Nr. 3 / November 1995

















Gästebuch


Londoners are not Clevelanders

David Thomas von Pere Ubu über Abschiedskonzerte, Multimedia und Bilder im Kopf

Seit zwanzig Jahren spielen Pere Ubu zusammen. Die Gruppe löste sich immer wieder auf - und fand immer wieder zusammen. Und obwohl David Thomas nun schon seit zehn Jahren in London lebt, musiziert der Sänger, Texter und Kopf von Pere Ubu immer nur mit Bekannten aus seiner Heimatstadt Cleveland in Ohio, USA. Was steckt hinter all diesen Gewohnheiten?

Von Harald Fette

"Unsere erste Platte" erinnert sich David Thomas, "war als Abschied gedacht. ’30 Seconds over Tokio’ (Single, d.V.) war eine Farewell-Platte. Denn in Cleveland waren alle Bands auseinandergebrochen und ich trommelte die führenden Köpfe dieser Gruppen zusammen, um die Aufnahme zu machen." Das war im September 1975 - Pere Ubu waren gegründet. Und im Laufe ihrer zwanzigjährigen Bandgeschichte haben sie sich mehrere Male aufgelöst, eine Farewell-Platte veröffentlicht und einige Zeit später wieder zusammengefunden. Der Bandname Pere Ubu bezieht sich auf die Figur König Ubu des surrealistischen Schriftstellers Alfred Jarry. Den Namen wählten sie, weil er "gut aussieht, gut klingt und nichts bedeutet".

In diesem Prozeß wechselt natürlich auch die Besetzung. Immer mit von der Partie ist David Thomas. An Baß und Gitarre steht zunächst Tim Wright, der später zu Devo wechselt. Nachdem der Gitarrist der ersten Stunde, Peter Laughner 1976 stirbt, tritt Tom Hermann an seine Stelle - der allerdings selbst eine Solo-Karriere beginnt und durch Mayo Thompson von der Band Red Krayola ersetzt wird. Schlagzeuger Scott Kraus, der auf der neuen Platte auch wieder auf vier Stücken zu hören ist, Bassist Tony Maimone, der inzwischen mit den Mekons spielt, und Keyboarder Allen Ravenstine gehören zu den beständigeren Bandmitgliedern. Mit Gastmusikern wie Chris Cutler gibt es aber auch Überschneidungen in der Besetzung von Pere Ubu zur Londoner Avantgarde-Szene.

Auf der aktuellen Scheibe "Ray gun suitcase" sind hingegen wieder neue Namen zu finden: Michele Temple, Robert Wheeler, Scott Benedict, Jim Jones. Letzterer war schon auf früheren Alben zu hören, wird aber bei der bevorstehenden Tour wegen Krankheit zu Hause bleiben. Für ihn steht dann noch einmal Tom Hermann von der Ur-Besetzung auf der Bühne. Warum David Thomas immer wieder nach Cleveland reist und dort auch die Musiker für Pere Ubu rekrutiert? "Wir stammen alle aus derselben Gemeinde", sagt Thomas. "Wir gehören zu einer bestimmten sozialen Gruppe, daher sehen wir die gleichen Dinge und wir verstehen die gleichen Dinge. Wenn ich mit denen darüber rede, was hinter dem Laternenpfahl an der Carnegie-Brücke zu sehen ist, dann sehen und fühlen die dieselben Dinge wie ich. Sie haben dasselbe Wissen, wir haben denselben Wortschatz - und das ist meiner Meinung nach gut. Ich möchte aus der Musik ein ganz bestimmtes, geographisch-soziales Erlebnis bekommen. Und Londoner sind nun mal keine Clevelander."

Aus Cleveland zurückkehrende Touristen behalten die Stadt nicht sonderlich in Erinnerung. Die Stadt gilt als langweilig, womit sie mit Stuttgart vergleichbar wäre. Aber manche Bewohner Clevelands zumindest sind eigenartige Persönlichkeiten. Als sich Pere Ubu beispielsweise im Jahre 1983 einmal auflösen, bleiben die Musiker in Folgeprojekten dennoch miteinander verbunden. The Red Crayola oder Thomas’ Bands die Woodenbirds oder die Pedestrians beispielsweise sind durchaus mit Pere Ubu vergleichbar. Allerdings benötigten sie drei Jahre, um diesen Tatbestand zu akzeptieren. David Thomas erinnert sich: "Wir hatten keine Ideen mehr und Pere Ubu übten nicht mehr, wir trafen uns nicht mehr, die Leute fingen untereinander an zu streiten. Also verkündeten wir, Pere Ubu habe sich aufgelöst." Bis drei Jahre später die Cleveland-Gang feststellt, daß sie doch weiterhin miteinander musizieren und unter anderem Bandnamen Platten einspielen. Also erscheint 1987 die LP "The Tenement Year" wieder von Pere Ubu, obwohl man zuvor als "Woodenbirds" ins Studio gegangen ist. Zumal die Clevelander feststellen: "Es war einfacher, miteinander zu arbeiten als mit anderen Leuten. Schließlich fanden wir uns damit ab, wieder in alter Formation zu spielen und nannten uns folglich Pere Ubu."

So bescheren uns Pere Ubu seit zwanzig Jahren wundersame Alben und phänomenale Live- Auftritte. Wobei die Beschreibung ihrer Musik immer wieder verwirrt. Wegen ihrer skurrilen Art, der quengelnden und nasalen Stimme von David Thomas, wegen personeller Überschneidungen zur Londoner Avantgarde-Jazz-Szene werden Pere Ubu oft mit Etiketten wie Artrock oder Avantgarde-Rock belegt. David Thomas wehrt sich schon seit Jahren gegen diese Klassifizierung. Er sieht sich als Rockmusiker, referiert auch gern über Folk oder übt sich in Wortspielereien wie "Avant Garage". Jedenfalls unternimmt Thomas alles, um sein Publikum aus den Träumen vom "genialen Musiker" zu reißen.

So steht auf dem neuesten CD-Cover eigens eine kleine Anrede, derzufolge die Texte der Songs nicht allzu ernst genommen werden sollen: "1982 haben wir einmal Texte auf dem Cover des Albums ’Song of the bailing man’ abgedruckt, weil uns nichts besseres eingefallen ist. Als dann CDs erschienen, mußte man diese Booklets irgendwie füllen. Wir ließen uns von all dem verwirren. Wir trabten mit der Herde mit. Aber nicht mehr. Texte abzudrucken ist schlecht." Dabei sind die assoziativen, fragmentarischen Texte des David Thomas voller Witz und Charme. Aber wahrscheinlich verstehen halt nur Clevelander dessen Wortspielereien.

Originalton David Thomas über Underground: Wav 560 KB

Offenbar sehen Clevelander nicht gerne Videos. Zwar gibt es auch von Pere Ubu recht lustige Streifen - etwa den einen mit Kindern, die in Käfer-Kostümen stecken. Aber David Thomas meint auf die Frage, ob ihm surrealistische Videos oder Bühnenauftritte wichtig seien: "Ich weiß nicht, ich mag keine Videos. Wir haben nur Videos gedreht, weil die Plattenfirmen das von uns verlangten. Die haben auch soviel Geld dafür bezahlt, daß wir jedesmal zusagten. Aber in Wirklichkeit hat Musik nichts mit Bildern zu tun, Musik steht über den Worten, über der Optik, Musik funktioniert auf einer tiefergehenden, poetischen Ebene."


David Thomas

Thomas wappnet sich bereits für die nächste Form der Vermischung von Musik mit visuellen Elementen. Er beschäftigt sich mit Computern, arbeitet an einer Mixed-Mode-CD, freilich ohne allzu enthusiastisch an die Sache heranzugehen: "Diese Art der Veröffentlichung von Musik, eben in Zusammenhang mit einem multimedialen Track, wird bald zum Standard. Und ich möchte es lernen, damit ich die Werkzeuge selbst beherrsche und die Arbeit nicht anderen überlassen muß. Ich möchte die Technik selbst beherrschen, sobald es für Veröffentlichungen nötig wird, weil ich es dann besser kann. Allerdings interessiert mich weniger die Vermischung von Bild und Musik. Ich suche nach Möglichkeiten, ohne visuelle Elemente auszukommen und stattdessen die Hypertext-Qualitäten des Mediums und die nicht- lineare Struktur zu nutzen."

Originalton David Thomas über die Arbeitsweise: Wav 1,7 MB

Soweit die Zukunftsaussichten der Pere Ubu. Vorerst sind alleine die Songs da, die die Musiker zusammengezimmert haben. Die Titel entstehen, erzählt David Thomas, wie in einem Puzzle. Jeder bringe zu den Sessions etwas ein, so daß ein Schatz an Ideen und musikalischen Zitaten entsteht. Die Sammlung werde wieder geplündert, wenn die Einzelelemente zu Songs verarbeitet werden. Oft sind die Songs dann fix und fertig aufgenommen, bevor Thomas die Texte dazu schreibt.

In einem früheren Interview erklärte mir David Thomas: "Sätze die mit ’Baby, baby, baby’ beginnen, sind mir noch nie in den Sinn gekommen. So denken Menschen nicht. Die meisten Menschen denken in vorbeiflimmernden Bildern und Gefühlen. Wer etwa mitteilen möchte, was er denkt oder fühlt, der arbeitet eher impressionistisch. Wir möchten mit Pere Ubu ein Kino der Phantasie schaffen."

Originalton David Thomas: Wav 690 KB

Und wie lange noch? Das aktuelle Album "Ray gun suitcase" ist die vierte LP, die Pere Ubu als Abschiedsplatte aufgenommen haben. "Wir hatten die Schnauze voll von der geschäftlichen Seite des Musikmachens, von Plattenfirmen, wir hatten die Schnauze wirklich gestrichen voll. So sagten wir uns: Ok, das war’s, wir haben genug. Sobald wir unseren Rücktritt aber für uns selber akzeptiert hatten, fühlten wir uns so frei und gelöst, die Plattenaufnahme bereitete uns soviel Freude, daß wir dachten: na gut, wir machen noch einige Zeit weiter. Jetzt ist unser Ziel, 25 Jahre zusammenzubleiben. Danach lösen wir uns auf, ich verspreche es."

Discographie

Die frühen Aufnahmen finden sich auf den beiden Samplern:
Datapanic in the year zero, Radar 1976
Terminal Tower, Rough Trade 1985

LPs:

The modern dance, Mercury 1977
Dub housing, Chrysalis 1978
New picnic time, Chrysalis 1979
The art of walking, Rough Trade 1980
390 degrees of simulated stereo ubu live, Rough Trade 1981
Song of the bailing man, Rough Trade 1982
The tenement year, Fontana/Phonogram 1988
Cloudland, Fontana/Phonogram 1989
Worlds in colllision, Fontana/Phonogram 1991
Story of my life, Fontana/Phonogram 1993
Ray gun suitcase, Cooking Vinyl/IRS 1995

Letzte Änderungen: 28.12.2001
Produziert von
Peter Pötsch