sie stellen dem Killer eine Falle...

"Opera" war Dario Argentos bisher teuerster und kontroversester Film und eine Quintessenz seines bisherigen Schaffens. Die Story nimmt eine unglaubwürdige Wendung nach der anderen, aber sie verliert ohnehin mehr und mehr an Bedeutung. Was zählt, ist ATMOSPHÄRE, und die ist in "Opera" überreichlich vorhanden: Gewaltig wirkt das weite Rund der Mailänder Scala, labyrinthisch und verschachtelt die Räume und Gänge des weitverzweigten Gebäudekomplexes - inklusive eines Netzes aus Geheimgängen, von denen aus jeder Punkt der Oper ungesehen erreicht werden kann. Eine allgegenwärtige, latente Bedrohung lastet über diesen alten Mauern; Betty, die eine Suite innerhalb des Gebäudes bewohnt, kann sich selbst dann nicht sicher fühlen, wenn sie alle Türen und Fenster penibelst verrammelt hat. Handwerklich ist dieser Film brillant gemacht, mit teilweise atemberaubenden Kamerafahrten, überraschenden Perspektivwechseln und einem (trotz einer insgesamt äußerst konfusen Story) perfekten Spannungsaufbau bei den Suspense-Szenen. Die (nur in der Originalversion enthaltenen) langen, grausamen Splatter-Mord-Sequenzen, abstoßend und ekelerregend, verstärken noch den Eindruck des Bizarren, insbesondere, da sie in der Regel von brüllender Heavy-Metal-Musik (für die Argento offenkundig ein Faible zu haben scheint) begleitet werden. Die mimische Leistung der meisten Schauspieler und Schauspielerinnen spottet demgegenüber (leider, leider) jeder Beschreibung - von Christina Marsillach einmal abgesehen, und sie ist es schließlich auch, die mit ihrer Rolle den Film zum Großteil trägt. Eine seltsame Beziehung scheint zwischen ihr und dem rasenden Killer zu bestehen, keine romantische (wie noch bei Gaston Leroux und fast allen anderen Verfilmungen dieses Stoffes), sondern eher eine latent sadomasochistische. Wie oben beschrieben, zwingt er sie, die Morde mitanzusehen, und sie ist hierdurch mental derart aus der Bahn geworfen, daß sie zunächst mit niemandem über diese Ereignisse sprechen kann.

Voyeurismus ist selbstverständlich das Stichwort, das hier angebracht erscheint, und in gewisser Hinsicht treibt Argento in "Opera" dieses in der Filmgeschichte von Anbeginn an zu findende Motiv bis hin zur letzten Konsequenz: Hilflos wird Betty Augenzeugin der blutrünstigsten Szenen, die man sich vorstellen kann - genau wie wir, die wir im Kinosessel oder vor dem heimischen Fernseher den Blick nicht abwenden können von dem, was da geschieht. Im Unterschied zu ihr allerdings nicht deshalb, weil wir gefesselt und geknebelt sind, sondern WEIL WIR ES NICHT WOLLEN - weil voyeuristische Instinkte nun einmal zur menschlichen Natur zu gehören scheinen (und weil es ohne diese vermutlich gar kein Kino oder Fernsehen gäbe). Das gesamte Horror-Genre lebt von der Lust an der Angst und am Grauen, von der Lust AM ZUSEHEN - und wenn wir uns doch einmal die Hände vor die Augen halten müssen, weil das Gezeigte gar zu grausam oder zu ekelerregend ist, spähen wir nach kürzester Zeit durch die Finger, um ja nichts zu verpassen. Hitchcock beherrschte dieses Prinzip meisterlich, und Dario Argento ist, so gesehen, einer seiner legitimen Erben: "Dieser junge Italiener fängt so langsam an, mich zu beunruhigen", soll der Schöpfer von "Psycho" 1976 gesagt haben, als "Profondo Rosso" ("Deep Red" in der US-amerikanischen Fassung) in die Kinos kam - schade, daß der Altmeister des Suspense keine Gelegenheit mehr hatte, sich Argentos spätere Filme anzusehen. Möglicherweise hätte er sich dann zum ersten und zum einzigen Mal in seinem Leben so richtig gefürchtet.

Voyeurismus ist das Leitmotiv von ALLEN Argento-Filmen, von "Das Geheimnis der schwarzen Handschuhe", wo Tony Musante als zufällig hinzugekommener Augenzeuge ebenfalls hilflos einen Mord mitansehen muß, über "Profondo Rosso", in dem David Hemmings sich lustvoll in einen Alptraum hineinziehen läßt, wie er surrealer kaum sein kann, bis hin zu "Trauma", dem bisher letzten Werk des Maestro - einem relativ enttäuschenden, allzuviele Zugeständnisse an den konventionellen Publikumsgeschmack machenden Psychothriller, der (man höre und staune) in Deutschland sogar in die Kinos kam und interessanterweise gnadenlos floppte. Wie kein anderer zeitgenössischer Regisseur macht Argento extensiven Gebrauch von der subjektiven Kamera: Kreisende, fließende Steadycam-Fahrten in "Opera", hektische Schwenks aus der Perspektive des Opfers in "Phenomena", rasend schnelle Zoom-Operationen in "Profondo Rosso". Wie höchstens noch Nicolas Roeg bedient er sich einer ausgeklügelten Farbdramaturgie: Blau, die Farbe der Bedrohung, dominiert in der Eröffnungssequenz von "Suspiria", Weiß (die bevorzugte Kleidung von Christina Marsillach in "Opera" und Jennifer Connelly in "Phenomena") verkörpert die Unschuld, Rot symbolisiert die Klimax des Geschehens - wenn sich die Leinwand rötet, ist Gefahr im Verzug, und nicht selten ist es das Blut der Opfer, in dem sich das verlöschende Licht des Lebens spiegelt. Extreme Großaufnahmen schärfen unsere sinnliche Wahrnehmung und unseren Blick auch für die allerwinzigsten Details - denen sich Argento mit einer Sorgfalt widmet wie einst Polanski in seinen frühen Filmen und heute eigentlich nur noch David Lynch, Argentos Bruder im Geiste in Sachen filmischer Surrealismus: Augen, Hände, Mordwerkzeuge - kein Argento-Film, in dem nicht weihevoll die Kamera die Instrumente des Todes zeigt. Das Messer sei für ihn ein Phallus-Symbol, meinte der Italiener einst in einem Interview, und eine latente sexuelle Symbolik läßt sich tatsächlich in fast jedem seiner Epen nachweisen: Auffällig viele ausgesucht hübsche junge Mädchen sterben ausgesprochen grausame Tode in seinen Filmen - aber erst, nachdem die Kamera ihre sexuellen Reize unübersehbar zur Geltung gebracht hat. Der Blick, mit dem Argentos subjektive Kamera uns teilhaben läßt an dem blutigen Geschehen auf Leinwand oder Mattscheibe, ist nicht selten der des psychopathischen, sexuell gestörten Killers selbst - unfähig zu einer normalen erotischen Beziehung, Befriedigung nur im Akt des Tötens findend. Sex als Element einer Liebesbeziehung existiert schlichtweg nicht in Argentos Filmen: Als frigide entpuppt sich Betty exakt in der Nacht, in der ihr Lover bestialisch abgeschlachtet wird, und obwohl es zwischen David Hemmings und Daria Nicoldi in "Profondo Rosso" knistert, daß die Funken sprühen, bringen sie es gerade mal zu einem ziemlich lächerlichen Wettkampf im Armdrücken - zynisch betrachtet leben die Frauen in allen diesen Filmen einfach nicht lange genug, als daß sich zwischen ihnen und den jeweiligen Helden irgend etwas anderes als eine flüchtige kumpelhafte Beziehung anbahnen könnte. Er bringe in seinen Filmen nun einmal lieber junge hübsche Mädchen um als häßliche alte Männer, gestand Argento einmal ungerührt in einem Interview ein - wilden Spekulationen über die Psyche des Regisseurs damit Tür und Tor öffnend.


Teil 2: (Leeson Nr. 3, November 1995)

Blutrote Leinwandgemälde von hypnotischer Faszinationskraft

Geradezu Kultstatus genießt der italienische Regisseur Dario Argento bei einer zwar zahlenmäßig recht kleinen, dafür aber umso enthusiastischeren Fangemeinde. - In Deutschland, muß man hinzufügen, denn in seinem Heimatland ist er einer der ganz Großen, laufen seine Filme ungekürzt und zur besten Sendezeit im Fernsehen. Die morbide Ästhetik seiner Leinwandopern ist es, die Argentos Oeuvre von dem seiner Kollegen im phantastischen Genre abhebt und ihn so unverwechselbar macht - und so vielfältig interpretierbar.

Von Norbert Faulhaber

Das Frauenbild des 54jährigen Italieners ist es, das immer wieder Anlaß zu Irritationen gibt - auffällig viele junge Heldinnen sterben ausgesucht grausame Tode in seinen auf Zelluloid gebannten Alpträumen. Er bringe nun einmal lieber junge hübsche Mädchen in seinen Filmen um als häßliche alte Männer, antwortete Argento einmal ungerührt auf eine diesbezügliche Frage in einem Interview - wilden Spekulationen über die Psyche des Regisseurs Tür und Tor öffnend. Eine Interpretation dieser höchst provozierenden Äußerung wäre wohl die, daß es dem Maestro ausschließlich um den ästehtischen Aspekt geht, daß die Betonung der sexuellen Attraktivität seiner Heldinnen den ästhetischen Reiz des Gesamtkunstwerks sozusagen abrunden soll - so wie die Maler der Renaissance mit Vorliebe der Darstellung des weiblichen Akts frönten. Daß Argento (eingestandenermaßen ein großer Bewunderer der Renaissancekunst) ein großer Ästhet und ein Mann mit Sinn für Stil ist, ist kaum zu bestreiten - zu sorgfältig komponiert er seine blutroten Opern, zu penibel dekoriert er sie mit allerlei hochsymbolischen Accessoires. "Kunstgewerbe" höhnte LEESON-Kollege Bohnet einst verächtlich, als er auf dem 1989er "Weekend of Fear" die erste und wohl einzige Aufführung von "Opera" in der Originalversion auf deutschem Boden miterleben durfte - wobei er allerdings mit seiner negativen Bewertung allein auf weiter Flur stand: Stehende Ovationen erhielt Argentos Opus an diesem Abend im Münchener Rio-Palast - zweifellos ein unvergeßlicher event für jeden aufrechten Splatter-Fan. (Hinzugefügt werden sollte vielleicht noch, daß es seinerzeit trotz eines exquisit ausgewählten Programms überhaupt nur zweimal zu derart enthusiastischen Reaktionen des zweifellos äußerst fachkundigen Festivalpublikums kam: Bei "Opera", und als nach den ersten paar Minuten von Tobe Hoopers "Texas Chainsaw Massacre II" Leatherface höchstselbst seinen ersten Auftritt hatte und triumphierend die Kettensäge schwang. Man sieht, nicht ausschließlich Kunstgewerbliches wurde goutiert in jenen drei denkwürdigen Nächten).

Stichwort Gesamtkunstwerk: Das perfekte Zusammenspiel von Kamera, Schnitt und Musik ist es, das den Stil des Italieners so individuell und so faszinierend macht, das die ornamentale Ästhetik des Horrors, die hier kultiviert wird, im Grunde genommen erst erzeugt. Vertonte noch Ennio Morricone die ersten Filme von Argento, ist es ab "Profondo Rosso" vor allem die Art-Rock-Gruppe "I Goblin", die den blutig-barocken Leinwandepen ihren Stempel aufdrückt. Unverkennbar am klassizistisch geprägten Bombast-Rock der seinerzeit schwer angesagten "Emerson, Lake & Palmer" orientiert, klingen "I Goblin" in ihren besten Momenten so, als jammten ein sich im Drogenrausch befindender Mike Oldfield und ein endgültig dem Wahnsinn anheimgefallener Keith Emerson zusammen - eine völlig abgedrehte musikalische Melange, die aber einen nicht abzustreitenden hypnotischen Reiz ausstrahlt. Guttural dröhnt die Orgel, wenn das Geschehen auf der Leinwand sich der Klimax nähert, glockenhell tönen liebliche Frauenchöre, während das Blut der hilflosen Opfer die stets sehr stilvoll konstruierte Kulisse bespritzt - die berühmte Mordszene aus "Inferno" mit Verdis "Nabucco" als Soundtrack wurde ja bereits erwähnt. Für den Rest des "Inferno"-Scores engagierte Argento den großen Emerson persönlich, der auch prompt wie rasend, auf der Grenze zwischen Genie und Wahnsinn balancierend, in die Tasten seines Synthesizers drischt und die surreale Szenerie in den drei Hexenhäusern, um die es hier geht, musikalisch adäquat untermalt. In "Phenomena" outete sich Argento dann schließlich als Heavy-Metal-Fan, kombiniert düstere Gitarrenriffs (von Iron Maiden) mit den "I Goblin"-typischen saccharinsüßen Synthesizersequenzen - eine durchaus gelungene Kombination, die die bizarre Atmosphäre dieses vielleicht atemberaubendsten aller Argento-Thriller nur noch verstärkt. Auf der Tracklist des Scores von "Opera" wiederum finden sich Brian Eno(!), der unter anderem den Titeltrack intoniert, Bill Wyman(!!), diverse Metalbands und Claudio Simonetti, Ex-Keyboarder der inzwischen aufgelösten "I Goblin" (dessen End-Title-Track "Opera" sich in etwa so anhört, als hätte ein einem akuten Anfall von Schizophrenie erlegener Richard Clayderman sich eine extra große Portion LSD zum Frühstück genehmigt). Als Sonderfall innerhalb des Argentoschen Oeuvres sei hier noch der Vollständigkeit halber "Tenebrae" erwähnt, sein 82er Film, der, da in Deutschland verboten(!), dem Verfasser dieses Artikels nur vom Hörensagen her bekannt ist, dessen Soundtrack (wiederum von "I Goblin") dagegen völlig legal erhältlich ist - Von der Filmmusik her zu urteilen, dürfte es sich um ein überaus dramatisches Werk handeln. Musik, wie man sieht, spielt eine relativ große Rolle in den Filmen des italienischen "Masters of Horror" (so der Titel einer vorzüglichen Videodokumentation von Michele Soavi), an vielen der genannten Soundtracks wirkte Argento denn auch als Komponist und Arrangeur mit. In "Opera", seinem - wie ausführlich beschrieben - unbestrittenen Opus Magnum, dreht sich schließlich alles um Musik: Zu den donnernden Akkorden aus Verdis "Macbeth" schwebt die Kamera in der Eröffnungssequenz aus dem Orchestergraben heraus und Verdi begleitet uns auch den ganzen Film über - und sorgt für mehr Atmosphäre als die monotonen Synthesizerklimpereien Brian Enos. Schallplatten und CDs mit Argento-Soundtracks sind denn auch in Italien regelrechte Verkaufshits - hierzulande sind sie hingegen leider nur als Importe und nur zu recht gesalzenen Preisen erhältlich.

Dario Argento ist ein Phänomen - als Regisseur mit einem äußerst eigenwilligen Stil, als Kultstar einer kleinen, ergebenen Fangemeinde, die seltsamerweise aus nicht wenigen Angehörigen der sich selbst als links verstehenden Kulturschickeria besteht. SPEX beispielsweise, das autoritative Fachblatt für alles, was gerade hip ist oder hip sein soll, hätschelt den italienischen Ex-PCI-Journalisten seit Jahren auf ziemlich auffällige Art und Weise. Daß Argento absolut faszinierende Filme macht, ist keine Frage, daß manches von dem, was er auf die Leinwand bringt, nicht ganz unproblematisch ist, ist die feste Überzeugung des Autors dieses Beitrages. Um nicht mißverstanden zu werden: Die Schnittauflagen und die eher subtileren anderen Zensurmaßnahmen sowie das wirklich skandalöse Verbot von "Tenebrae" sind Angriffe auf das Prinzip der Kunstfreiheit und sollten als solche unermüdlich gegeißelt werden. Auf der anderen Seite ist Dario Argento wohl einzig und allein deswegen noch nicht Zielscheibe wütender feministischer Kritik geworden, weil diejenigen, die unter dieser Prämisse das Kulturschaffen der Gegenwart durchforsten, seine Filme höchstwahrscheinlich gar nicht kennen. Das Frauenbild des "Masters of Horror" ist es, das bei genauerer Betrachtung nicht unproblematisch erscheint und ganz abwegig scheint auch die Vermutung nicht zu sein, hier reagiere einer, seine persönlichen Konflikte via Horrorfilm ab: Daria Nicoldi beispielsweise, seine langjährige Lebensgefährtin, stirbt seit "Phänomena" (1984, exakt der Zeitpunkt der Auflösung ihrer Beziehung) einen grausamen Filmtod nach dem anderen. So subtil und geschickt Argento auch - wie dargelegt - mit dem uralten Motiv des Voyeurismus hantiert, so plump erscheinen des öfteren seine Darlegungen der Motive der geheimnisvollen Killer, die seine Filme bevölkern. Das naheliegendste Motiv von allen spielt bei ihm interessanterweise so gut wie nie eine Rolle: Daß es einer psychisch deformierten Persönlichkeit Spaß machen kann, zu töten - und für uns, die Zuschauer, unter Umständen ein gleichermaßen morbides wie perverses Vergnügen, Zeuge dessen zu werden. "Peeping Tom" von Michael Powell aus dem Jahre 1960 war wohl der erste Film, der daran ging, sich dieses Tabus anzunehmen und in gewisser Hinsicht ist "Opera", ein Film, bei dem es in erster Linie um das Phänomen des Sehens geht, eine logische Fortsetzung hiervon. Daß Dario Argento nach "Opera" nichts Überzeugendes mehr zustande gebracht hat, scheint bezeichnend - der noch ultimativere Kick wäre dann wohl so etwas Ähnliches wie "Gesichter des Todes" (der berühmt-berüchtigte Videofilm, der - angeblich - reale Morde zeigt) und hiermit wäre dann wohl die Grenze zwischen Genie und Wahnsinn mal wieder endgültig überschritten.

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Letzte Änderungen: 28.12.2001
Produziert von
Peter Pötsch