Nr. 2 / Juli 1995

















Gästebuch


Die Rückkehr einer Legende

Elf Jahre nach seiner letzten Soloplatte legt Scott Walker endlich ein neues Werk vor: "Tilt"

Von Thomas Bohnet

Mit fiebernden Händen packe ich das kleine Päckchen aus, in dem sich ein Promo- Exemplar der neuen Scott-Walker-CD "Tilt" befinden soll: Eine Sensation für den Fan, von denen es anscheinend viele geben muß: Zumindest was die begeisterten Rezensionen allerorten, ob in der deutschen, franzöischen, englischen oder amerikanischen Presse angeht: Recht so!

Elf Jahre sind vergangen seit "Climate Of Hunter", dem letzten meisterhaften Solo-Werk des einstigen "Walker Brothers". Na und, werden ignorante Menschen, deren Popverständnis zwischen Stones, Beatles und Dylan eingeklemmt ist, fragen? Ignoranzler wie die beiden Musiktotengräber Barry Graves und Siegfried Schmidt-Joos etwa, die den "Walker Brothers" in ihrem "Rocklexikon" (in Ermangelung eines anderen deutschsprachigen Nachschlagewerkes ist das leider das sogenannte Standardwerk) nur wenige Zeilen ("altmodisch-romantische Nightclub-Musik") widmen. Für andere, wie zum Beispiel den deutlich hörbar von Walker beeinflussten britischen Sänger Marc Almond, der die liner-notes zur 1990 erschienen Walker-Compilation-CD "Boy Child" verfassen durfte, ist der Mann, der eigentlich Noel Scott Engel heisst, dagegen "the thinking man`s crooner" oder einfach "The voice", "die Stimme". - Dieser phantastische Bariton, der mit einer Intensität eingesetzt, auch "Three Blind Mice" - so, wieder Almond - singen könnte "and make it sound like the only song in the world". Andere Kollegen wie Elvis Costello, David Bowie oder Julian Cope verehren Scott Walker wie keinen Zweiten der Sixties-Helden. Dem breiten Publikum wird er dagegen wohl immer nur als der singende "Walker Brother" bekannt bleiben, als ein Teil des von Kalifornien nach England übergesiedelten Trios, das zwischen 1965 und 1967 zahlreiche Hits hatte. Alleine in England hatte man damals neun Top-Ten-Hits und gerne wird kolportiert, dass der englische "Walker-Brothers"-Fanclub zu dieser Zeit mehr Mitglieder als der Beatles-Fanclub gehabt habe. Die beiden Walker-Brothers-Hits "The Sun Ain`t Gonna Shine Anymore" und "Make it easy on yourself" dudeln noch heute täglich durch die Äther der zahllosen Oldie-Radiostationen und finden sich auf jeder 60s-Billig-CD . Vermutlich lebt der inzwischen 52jährige Scott Walker heute hauptsächlich von Tantiemen dieser alten Stücke. Wobei die grosse Zeit von "The Voice" aber nach der Trennung von seinen Pseudo-Brüdern 1967 kam. Bis 1970 spielte Walker vier grossartige Soloalben - alle von "Scott" bis "Scott 4" schlicht durchnumeriert - ein. Diese Meisterwerke, teilweise bombastisch, orchestral instrumentierter Torch-Songs wurden übrigens 1992 dankenswerterweise alle auf CD wiederveröffentlicht. Vor allem seine englisch gesungenen Jacques-Brel-Coverversionen "Jackie" und "Amsterdam" waren damals besonders erfolgreich (inzwischen ebenfalls auf CD zusammengefasst: "Scott Walker sings Jacques Brel"). Der echte Walker- Fan freilich stürzte sich auf die Brel-Stücke "My Death" und "Next" oder verfiel dem Charme von "Boychild", "Montague Terrace (In Blue)" sowie dem genialischen "The Old Man`s Back Again". Letzteres im Untertitel übrigens "dedicated to the neo-stalinist regime" und unter dem Eindruck der Ereignisse um den Prager Frühling 1968 geschrieben.

In den siebziger Jahren folgten weitere Solo-LPs sowie eine kurze Walker-Brothers-Reunion, mit wenigstens einem großartigen Song: "No regrets". Und dann, 1984, dieses verstörende, von Kuhglockengebimmel eingeläutete, großartige Monument eines Albums: "Climate Of Hunter". Für mich eine der Platten der achtziger Jahre überhaupt. Schwer zugänglich aufs erste Ohr, doch nach intensiverer Beschäftigung damit, ein Juwel von einem Album. "Hauntingly beautiful" würde der Engländer wohl sagen ob soviel croonender Eleganz, soviel wagemutiger Arrangierkunst.
Ansonsten war diese Platte finanziell gesehen ein Flop. Gleichwohl wird man auch zwischen Zürich und Berlin etliche Menschen finden, die "Climate Of Hunter" in ihren Plattensammlungen als Kultalbum führen.

"Tilt" beginnt mit dem zugänglichsten Stück der Platte, "Farmer In The City", einem Streicher unterlegten Titel, bei dem Walkers aus Tausenden heraushörbare Stimme voll zur Geltung kommt. Das Stück setzt noch am ehesten dort an, wo Walker mit seinen Soloplatten einst aufgehört hatte. Schon der zweite Titel "The Cockfighter", wie fast alle "Songs" der CD gut sechs Minuten lang, verstört dann komplett. Die Stille wird von einsetzendem Maschinenlärm durchbrochen, so als hätte sich Walker als Backing Band die "Einstürzenden Neubauten" ausgeliehen. Der Text schwer, dunkel, assoziativ und ohne Textblatt nicht immer gut verstehbar, zitiert unter anderem Auszüge aus den Gerichtsprotokollen der Verhandlung gegen den Naziverbrecher Adolf Eichmann. Düster geht es mit "Bouncer see Bouncer" weiter, einem fast neunminütigen Brocken mit schweren Drumschlägen, Metallgeklirr im Hintergrund und Orgelschleifen. "Don`t Play That Song For Me, You Won`t Play That Song For Me" croont Walker, wobei das Stück nach der Hälfte in friedlichere Gefilde wechselt, fast sinfonisch wird. Bedrohlich klingt "Manhattan" während "Bolivia 95" mit eigenartiger Percussion, raschelnden Glasperlen und obskuren E-Gitarren-Arrangements aufwartet. Flirrende Streicher und schöne Brechungen machen aus dem zweiten sehr langen Stück "Patriot (A Single)" eines der stärksten Stücke des Albums. Am ehesten noch als "Song" im eigentlichen Sinne zu bezeichnen ist das Titelstück mit seinen schrägen Gitarren. Das kurze "Rosary" beschliesst die 56 Minuten lange CD. Der letzte Satz, der aus den Boxen kommt lautet: "And I Gotta Quit" - was wir nicht hoffen wollen. - Denn trotz des verstörenden ersten Höreindrucks verbirgt sich hinter "Tilt" ein ganz hervorragendes Album, das mit jedem Hören besser wird. Walker-Fans sollten also nicht zu früh aufgeben! Sie werden nicht enttäuscht werden. Die Feinheiten offenbaren sich erst nach intensiverer Beschäftigung mit der Platte. Wenn vielleicht auch die Äusserung des britischen Magazins "Q", "Tilt" sei das erste Rockalbum des 21. Jahrhunderts etwas zu hochgegriffen ist: das ist das Album des Jahres 1995!

Letzte Änderungen: 28.12.2001
Produziert von
Peter Pötsch