Nr. 4 / April 1996

















Gästebuch


Die Halluzinationen des Herrn Bézian

Es ist eine Binsenweisheit, daß ein Comic-Zeichner oft seinen Figuren ähnelt. Daß er aber in seiner Comic-Welt zu leben scheint, ist doch eher ungewöhnlich. Für Bézian, begnadeter Erzähler von dekadenten Schauergeschichten der letzten Jahrhundertwende, ist das normal: Er lebt in einem Schloß in Südfrankreich, umgeben vom Mobiliar des Fin de Siècle. Christian Gasser reiste durch Raum und Zeit und tauchte ein in Bézians zeitlose Gegenwart.

Von Christian Gasser

Die karge Landschaft verliert sich in Wellen am Horizont. Da zerschnitten von einem knorrigen Pinienhain, dort unterbrochen von der Fassade des stolzen Landsitzes der Dynastie Malherbe. Der Friedhof, ganz in der Nähe, döst in der Hitze. Wie vergessen ragen die Grabsteine aus dem verdorrten Unkraut empor. Es ist still, nur die Grillen kratzen aufdringlich, helle Wolken skizzieren bizarre Zeichen in den Himmel, und das starke Licht des französischen Südens flutet durch die Bilder.

In der Schloßwohnung haust der Geist des Fin-de- Siècle. - Die altersschwachen Sessel sind mit rotem Samt überzogen, auf dem Kaminsims stehen Frauenbüsten aus Gips, und vor den geblümten Tapeten hängen matte Spiegel. Neben dem Zeichentisch stapeln sich Platten von den Virgin Prunes und Debussy über Wagner-Opern und Joy-Division-Klagen. Die rote Zeitanzeige des Radioweckers hinkt um mehrere Stunden der wirklichen Zeit nach - ein nächtliches Gewitter hatte den Strom unterbrochen - und fast hätte Frédéric Bézian deshalb unsere Verabredung verschlafen: Weder Zug noch Bus halten in der Nähe - er mußte mich mit dem Auto in Revel, eine gute Busstunde von Toulouse und 20 Autominuten vom Schloß entfernt, abholen.

Die Zeitlosigkeit extremer Emotionen

Wo Bézian aufwuchs und lebt, dort zeichnet er, und was er sieht und womit er sich umgibt, das liefert ihm die Kulisse für seine Bildergeschichten. Er selber, lang, dunkel gewandet, wird oft mit seinen Figuren verglichen. "Das ist nicht gewollt", meint er trocken auflachend, "das vermischt sich ganz natürlich. Jeder von uns ist eine Figur, und die drängt es beim Zeichnen aufs Papier. Auch liebe ich es, mich mit einer Welt zu umgeben, die mich zum Träumen einlädt."

Frédéric Bézian

Diese Welt ist die Jahrhundertwende, die Bézians Geschichten, seelenverwandt mit denen von Poe, Kafka, Baudelaire, Lovecraft und David Lynch, immer hart an Wahnsinn und Tod, immer besessen, morbid und makaber, hartnäckig umkreisen. So schließt sich in "Fin de Siècle" (1983) ein junger Aristokrat aus Liebe zum Bild einer längst gestorbenen Frau in seine Wohnung ein und flüchtet, betäubt von Emotionen, Musik und Drogen, in die Vergangenheit. "Würde ich an die Reinkarnation glauben, könnte ich mir gut vorstellen, um 1890 gelebt zu haben, aber," Bézian schüttelt den Kopf, "ich glaube nicht daran. Es handelt sich bei mir nicht um eine Flucht vor der Gegenwart - ich versuche im Gegenteil, die zeitlose Modernität extremer Emotionen herauszuarbeiten." Und auch wenn Bézian 1986 in "Totentanz", inspiriert von der "Fachliteratur" der Jahrhundertwende, in schroffem Schwarz-Weiss paranormale und spiritistische Phänomene auslotete, nahm er selber erst ein einziges Mal an einer spiritistischen Séance teil. "Daß das Glas auf dem Tisch sich zu drehen begann, hat mich aber, das gebe ich zu, wirklich entzückt. Die stimmungsvolle gotische Symbolsprache verwende ich jedoch in erster Linie, um psychische Spannungen zum Ausdruck zu bringen."

Eine Familienchronik des Zerfalls

Als Bézian merkte, daß "gewisse Themen systematisch wiederkehrten, ohne daß ich sie meisterte", verdichtete er seine obsessive Faszination für das Fin de Siècle, für Dekadenz, Paranormales und Satanisches zu einer Trilogie in Farbe, die er 1989 mit "Adam Sarlech" begann, 1991 mit "Das Verborgene Brautgemach" weiterführte und 1993 mit dem soeben ins Deutsche übertragenen "Das Testament unter dem Schnee" abschloß: Eine Auseinandersetzung mit den, wie er nicht ohne Ironie feststellt, "erzpostromantischen Themen Zeit, Liebe und Tod".

Bézian: "Das Testament unter dem Schnee"

Im ersten Band schilderte er in seinem nervösen, eindringlichen Stil den Fall des Hauses Malherbe. Die einst stolze Familie wird, 25 Jahre nachdem ihr jüngster Spross Charles mit dem berühmten Medium Adam Sarlech davonzog, um später stumm und gelähmt zurückzukehren, von der unbewältigten Vergangenheit heimgesucht. - Diesen Zerfall verwebt Bézian mit Geisterbeschwörungen, Todessehnsucht, Inzest und Wahnvorstellungen zu einem pathetischen Comic-Drama der exaltierten Gefühlsausbrüche und hysterischen Schuldzuweisungen.

Schuldgefühle und Schizophrenie

"Wo ich wohne", sinniert Bézian, "stehen die Häuser einsam in der Landschaft und haben eine sonnige Südfassade und eine düstere, feuchte Nordfassade. So haben auch meine Figuren zwei Gesichter, die sie nicht im Griff haben." Insbesondere gilt das für Robert Daun alias Raoul Malherbe, die Hauptfigur des zweiten, der verbotenen Liebe geweihten Bandes "Das Verborgene Brautgemacht", der, im Gegensatz zum personenreichen "Adam Sarlech", ein die drei Einheiten (Ort, Zeit, Handlung) des klassischen französischen Theaters respektierendes Vier-Personen-Stück ist. Gegen außen zumindest. Denn innen - und das interessiert Bézian - reißt sich in Daun, der angeblich um in Ruhe zu arbeiten den Landsitz eines Grafen aufsucht, ein Abgrund der Schizophrenie und der Schuldgefühle auf, der - genährt von religiöser Besessenheit, sinnlichen Gelüsten, Satans Versuchungen und verschärft von Ätherräuschen - ihn tief und tiefer in die Spalten seiner Persönlichkeit zerrt. Am Schluß fällt Daun, an seinen Widersprüchen und Selbstverleugnungen zerschellt, tot vor die Nordfassade des Landsitzes - in welchem, müssen wir plötzlich erkennen, er ganz allein weilte...

Mit seinem halluzinierten Strich furcht Bézian nicht nur die verstörten Blicke und ausgezehrten Fratzen der dekadenten Landaristokratie ins Papier, sondern hypnotisiert auch uns Leser. Die Farben tragen das ihre dazu bei, uns in Dauns erschreckende Seelenwanderung zu saugen: "Die Außenszenen habe ich in matten Tönen gehalten", erklärt Bézian vor dem Zeichentisch, "die Innenszenen dafür in tiefes Rot getaucht, weil da die Emotionen aufeinanderstoßen". Rhythmisiert wird der Handlungsfluß vom stroboskopartig aufflackernden Schwarzweiss der Ätherrausch-Wahrnehmung, "die auch die räumliche Perspektive völlig verzerrt." Verbunden mit der ungewöhnlichen, aber strengen Seitenaufteilung kolorieren die Farben die Geschichte nicht nur, sondern verstärken Ausdruck und Spannung in einer Komposition, die ihresgleichen sucht.

Letzter Wille mit teuflischen Absichten

Mit "Das Testament unter dem Schnee" ist der Abschluß dieser Trilogie erschienen, die für Bézian "weder Familiensaga ist, noch die Erlebnisse ein und desselben Protagonisten. Meine Absicht war, ein mir eigenes Spinnennetz der Beziehungen und Bezüge zu schaffen und die drei Geschichten mit subtilen Parallelen und Überschneidungen auf allen Ebenen zu verknüpfen." Im Mittelpunkt steht der bisher nur am Rand aufgetauchte Doktor Spitzner und nach der Zeit und der Liebe ist der Tod das Thema: Ein alter Professor ruft seine drei Meisterschüler, darunter Doktor Spitzner, an sein Todesbett und schickt sie auf die Suche nach seiner Frau Emma, die er 30 Jahre zuvor verstoßen hat, weil sie ihn mit einem der drei Studenten betrogen habe. Dieser an sich romantische letzte Wille verbirgt allerdings teuflische Absichten - doch das merken die drei Herren erst, als die Kutsche sie zu den Stätten ihres eigenen Versagens in Liebe und Leben führt und ihre Reise zu einem Alptraum der Rache, nicht zuletzt an Emma, mutiert....

Bibliographie: "Adam Sarlech" (Carlsen Lux), "Das Verborgene Brautgemach", "Das Testament unter dem Schnee" (Feest Focus, französisch alle: Humanoides Associés); "La Danse des Morts" (Neuauflage in 2 Bänden, Editions Point Image), "Fin de Siècle" (Magic Strip)

Letzte Änderungen: 28.12.2001
Produziert von
Peter Pötsch