Nr. 3 / November 1995

















Gästebuch


Godard meets Man Ray

European Media Art Festival 1995

Auf dem 8. Europäischen Medienkunst-Festival in Osnabrück gab es, im 100. Jahr des Kinematographen, neben den etlichen neuen Beiträgen, auch rund fünfzig Klassiker der Filmavantgarde und des Experimentalfilms zu bewundern. Zu Bunuels "Chien andalou", Man Rays "Les Mystères du Château des Dés", gesellten sich Werke von Stan Brakhage, Jonas Mekas, Derek Jarman und Andy Warhol.
Schwierig war es für die neuen Werke neben den ausgewählten Höhepunkten der Avantgarde zu bestehen. Einige wenige setzten sich dennoch im Gedächtnis fest. Allen voran der von der Jury der AG der Filmjournalisten ausgewählte Preisträger des diesjährigen Festivals: Klaus Telscher und seine auf 16mm gedrehte Reflektion "La Reprise".

von Markus Zinsmaier

Als der Vicomte de Noailles Man Ray 1928 den Vorschlag machte einen Spielfilm zu drehen und dafür sein "kubistisches Schloß", eine hypermoderne Villa in Südfrankreich, zur Verfügung stellte, war der Kinematograph gerade mal 33 Jahre alt. Der Tonfilm, als die neuste Errungenschaft, begann das Stummfilmzeitalter abzulösen. Man Ray verwehrte sich dieser "modischen Strömung", da sie ihm nicht behagte und schuf, ganz im Stil der ersten französischen Avantgarde, "Les Mystères du Château des Dés", eine Auftragsarbeit, die ursprünglich eine rein private Angelegenheit hätte werden sollen. "Ein Würfelwurf niemals auslöschen wird den Zufall", heißt es bei Mallarmé, und dies ist der Ausgangspunkt des Films. Zwei Männer, namenlos, warm angezogen, sitzen an einem Wintertag in Paris in einer Bar. Ihre Gesichter sind unkenntlich hinter Strümpfen versteckt. Sie würfeln, um eine Entscheidung über Aufbruch oder Verweilen herbeizuführen. Die Würfel entscheiden für Aufbruch. Es folgt eine in halb verwackelten Einstellungen als subjektive Kamerafahrt aufgenommene Autofahrt in den Süden. "Zwei Reisende, die suchen", heißt es im Zwischentitel. Ziel: das "kubistische Schloß". Dokumentarische Sequenzen, Innen- und Außenansichten des Châteaus, Schwenks über die Außenfassade des Gebäudes und Aufnahmen des Interieurs wechseln schließlich mit kurzen gespielten Szenen: maskierte Gestalten in schwarzen Badeanzügen erscheinen, vollziehen merkwürdige gymnastische Übungen. Man macht ein Schwimmbad aus, eine Frau löst sich aus der Menge, man sieht ihre Haare aufgefächert im Wasser treiben. "Piscinèma", heißt es im Zwischentitel. Über allem schwebt der Hauch des Unnahbaren, des Unwirklichen, des Flüchtigen. Wie der Hauch von Erinnerungen, wie Gedanken, die auf der Suche nach der Vergangenheit sind, lösen sich die Bilder von der Geschichte - wenn es denn eine gibt - sind Dokument, filmisches Experiment und Moment festgehaltener, fühlbahrer Erinnerung.

Klaus Telscher (Jahrgang ’55), nimmt dies, die Suche nach einer verlorenen Zeit, einer verlorenen Liebe als Ausgangspunkt seiner Reflektion "La Reprise". Zusammen mit Text- und Tonzitaten aus "Le Mepris" entsteht daraus ein vielschichtiges poetisches Werk, das seine Kraft einerseits aus dem gefundenen (Film-) Material schöpft und als Remake gespickt mit (Film-) Zitaten funktioniert, andererseits, durch die zeitliche Distanz, in einen neuen, "leeren" Raum vordringt. Die Jahre sind nicht spurlos an der teilweise zur Ruine verfallenen "Villa Noailles" vorbeigezogen, als der Photograph in Telschers Film, 65 Jahre nach den seltsamen Ereignissen, die den Rahmen von Rays Film bildeten, in das Château eindringt. Es ist eine Suche der Schatten. Aus den Reisenden ist ein Reisender geworden. Auch er muß sich erst im Gewirr der Vergangenheit zurechtfinden, als er plötzlich mit menschlichem Leben in der Villa konfrontiert wird. Und es taucht die Frage auf: "Existent- ils...fantômes des actions passées?" (Gibt es sie wirklich, Gespenster vergangener Handlungen?). Realität und Fiktion, Vergangenheit und Gegenwart beginnen sich zu vermischen. Der Photograph muß erkennen, daß auch er seine Vergangenheit, nicht von der der Umgebung trennen kann. "Tu cherches des morceaux d’hier"("Du suchst nach Bruchstücken von gestern"), heißt es in einem wunderschönen Chanson in der Mitte des Filmes und kurz darauf:"Ich werde die Augen geschlossen haben, wenn Du verschwunden sein wirst". "La Reprise" ist auch ein Film über den Verlust, die Verlassenheit, über die erlebten und verlorenen Momente und Sekunden. Die Architektur des Schlosses, das Spiel von Licht und Schatten korrespondieren mit diesem Zustand. "Licht und Schatten, die Geheimnisse der Malerei", heißt es bei Godard. Es ist das Kunststück des Filmes, abstrakt und sehr persönlich zugleich zu sein, über Architektur und Malerei zu sprechen, sich den Formen des Gebäudes zu nähern und gleichzeitig eine sehr persönliche Geschichte zu erzählen. Zeit, Augen-Blicke spielen hierbei eine besondere Rolle: eine Hand, ein Lächeln, ein Zucken mit der Wimper sind Abdrücke dieser verlorenen Momente im Gedächtnis. Der Photograph wird beginnen Realität und Fiktion, Vergangenheit und Gegenwart nicht mehr voneinander trennen zu können. Er wird mit Rimbaud sagen "Ich selbst war ein anderer" und die Einsamkeit, ist jetzt über mein ganzes Gesicht geschrieben...

Wenn Telscher, am Ende des Filmes angelangt, den Nachspann laut verliest, wie es Godard in "Le Mepris" mit dem Vorspann getan hatte, so ist ihm eine Hommage an das französische Kino von den Anfangstagen bis zur Nouvelle Vogue, von Man Ray, Dulac bis Godard geglückt.

Klaus Telschers "La Reprise" war der schönste Film des Festivals. Getragen von einer Melancholie, einer Schlichtheit, einer Poesie, wie man sie schon lange nicht mehr über die Leinwand huschen sah. Mehr noch als in "My Mona" (1991) und als in "Nachsommer" (1987) ist es in "La Reprise" die formale Strenge, die den Film zum ausgereiftesten aber auch kommerziellsten Werk Klaus Telschers werden läßt.

Wüste, innerlich und äußerlich, ist das Thema von Bill Violas meisterlich komponiertem Video "Déserts". Viola gelingt es ausgehend von Edgar Varèses gleichnamiger Komposition Bilder der Leere und Einsamkeit, der Verwüstungen in den Menschen einzufangen. Trostlose Unterwasserlandschaften wechseln mit brenndenden Ölquellen. Ein Mann sitzt an einem Tisch. Ein Wasserglas zerspringt auf dem Boden. Viola folgt einem gedanklichen Fluß, seine Bilder des Außen sind gleichzeitig Bilder des Innen. Gefühle, innere Regungen werden anschaulich. Es ist ein "view (Blick) solely from within", wie Viola selbst hinzufügt, der auf ganz abstrakte Weise ein Gefühl transponiert.

Ein Schauspieler und ein Satz sind das Gerüst aus dem Holger Mader, Student der Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe, sein Video "Ich suche nichts, ich bin hier" entwickelt. Der Blick in die Kamera und die gesteigerte Intensität eines Satzes, der gleichzeitig, der Titel des Filmes ist, von Chun-Chi Lin mit starkem Akzent vorgetragen, vermögen zu fesseln und bleiben haften.

Einer der Publikumslieblinge ’92 war das Video "Das Zauberglas" von Björn Melhus. Bereits dort ging es um Kommunikation - eine Kommunikationsform der Zukunft. Die Medien, der Fernsehapparat werden zum Gesprächspartner, zum Liebesersatz. Kommunikation ist nur noch in einer Scheinwelt möglich. Formal wesentlich ausgereifter, thematisch jedoch ähnlich gelagert, ist Melhus neustes Werk "Weit Weit Weg", ein experimenteller Kurzspielfilm, der aus dem "Wizard of Oz" schöpft und mit Hilfe eines gelben Funktelefons, eine Stimme auf die Reise in den Äther schickt.

Daten zu vielen hier erwähnten Personen und Filmen gibt es in der Internet Movie Database.
Mehr Informationen zum Thema Film auf der Film- und Kino-Seite

Letzte Änderungen: 28.12.2001
Produziert von
Peter Pötsch