Godard meets
Man Ray
European Media
Art Festival 1995
Auf dem 8.
Europäischen Medienkunst-Festival in Osnabrück gab es, im 100.
Jahr des Kinematographen, neben den etlichen neuen Beiträgen, auch
rund fünfzig Klassiker der Filmavantgarde und des Experimentalfilms
zu bewundern. Zu Bunuels "Chien andalou", Man Rays "Les
Mystères du Château des Dés", gesellten sich Werke von Stan
Brakhage, Jonas Mekas, Derek Jarman und Andy Warhol.
Schwierig war es für die neuen Werke neben den ausgewählten Höhepunkten
der Avantgarde zu bestehen. Einige wenige setzten sich dennoch im
Gedächtnis fest. Allen voran der von der Jury der AG der Filmjournalisten
ausgewählte Preisträger des diesjährigen Festivals: Klaus Telscher
und seine auf 16mm gedrehte Reflektion "La Reprise".
von
Markus Zinsmaier
Als der Vicomte
de Noailles Man Ray 1928 den Vorschlag machte einen Spielfilm zu
drehen und dafür sein "kubistisches Schloß", eine hypermoderne
Villa in Südfrankreich, zur Verfügung stellte, war der Kinematograph
gerade mal 33 Jahre alt. Der Tonfilm, als die neuste Errungenschaft,
begann das Stummfilmzeitalter abzulösen. Man Ray verwehrte sich
dieser "modischen Strömung", da sie ihm nicht behagte
und schuf, ganz im Stil der ersten französischen Avantgarde, "Les
Mystères du Château des Dés", eine Auftragsarbeit, die ursprünglich
eine rein private Angelegenheit hätte werden sollen. "Ein Würfelwurf
niemals auslöschen wird den Zufall", heißt es bei Mallarmé,
und dies ist der Ausgangspunkt des Films. Zwei Männer, namenlos,
warm angezogen, sitzen an einem Wintertag in Paris in einer Bar.
Ihre Gesichter sind unkenntlich hinter Strümpfen versteckt. Sie
würfeln, um eine Entscheidung über Aufbruch oder Verweilen herbeizuführen.
Die Würfel entscheiden für Aufbruch. Es folgt eine in halb verwackelten
Einstellungen als subjektive Kamerafahrt aufgenommene Autofahrt
in den Süden. "Zwei Reisende, die suchen", heißt es im
Zwischentitel. Ziel: das "kubistische Schloß". Dokumentarische
Sequenzen, Innen- und Außenansichten des Châteaus, Schwenks über
die Außenfassade des Gebäudes und Aufnahmen des Interieurs wechseln
schließlich mit kurzen gespielten Szenen: maskierte Gestalten in
schwarzen Badeanzügen erscheinen, vollziehen merkwürdige gymnastische
Übungen. Man macht ein Schwimmbad aus, eine Frau löst sich aus der
Menge, man sieht ihre Haare aufgefächert im Wasser treiben. "Piscinèma",
heißt es im Zwischentitel. Über allem schwebt der Hauch des Unnahbaren,
des Unwirklichen, des Flüchtigen. Wie der Hauch von Erinnerungen,
wie Gedanken, die auf der Suche nach der Vergangenheit sind, lösen
sich die Bilder von der Geschichte - wenn es denn eine gibt - sind
Dokument, filmisches Experiment und Moment festgehaltener, fühlbahrer
Erinnerung.
Klaus Telscher
(Jahrgang ’55), nimmt dies, die Suche nach einer verlorenen Zeit,
einer verlorenen Liebe als Ausgangspunkt seiner Reflektion "La
Reprise". Zusammen mit Text- und Tonzitaten aus "Le Mepris"
entsteht daraus ein vielschichtiges poetisches Werk, das seine Kraft
einerseits aus dem gefundenen (Film-) Material schöpft und als Remake
gespickt mit (Film-) Zitaten funktioniert, andererseits, durch die
zeitliche Distanz, in einen neuen, "leeren" Raum vordringt.
Die Jahre sind nicht spurlos an der teilweise zur Ruine verfallenen
"Villa Noailles" vorbeigezogen, als der Photograph in
Telschers Film, 65 Jahre nach den seltsamen Ereignissen, die den
Rahmen von Rays Film bildeten, in das Château eindringt. Es ist
eine Suche der Schatten. Aus den Reisenden ist ein Reisender geworden.
Auch er muß sich erst im Gewirr der Vergangenheit zurechtfinden,
als er plötzlich mit menschlichem Leben in der Villa konfrontiert
wird. Und es taucht die Frage auf: "Existent- ils...fantômes
des actions passées?" (Gibt es sie wirklich, Gespenster vergangener
Handlungen?). Realität und Fiktion, Vergangenheit und Gegenwart
beginnen sich zu vermischen. Der Photograph muß erkennen, daß auch
er seine Vergangenheit, nicht von der der Umgebung trennen kann.
"Tu cherches des morceaux d’hier"("Du suchst nach
Bruchstücken von gestern"), heißt es in einem wunderschönen
Chanson in der Mitte des Filmes und kurz darauf:"Ich werde
die Augen geschlossen haben, wenn Du verschwunden sein wirst".
"La Reprise" ist auch ein Film über den Verlust, die Verlassenheit,
über die erlebten und verlorenen Momente und Sekunden. Die Architektur
des Schlosses, das Spiel von Licht und Schatten korrespondieren
mit diesem Zustand. "Licht und Schatten, die Geheimnisse der
Malerei", heißt es bei Godard. Es ist das Kunststück des Filmes,
abstrakt und sehr persönlich zugleich zu sein, über Architektur
und Malerei zu sprechen, sich den Formen des Gebäudes zu nähern
und gleichzeitig eine sehr persönliche Geschichte zu erzählen. Zeit,
Augen-Blicke spielen hierbei eine besondere Rolle: eine Hand, ein
Lächeln, ein Zucken mit der Wimper sind Abdrücke dieser verlorenen
Momente im Gedächtnis. Der Photograph wird beginnen Realität und
Fiktion, Vergangenheit und Gegenwart nicht mehr voneinander trennen
zu können. Er wird mit Rimbaud sagen "Ich selbst war ein anderer"
und die Einsamkeit, ist jetzt über mein ganzes Gesicht geschrieben...
Wenn Telscher,
am Ende des Filmes angelangt, den Nachspann laut verliest, wie es
Godard in "Le Mepris" mit dem Vorspann getan hatte, so
ist ihm eine Hommage an das französische Kino von den Anfangstagen
bis zur Nouvelle Vogue, von Man Ray, Dulac bis Godard geglückt.
Klaus Telschers
"La Reprise" war der schönste Film des Festivals. Getragen
von einer Melancholie, einer Schlichtheit, einer Poesie, wie man
sie schon lange nicht mehr über die Leinwand huschen sah. Mehr noch
als in "My Mona" (1991) und als in "Nachsommer"
(1987) ist es in "La Reprise" die formale Strenge, die
den Film zum ausgereiftesten aber auch kommerziellsten Werk Klaus
Telschers werden läßt.
Wüste, innerlich
und äußerlich, ist das Thema von Bill Violas meisterlich komponiertem
Video "Déserts". Viola gelingt es ausgehend von Edgar
Varèses gleichnamiger Komposition Bilder der Leere und Einsamkeit,
der Verwüstungen in den Menschen einzufangen. Trostlose Unterwasserlandschaften
wechseln mit brenndenden Ölquellen. Ein Mann sitzt an einem Tisch.
Ein Wasserglas zerspringt auf dem Boden. Viola folgt einem gedanklichen
Fluß, seine Bilder des Außen sind gleichzeitig Bilder des Innen.
Gefühle, innere Regungen werden anschaulich. Es ist ein "view
(Blick) solely from within", wie Viola selbst hinzufügt, der
auf ganz abstrakte Weise ein Gefühl transponiert.
Ein Schauspieler
und ein Satz sind das Gerüst aus dem Holger Mader, Student der Hochschule
für Gestaltung in Karlsruhe, sein Video "Ich suche nichts,
ich bin hier" entwickelt. Der Blick in die Kamera und die gesteigerte
Intensität eines Satzes, der gleichzeitig, der Titel des Filmes
ist, von Chun-Chi Lin mit starkem Akzent vorgetragen, vermögen zu
fesseln und bleiben haften.
Einer der Publikumslieblinge
’92 war das Video "Das Zauberglas" von Björn Melhus. Bereits
dort ging es um Kommunikation - eine Kommunikationsform der Zukunft.
Die Medien, der Fernsehapparat werden zum Gesprächspartner, zum
Liebesersatz. Kommunikation ist nur noch in einer Scheinwelt möglich.
Formal wesentlich ausgereifter, thematisch jedoch ähnlich gelagert,
ist Melhus neustes Werk "Weit Weit Weg", ein experimenteller
Kurzspielfilm, der aus dem "Wizard of Oz" schöpft und
mit Hilfe eines gelben Funktelefons, eine Stimme auf die Reise in
den Äther schickt.
Daten zu vielen
hier erwähnten Personen und Filmen gibt es in der Internet
Movie Database.
Mehr Informationen zum Thema Film auf der Film-
und Kino-Seite |