Die Rückkehr
einer Legende
Elf Jahre nach
seiner letzten Soloplatte legt Scott Walker endlich ein neues Werk
vor: "Tilt"
Von
Thomas Bohnet
Mit fiebernden
Händen packe ich das kleine Päckchen aus, in dem sich ein Promo-
Exemplar der neuen Scott-Walker-CD "Tilt" befinden soll:
Eine Sensation für den Fan, von denen es anscheinend viele geben
muß: Zumindest was die begeisterten Rezensionen allerorten, ob in
der deutschen, franzöischen, englischen oder amerikanischen Presse
angeht: Recht so!
Elf Jahre sind
vergangen seit "Climate Of Hunter", dem letzten meisterhaften
Solo-Werk des einstigen "Walker Brothers". Na und, werden
ignorante Menschen, deren Popverständnis zwischen Stones, Beatles
und Dylan eingeklemmt ist, fragen? Ignoranzler wie die beiden Musiktotengräber
Barry Graves und Siegfried Schmidt-Joos etwa, die den "Walker
Brothers" in ihrem "Rocklexikon" (in Ermangelung
eines anderen deutschsprachigen Nachschlagewerkes ist das leider
das sogenannte Standardwerk) nur wenige Zeilen ("altmodisch-romantische
Nightclub-Musik") widmen. Für andere, wie zum Beispiel den
deutlich hörbar von Walker beeinflussten britischen Sänger Marc
Almond, der die liner-notes zur 1990 erschienen Walker-Compilation-CD
"Boy Child" verfassen durfte, ist der Mann, der eigentlich
Noel Scott Engel heisst, dagegen "the thinking man`s crooner"
oder einfach "The voice", "die Stimme". - Dieser
phantastische Bariton, der mit einer Intensität eingesetzt, auch
"Three Blind Mice" - so, wieder Almond - singen könnte
"and make it sound like the only song in the world". Andere
Kollegen wie Elvis Costello, David Bowie oder Julian Cope verehren
Scott Walker wie keinen Zweiten der Sixties-Helden. Dem breiten
Publikum wird er dagegen wohl immer nur als der singende "Walker
Brother" bekannt bleiben, als ein Teil des von Kalifornien
nach England übergesiedelten Trios, das zwischen 1965 und 1967 zahlreiche
Hits hatte. Alleine in England hatte man damals neun Top-Ten-Hits
und gerne wird kolportiert, dass der englische "Walker-Brothers"-Fanclub
zu dieser Zeit mehr Mitglieder als der Beatles-Fanclub gehabt habe.
Die beiden Walker-Brothers-Hits "The Sun Ain`t Gonna Shine
Anymore" und "Make it easy on yourself" dudeln noch
heute täglich durch die Äther der zahllosen Oldie-Radiostationen
und finden sich auf jeder 60s-Billig-CD . Vermutlich lebt der inzwischen
52jährige Scott Walker heute hauptsächlich von Tantiemen dieser
alten Stücke. Wobei die grosse Zeit von "The Voice" aber
nach der Trennung von seinen Pseudo-Brüdern 1967 kam. Bis 1970 spielte
Walker vier grossartige Soloalben - alle von "Scott" bis
"Scott 4" schlicht durchnumeriert - ein. Diese Meisterwerke,
teilweise bombastisch, orchestral instrumentierter Torch-Songs wurden
übrigens 1992 dankenswerterweise alle auf CD wiederveröffentlicht.
Vor allem seine englisch gesungenen Jacques-Brel-Coverversionen
"Jackie" und "Amsterdam" waren damals besonders
erfolgreich (inzwischen ebenfalls auf CD zusammengefasst: "Scott
Walker sings Jacques Brel"). Der echte Walker- Fan freilich
stürzte sich auf die Brel-Stücke "My Death" und "Next"
oder verfiel dem Charme von "Boychild", "Montague
Terrace (In Blue)" sowie dem genialischen "The Old Man`s
Back Again". Letzteres im Untertitel übrigens "dedicated
to the neo-stalinist regime" und unter dem Eindruck der Ereignisse
um den Prager Frühling 1968 geschrieben.
In den siebziger
Jahren folgten weitere Solo-LPs sowie eine kurze Walker-Brothers-Reunion,
mit wenigstens einem großartigen Song: "No regrets". Und
dann, 1984, dieses verstörende, von Kuhglockengebimmel eingeläutete,
großartige Monument eines Albums: "Climate Of Hunter".
Für mich eine der Platten der achtziger Jahre überhaupt. Schwer
zugänglich aufs erste Ohr, doch nach intensiverer Beschäftigung
damit, ein Juwel von einem Album. "Hauntingly beautiful"
würde der Engländer wohl sagen ob soviel croonender Eleganz, soviel
wagemutiger Arrangierkunst.
Ansonsten war diese Platte finanziell gesehen ein Flop. Gleichwohl
wird man auch zwischen Zürich und Berlin etliche Menschen finden,
die "Climate Of Hunter" in ihren Plattensammlungen als
Kultalbum führen.
"Tilt"
beginnt mit dem zugänglichsten Stück der Platte, "Farmer In
The City", einem Streicher unterlegten Titel, bei dem Walkers
aus Tausenden heraushörbare Stimme voll zur Geltung kommt. Das Stück
setzt noch am ehesten dort an, wo Walker mit seinen Soloplatten
einst aufgehört hatte. Schon der zweite Titel "The Cockfighter",
wie fast alle "Songs" der CD gut sechs Minuten lang, verstört
dann komplett. Die Stille wird von einsetzendem Maschinenlärm durchbrochen,
so als hätte sich Walker als Backing Band die "Einstürzenden
Neubauten" ausgeliehen. Der Text schwer, dunkel, assoziativ
und ohne Textblatt nicht immer gut verstehbar, zitiert unter anderem
Auszüge aus den Gerichtsprotokollen der Verhandlung gegen den Naziverbrecher
Adolf Eichmann. Düster geht es mit "Bouncer see Bouncer"
weiter, einem fast neunminütigen Brocken mit schweren Drumschlägen,
Metallgeklirr im Hintergrund und Orgelschleifen. "Don`t Play
That Song For Me, You Won`t Play That Song For Me" croont Walker,
wobei das Stück nach der Hälfte in friedlichere Gefilde wechselt,
fast sinfonisch wird. Bedrohlich klingt "Manhattan" während
"Bolivia 95" mit eigenartiger Percussion, raschelnden
Glasperlen und obskuren E-Gitarren-Arrangements aufwartet. Flirrende
Streicher und schöne Brechungen machen aus dem zweiten sehr langen
Stück "Patriot (A Single)" eines der stärksten Stücke
des Albums. Am ehesten noch als "Song" im eigentlichen
Sinne zu bezeichnen ist das Titelstück mit seinen schrägen Gitarren.
Das kurze "Rosary" beschliesst die 56 Minuten lange CD.
Der letzte Satz, der aus den Boxen kommt lautet: "And I Gotta
Quit" - was wir nicht hoffen wollen. - Denn trotz des verstörenden
ersten Höreindrucks verbirgt sich hinter "Tilt" ein ganz
hervorragendes Album, das mit jedem Hören besser wird. Walker-Fans
sollten also nicht zu früh aufgeben! Sie werden nicht enttäuscht
werden. Die Feinheiten offenbaren sich erst nach intensiverer Beschäftigung
mit der Platte. Wenn vielleicht auch die Äusserung des britischen
Magazins "Q", "Tilt" sei das erste Rockalbum
des 21. Jahrhunderts etwas zu hochgegriffen ist: das ist das Album
des Jahres 1995! |