Plattenrezensionen
April 1996
Tip:
Homepages von Bands, Musikerinnen und Musikern aller Stilrichtungen
findet ihr in der Jukebox
Combustible
Edison
Schizophonic
[Bungalow/Rough Trade]
[tb] Sie sind
mitverantwortlich für das neuerliche Easy-Listening-Revival, gab
doch ihr grandioses Debütalbum "I, Swinger", 1994 den
Startschuß für viele neue Projekte zwischen dezenten Fahrstuhlsounds,
Barjazz und Filmmusiken. Mit dem nun endlich erschienen Nachfolger
entführen Bandleader Michael Cudahy, besser bekannt als "The
Millionaire", und seine charmante Sängerin Miss Lily Banquette
wieder in die bunte Welt beschwingter Sounds, farbenprächtiger Cocktails
und bizarrer Klanggebilde. Hier ein Vibraphon, dort eine Hammondorgel,
da eine Melodica, dort ein Spinett. "Checkered Flag" swingt,
"Bluebeard" hat den Latin-Touch, "Solid State"
pendelt zwischen Latin und Weltraumsounds und "Object d`amour"
kommt orientalisch daher. Alles allerdings feinst arrangiert und
dezent gespielt. Beim Stück "52" verbreitet Miss Lilly
gar noch stimmige Lebensweisheiten: "Too much luck is bad luck".
Im Mai kommen Combustible Edison übrigens (endlich!) erstmalig auf
Deutschland-Tournee. Im nächsten LEESON werden wir uns ausführlicher
mit Herrn Millionaire und anderen Easy-Listening-Größen auseinandersetzen.
Tocotronic
Wir kommen um uns zu beschweren
[L’age d’or/Motor music]
[mz] Kaum ist
das tolle Mini-Album "Nach der verlorenen Zeit" verdaut,
schon gibt es wieder Nachschub von der derzeit besten deutschsprachigen
Band. Was Tocotronic den meisten anderen deutschen Bands und der
gesamten Diskurs-Pop-Elite voraus hat, ist, daß bei ihnen zum ersten
Mal seit langer, langer Zeit Musik und der deutschsprachige Text
eine Einheit bilden. Ihre Stücke sind von einer einfachen Schönheit,
oder von einer schönen Einfachheit. "Wir kommen um uns zu beschweren",
das dritte Bravourstück der Freiburg-Hamburg-Connection, steht den
großartigen beiden vorangegangenen Alben in nichts nach. Balladeskes
("Ich möchte irgendetwas für Dich sein") wechselt mit
Schrammelsound ("Ich hab’ geträumt, ich wäre Pizza essen mit
Mark E. Smith") und irgendwo dazwischen finden sich die von
Schlagzeuger Arne Zank solo eingespielten Unartigkeiten. Der diesesmal
mit "Ich mache meinen Frieden mit Euch"("Halloo Vollidiot/Halloo
Vollidiot/Ich mache meinen Frieden mit Euch/Halloo Arschloch/Halloo..")
einen kleinen Underground-Hit für all die unsäglichen Gestalten
dieser Erde beigesteuert hat. Danke!
FSK
International
[Sub Up/EfA]
Diverse
Slow Music - Texas Bohemia II
[Trikont/Indigo]
[tb] Platte
des Monats, ohne Zweifel! Nachdem jüngst erst das (empfehlenswerte!)
Album der Münchner "FSK bei Alfred" (siehe LEESON 2),
erschienen ist, das die Frühzeit dieser wichtigen deutschen Band
dokumentiert, nun endlich das lang erwartete neueste Werk. Ein Masterpiece
wie schon "Son of Kraut" und "Sound Of Music".
Eingespielt wieder zusammen mit dem amerikanischen "Brother-in-Mind"
David Lowery (einst Kopf der Camper van Beethoven, nun erfolgreich
als "Rocker" mit Cracker zugange). Wie auf den Vorgängeralben
graben sich Michael Melian, Thomas Meinecke, Justin Hoffmann, Wilfried
Petzi und Carl Oesterhelt auch hier durch den Urgrund zwischen bajuwarischer
Folklore, Country, TexMex und Rock. Das alles verpackt in ein eindeutiges
Pop-Konzept mit Querverweisen zwischen Politik und Musik. Diskurs-Pop
im besten Sinne, in gewißer Weise sogar die Old-School des derzeit
in Hamburg stattfindenen Diskurs-Pops von Blumfeld, Cpt. Kirk &
und anderen.
BesucherInnen
der Livekonzerte kennen manche Titel schon. Etwa "Das schlechteste
Land der Welt" oder die "Karl-Eduard-von-Schnitzler Polka".
Und natürlich die beiden Gender-Songs: alte Hits wie "She acts
like a woman should" (Mariyln Monroe) und "To The Other
Woman" (J.C.Riley) die hier eben nicht von Frauen sondern Männern
(Meinecke respektive Petzi) gesungen werden. Dazu Songs in Zydeco-Manier
("Jane Fonda Lied"), Residents-artige Instrumentals, tpyische
FSK-Polkas sowie eine Hommage an die (wieder auferstandenen) Münchner
Krautrocker Amon Düül II mit Velvet-Underground-Touch. Ein Novum
dürfte auch die -naja - "Dance-Version" des Cracker-Stückes
"Euro-Trash Girl" sein.
Als Musikarchäologe
hat sich FSK Thomas Meinecke auf "Texas Bohemia II" wieder
einmal aufgemacht und Obskuritäten aus den deutsch-böhmisch-mährischen
Gemeinden in Texas mitgebracht. Nachdem Vol. 1 von 1994 schon für
Exzesse unter Rockfans gesorgt haben sollte, bringt Teil 2 nun "Slow
Music" aus der Region bzw. den Regionen um San Antonio, Austin
und Houston. Dort, wo die lokalen Tanzkapellen auf Namen wie "Adolph
Hofner And His Pearl Wranglers" oder "Jimmy Brosch And
His Happy Country Boys" hören. Ziemlich weirder Stuff zwischen
Polka, Schlager, Country, Western Swing und anderem. Ob wir nun
Elvis in der Bauern-Swing-Version oder eine Adaption von Merle Haggards
Redneck-Epos "Okie From Muskogee" hören. Highly recommended
für alle aufgeschlossenen HörerInnen und ein großer Spaß für WG-Bewohner
die ihren Lieben einmal wieder etwas gutes tun wollen. Das sollte
jeden Green-Day-Fan zum Heulen bringen!
Kastrierte Philosophen
Where did our love go
[Strange Ways/Indigo]
[hu] Album Nummer
zehn der Kastrierten Philosophen - und es ist ein gutes! Letztes
Jahr auf der Popkomm traten sie beim OnU-Sound-Abend auf. Da hat
sich ihre gegenwärtige Vorliebe für Dub/Reggae in Verbindung mit
der für sie so typischen sphärischen Dichte gezeigt. Inzwischen
haben sich die "Philosophen" aber auch von ihrer Schwermütigkeit
gelöst und spielen derart frisch und locker auf, als hätten sie
sich eben erst gegründet. Als Rezensent kann man in eine Band, die
man über viele Jahre mitverfolgt und für großartig befunden hat,
auch schnell zuviel hineininterpretieren: Aber ich höre da eine
Spielfreude und Leichtigkeit heraus, die zwar dem Trend von Dub
und Easy Listening gleichermaßen gerecht wird, trotzdem als unbekümmert
zeitloses Werk dasteht. "Where did our love go" hat Soul
und spirituelle Kraft.
Um die Philosophen-Köpfe
Katrin Achinger und Mathias Arfmann haben sich diesmal die "Non
Stop People" geschart, die mit dem Reggae-Dub-Projekt Vision
seit Jahren den deutschen Mark auf diesem Gebiet beherrschen. Bernd
von Ostrowski sorgt mit seinem Vibraphon für neue Klangfarben. Bleibt
zu hoffen, daß das Album für Furore sorgen wird.
Tilman Rossmy
Willkommen zuhause
Diverse
Camp Imperial
[L`Age D`Or/Rough Trade]
[tb] Neues von
den Hamburger Goldkehlchen. Neben der neuen Tocotronic (siehe Extra-Kritik)
und Schorsch Kameruns Solowerk (siehe Artikel) zwei weitere bedenkenlos
empfehlenswerte Neuheiten von L´Age D´Or.
Das (gute alte)
Punk-Motto DIY, Do it Yourself - ohne die damalien musikalischen
Vorgaben - schwebt über Camp Imperial, einem Sampler, der gleich
20 Hamburger Produktionen, alle ohne großen Schnickschnack im Imperial-Studio
aufgenommen, vorstellt. Das reicht von einer atemberaubenden Spoken-Word-Performance
vom Hrubesch-Youth-Sänger Kai Damkowski alias Klausner Klang Commando
(klasse!) über Daddel-Techno von Spydaboy und Heim-House von Furarium
bis hin zu Schrammelcore vom Tocotronic-Drummer Arne Zank und Kinderzimmer-Pop
von Teer Gleene Muck. Natürlich fehlen auch Schorsch Kamerun (Goldene
Zitronen), der einstige Huah!-Kopf Knarf Rellöm (im April gemeinsam
mit den Aeronauten auf Tour) und Andreas Dorau nicht. Amüsante Merkwürdigkeiten
sind das karibische "Everybody`s Glad on Trinidad" von
Titanic-Autor Ernst Kahl mit Hardy Krüger sowie die Hardrock-Parodie
"Magnum`s Son" vom Berliner Comiczeichner Phil. Letzteres
ist eine bitterböse Vater-Sohn-Geschichte, wo der Metal-Vater den
Filius gar zwingt, einen Scorpions-Song zu pfeifen (Kindesmißhandlung!).
Glattweg gewonnen
hat Tilman Rossmy, der einstige Kopf der Band "Die Regierung"
(früher Essen, dann Hamburg) mit seinem Solo-Debüt. In seinen schönsten
Momenten hat dieses lässige, von Bernd Begemann produzierte, mit
einer relaxten Band eingespielte, Album den Prefab-Sprout-Touch.
Wie die genialen Briten auf ihrem Meisterwerk "Steve McQueen"
schafft auch Rossmy wunderbarsten Pop mit dem (europäisch transponierten)
Country-Touch. Eleganter Gitarrenpop mit feiner Instrumentierung,
hier mal ein Örgelchen, dort eine feine Dobro, edelst arrangiert.
Mit der herrlich beiläufigen Stimme, die wir schon bei der Regierung
liebten, singt Rossmy vom "Mädchen mit dem Body-Count-T-Shirt",
von "Liebe ist nicht so wie bei den anderen" oder "Ulrike,
eine Lektion mehr in Liebe" mit der schönen Textzeile: "Wir
sitzen in der Dämmerung und hören "Please don`t break my big
gay heart".
Tortoise
Millions now living will never die
[City Slang/EFA]
[hu] Die mittlerweile
zweite, offizielle LP der Chicagoer erinnert an Gepflogenheiten
aus den 70er Jahre: Ein 20 minütiges Stück nimmt die Hälfte der
Produktion ein. Allerdings kommt in "Djet", so der Titel
des erwähnten Stückes, kein Schlagzeugsolo vor. Dafür aber jede
Menge melodiöse Instrumentierung und Gefiepe, das auf differenziert
pulsierende Rhythmen aufsetzt. Tortoise zerlegen Musik in repetitive
Grundmuster, mischen durch und setzen ein neues Gebilde zusammen:
Was diesmal äußerst relaxt und, wie gesagt, sehr melodiös daherkommt.
Die Gruppe entfernt sich dabei etwas vom Dub, der bei der ersten
Produktion noch deutlicher herauszuhören war. Das Album ist aber
noch eingängiger als der Erstling geraten. (Ein Interview und weitere
Hintergrundinfos finden sich in LEESON 1).
The Cakekitchen
The Devil & The Deep Blue Sea
[Raffmond/RTD]
[tb] Auch schon
fast zehn Jahre ist es her, daß neuseeländischer Pop hierzulande
richtig hip war: mit Bands wie den Chills, Sneaky Feelings, Clean,
Bats oder den Verlaines. Im März feiert übrigens "Flying Nun",
das wichtigste Neuseeland-Label 15-jähriges Bestehen! - Etliche
der NZ-Bands können mit ihren obskuren Popsongs auch als Mitinitiatoren
der ganzen Lo-Fi-Geschichte bezeichnet werden - denken wir zum Beispiel
an die Tall Dwarfs. Einer, der auch schon lange mit dabei ist, dessen
Bekanntheitsgrad sich aber leider immer noch (sehr) in Grenzen hält,
ist Graeme Jeffries. Einst bei den "This Kind Of Punishment"
aktiv, werkelt er seit einigen Jahren mit seinem Projekt The Cakekitchen
herum. Gemeinsam mit dem französischen Drummer Jean-Yves Douet gibt
er als Minimal-Duo (Gitarre und Drums) maximal gute Konzerte und
veröffentlicht sehr schöne Platten: Beim kleinen, auf NZ-acts spezialisierten
Landsberger Label "Raffmond". "The Devil & The
Deep Blue Sea" ist das fünfte Cakekitchen-Album und bringt
auch hier wieder diese verschrobene Mischung aus Schrammelcore,
verspielten Pophymnen, effektgeschwängerten Gitarren und gelegentlichen
Lärmexzessen. Zwar ist diesesmal, wie beim letzten Album "Stompin`
Through The Boneyard" kein "Hit" wie "Tell me
why you lie" dabei. Das Ganze ist trotzdem eine höchst erfreuliche
Angelegenheit.
Flowerpornoes
Ich & ich
[Moll/EFA]
[hu] Der Titel
deutet es an: Tom Liwa hat wieder Texte geschrieben, die persönlicher
nicht sein könnten. Neun Stücke, darunter als einzige Coverversion
Van Morrisons "Sweet Thing", haben die Flowerpornoes von
Juli bis Dezember letzten Jahres eingespielt - für Aufnahmen steht
ihnen ein bandeigenes Studio zur Verfügung. Musikalisch haben sich
Liwa & Co. ein bißchen verändert. Denn die Songs sind allesamt
satt durcharrangiert, bei manchen hat man sich gar Bläsersätze geleistet.
Und an Gastmusikern wurde eingespannt, was gerade in der Nähe war.
Wer genau hinhört kann zum Beispiel Chris Cacavas an der Orgel heraushören
("Eng in meinem Leben"). Leander Haussmann, der in der
Musikwelt zwar keinen Namen hat, dafür aber Theaterkundigen als
Intendant des Bochumer Schauspielhauses bekannt sein dürfte, spielt
Mundharmonika ("Respekt") und Krite von den Sharon Stoned
ist an Gitarre und Orgel zu hören. Die Songs haben zwar noch den
rauhen, persönlichen Charakter, für den die Flowerpornoes bekannt
sind, wirken aber geschliffener. Das könnte diesesmal fast als Mischung
aus Schlager und Chanson durchgehen. Am 21. April spielen sie im
"El International" in Zürich, am 18.4. im Münchner "Substanz".
Azalia Snail
Blue Danube
[Normal/Indigo]
[mz] Bei der
"Leeson-Geburtsparty" im Juli vergangenen Jahres im Konstanzer
Kulturladen verstörte die New Yorkerin den Großteil der anwesenden
Hörerschaft, die fluchtartig akustischen Schutz im Vorraum des Konzertsaales
suchte. Wer blieb und sich nicht von den Distortion- und Feedback-Klängen,
die immer wieder von semi-akustischen Low-fi-Einlagen durchbrochen
wurden, abschrecken ließ, erlebte ein spannendes, stellenweise hypnotisierendes
Konzert, in dem die zarte, zerbrechliche Stimme Azalias gegen den
Wall of Noise der Gitarren, der den gesamten Raum vibrieren ließ,
ankämpfte.
"Blue Danube"
ist die light Ausgabe, dieser "Downtown post psychedelic space
music" (New York Press). Ruhiger, zärtlicher ertönen hier die
Gitarren, werden angereichert mit Geige und Trompete, Auto-harp
und Electronics. Azalias verzerrter Gesang fügt sich gleichsam als
Instrument in den Gesamtkontext ein, bestimmt ihn, ohne jemals aufdringlich
zu sein. Nicht alles ist zwingend, vieles aber mehr als nett, findet
seine Bestimmung gerade in dieser charmanten Unaufdringlichkeit
der Stücke. Jemand schrieb einmal sie sei der "weibliche Beck",
genauso gut ließe sich auch Beck als die "männliche Snail"
titulieren.
Cowboy Junkies
Lay it down
[Geffen/BMG]
[sg] Die Cowboy
Junkies haben den Blues immer schon so gespielt, als sei er Kammermusik.
Erinnert sei nur an ihre Session in einer alten Kirche und die ganz
zarte Version von "Sweet Jane". Auch auf ihrer neuen Platte
haben sie sich nicht von ihren Barhockern erhoben. Ganz gemächlich
spielen sie, ganz vorsichtig ist Margo Timmins Gesang, ganz sehnsüchtig
und zerbrechlich die Atmosphäre: "She says, I`m getting that
lonely feeling, you know what I mean?"
Auch die Aufnahme
ist wieder so direkt gehalten, daß selbst die leisen Klänge des
über die Snare streichelnden Besens so unglaublich nahe erscheint.
Unweigerlich läuft dazu vor meinen Augen ein grobkörniger Streifen
ab, der nichts als eine endlos lange Fahrt durch unendliche Weiten
zeigt, Träume von einer leeren, verrauchten Bar.....
Guru Guru/Uli
Trepte
dito.
Ax Genrich
Wave Cut
[beide ATM Records]
[nf] So langsam
bahnt sich eine veritable Krautrock-Renaissance an: Nachdem die
unbestrittenen Könige der teutonischen Rockmusik der frühen 70er,
Lothar Meids und Renate Knaups Amon Düül II, vor einem runden halben
Jahr ihr Comeback feierten, gibt es nun auch neues Futter für alle
Guru-Guru-Fans: Eine neue Platte von Ax Genrich, dem ehemaligen
Bassisten und zweiten Sänger dieser mindestens ebenso legendären
Truppe, und eine CD mit bisher unveröffentlichten Live-Aufnahmen
von 1972 - gekoppelt mit einigen (bisher unveröffentlichten) Solostücken
von Uli Trepte, dem Dritten im Guru Guru-Bunde. Was Genrichs, Treptes
und Mani Neumaiers Band seinerzeit so faszinierend machte, ist aus
diesen "Lost Tapes" unschwer herauszuhören: Ultralange,
dynamisch-federnde Kollektivimprovisationen im Stile der Jefferson
Airplane oder der damaligen Grateful Dead (aber ungleich härter),
psychedelische Gitarrenexzesse, hart an der Grenze zur Trip-Musik:
"Der LSD-Marsch" heißt denn auch folgerichtig einer der
beiden 72er Live-Tracks (Spieldauer: 23:50 Minuten!). Das mit 18:22
Minuten nur unwesentlich kürzere zweite Stück "Bo Diddley"
würde dem so Geehrten sicherlich schlaflose Nächte bereiten - fände
er je einmal die Gelegenheit, es zu hören. Mit klirrenden und sirrenden,
dem Stil eines Jimi Hendrix nicht unähnlichen, Gitarrensoli spielt
sich hier Ax Genrich unüberhörbar in den Vordergrund und degradiert
seine Mitmusiker fast zu Statisten - ein Ohrenschmaus für alle,
denen ein Instrumentalsolo gar nicht lange genug dauern kann (diejenigen,
die im Plattenschrank beispielsweise Mountains Album "Twin
Peaks" mit der über dreißigminütigen(!) Version von "Nantucket
Sleighride" stehen haben). Wesentlich unspektakulärer sind
dagegen die in recht privatem Rahmen entstandenen Solo-Tracks von
Uli Trepte: Schöne, fließende, typisch "progressive" Rockmusik
der damaligen Zeit, ebenfalls mit sehr langen Gitarrensoli (von
Roman Bunka) und herrlich "teutonisch" klingenden, englisch
gesungenen Vocals (meist von Trepte selber). Hört sich exakt so
an, als wär´s grad gestern 73 geworden...
Und Ax Genrich
heute? Kann immer noch verdammt flüssig Gitarre spielen, der Mann.
Produziert hat das Werk Tom Redecker von "The Perc meets the
Hidden Gentleman", deren Verdienste um die Rehabilitierung
des Kraut-Rock gar nicht hoch genug einzuschätzen sind. "Come
back " geht sehr energisch zur Sache, von den Vocals einmal
abgesehen, die sind...nun ja, sagen wir mal, jenseits von Gut und
Böse. Auch wenn´s dann später hin und wieder etwas ruhiger wird:
Am liebsten mag es Genrich richtig rockig - in "The Rebel"
etwa oder dem Titelstück. Schöne relaxte Rockmusik, das Ganze; keineswegs
anachronistisch, aber auch nicht krampfhaft "trendy".
- "Zeitlos" ist wohl das am ehesten passende Adjektiv.
Biack
Turn loose the idiots
[Normal/Indigo]
[mz] Lo-fi-noise zum zweiten! Im Gegensatz zur Labelkollegin Azalia
Snail, steht bei Biack, dem früheren Sänger und Gitarristen der
belgischen Band Joyhouse, die Stimme ganz im Vordergrund. "Turn
loose the idiots" ist das Werk eines Einzelgängers, der sich
zuhause den angestaubten, klischeebeladenen Blues von der Seele
schreit. Die Stücke, meist mit simplen Perkussions und Gitarren
unterlegt, gelegentlich durch Billigelektronics erweitert, entfalten
einen rüden Charme, der ganz durch den Aufnahmeprozeß bestimmt ist:
Die einzelnen Spuren des Mehrspurengerätes bezeugen gleichsam die
verschiedenen Stadien der Komposition, sind dekonstruktive Elemente
eines kleinen Gesamtkunstwerkes, das um die fiktive Figur Howard
und dessen Unterbewußtseinsströme kreist. Biack ist die europäische
Antwort auf eine mittlerweile fast schon zur Bedeutungslosigkeit
verkommenen, angestaubten, amerikanischen Lo-fi-Ästhetik.
Diverse
God Less America
[Crypt/EfA]
[tb] Geschichten
erzählen ist die Domäne der Countrymusik. Dabei können das Stories,
Sozialdramen, Geshichten aus dem Leben der kleinen Leute, herzzereißende
Liebesstories oder Redneck-Epen sein. Der hochgradig witzige Sampler
"God Less America" bringt 40 Minuten lang feinsten Country-Trash
- zumindest textlich gesehen: irrwitzige, obskure Merkwürdigkeiten
über Drogengebrauch, seltsame Todesarten, etc. Musikalisch sind
die 16 Songs auch für den echten Countryfan brauchbar. Abgesehen
vom Novelty-Charakter, dem Obskur-Bonus der aberwitzigen Texte,
der auch Menschen, die eigentlich nichts mit Country anfangen können,
zu "God Less America" greifen lassen.
Crypt-Records,
das Label, des in Hamburg lebenden Exil-Amerikaners Tim Warren,
eigentlich spezialisiert auf Garagenpunk (die exzellente Reihe "Back
From The Grave", dessen Vol. 8 jetzt erschienen ist) hat für
diesen Sampler tief in die Archive gegriffen und Absonderliches
zutage gefördert. Songs, die zwischen 1955 und 66 entstanden sind
und die die dunkle Seite des Country zeigen. Da jammert ein Kind
namens Troy Hess im Stück "Please, don`t go topless mother"
etwa, daß er der einzige Junge in der Schule sei, dessen Mutter
"Topless" zum Job (Gogo girl) gehe. Die Hi-Fi Guys verkünden
"Rock `n` Roll killed my mother" (vom heftigen Schaukeln
in ihrem Stuhl fällt der alten Dame das Radio von der Kommode auf
den Kopf. Ergo: Exitus) und Billy Ray erzählt die traurige Geschichte
von Susie, der Drogenqueen. Country Johnny Mathis bitte um Gnade
für einen mehrfachen Prositutiertenkiller, während Horace Heller
in "Ed`s Place" als spoken word-Performance einen Mord
an Frau und Liebhaber gesteht. Und und und....Die amüsantesten Countrystücke
seit Kinky Friedmans "Asshole From El Paso" und "They
ain`t makin` jews like jesus anymore". Ein Heidenspaß dieses
Album!
Steve Wynn
Melting in the dark
[Enemy/IRS]
[hu] Nachdem
Steve Wynn die letzten Jahre auch solo tourte - dabei nur mit der
Gitarre in der Hand auf der Bühne stand - und nachdem bei Normal
Mailorder unter dem Titel "Take your flunky & dangle"
eine CD in folkig,bluesiger Tradition erschienen ist, habe ich mit
einer ähnlich minimalistischen, persönlichen Scheibe gerechnet,
die weitere akustische Sets zu bieten hat. Aber weit gefehlt. Steve
ist mit "Melting in the dark" wieder im Gitarrenrock zu
Hause. Quasi back to the roots, ähnlich wie mit seiner alten Band,
den Dream Syndicate. Die 13 Songs sind mit Sean O´Brien, mit zwei
Leuten der Bostoner Come und dem Schlagzeuger Arthur Johnson eingespielt.
Live wird Wynn allerdings im April wieder ein anderes Line-up mitbringen:
Neben den beiden von Come steht dann Armistead Wellford am Bass,
der auch schon bei Steve Wynns anderem Projekt, den Gutterball,
einen festen Platz hat. Am Schlagzeug wird auf dieser Tour Dennis
Duck zu sehen sein, der einst schon bei den Dream Syndicate tätig
war. Die neuen Songs der Platte indes sind weitere Perlen aus dem
reichen Song-Reservoir des Steve Wynn. Filigranes Songwriting mit
einer kräftigen Portion Energie vermischt.
Moose
Live a little love a lot
[Play it again Sam/Rough Trade]
[mz] Vom Noise-Pop
der Anfangstage ist wenig übrig geblieben auf dem neusten Werk von
Moose. Ähnlich wie die Boo Radleys haben auch Moose den Feedbacklärm
der Gitarren gegen eigenwillige Baß- und Streicherarrangenments
eingetauscht. "Live a little Love a lot" klingt streckenweise
so sophisticated wie eigentlich immer nur die heißgeliebten Monochrome
Set klangen. Kombiniert wird das Ganze aber weniger mit der Set
typischen Schlichtheit als mit psychedelischen Soundspielereien
und Arrangements, die auch einem Andy Partridge und seinen XTC gut
zu Gesicht gestanden hätten. "Live a little love a lot"
ist Pop-Musik jenseits jeglichen Brit-Hypes, denn Moose stehen heute
mit ihrer antiquierten Auffassung von Pop-Musik ebenso alleine da,
wie der greatest living englishman Martin Newell (Cleaners from
Venus), neben dem sie sich langsam einen Platz im englischen Pop-Olymp
erspielen.
Pat Thomas
Fresh
[Strange Ways/Indigo]
Walter Salas-Humara
Radar
[Normal/Indigo]
[tb] Es scheint,
als habe der US-amerikanische Songwriter Pat Thomas - einigen LeserInnen
vielleicht bekannt als aficionado der San-Francisco Neo-Folk-Szene,
Boß des Hey-Day-Labels, Herausgeber der SPEX-Compilation "Hit
me with a flower" - beim Hamburger Indie-Label Strange Ways
eine neue Heimat gefunden. Nach einem Livealbum nun, hier seine
erste Studio-Platte. Rockiger als zum Beispiel die 94 bei "What`s
so funny about" erschienene Compilation "St.Katherine",
ohne daß Thomas nun seine Folk- und Bluesvorlieben ganz ablegen
würde. Alleine die Besetzungsliste des Albums läßt aufhorchen und
den Fan einiges erwarten. So hören wir u.a. den großen Steve Wynn
(Gutterball, Ex-Dream Syndicate) als Gitarristen bei einigen Songs.
Chris Cacavas, nach Jahren als Keyboarder (bei Green On Red und
ca. fünf Dutzend anderer US-Südwest-Rockbands) inzwischen selbst
zum geschätzten Songwriter, Sänger und Gitarristen emanzipiert oder
Gary Floyd (Sister Double Happiness) als Co-Sänger. Sonya Hunter
und der Songwriter Pat Johnson sind weitere Mitstreiter bei diesem
schönen, auf sympathische Art unhippen Rockalbum, das Thomas eigentlich
auch einen größeren Hörerkreis erschließen sollte. Nicht nur wegen
des witzigen Songtitels "Helmut Kohl & Rasputin".
Der Erstauflage liegt übrigens eine Bonus-CD bei, mit u.a. einer
Dylan-Coverversion ("Get Your Rocks Off") und einem vertonten
Allen-Ginsberg-Text für alle überzeugten Nichtraucher wie unseren
lieben Kollegen Hucky ("Put Your Cigarettes Off").
Schon etwas
länger draußen ist "Fresh", das jüngste Solowerk von Walter
Salas-Humara. WSH dürfte den Meisten als Kopf der großartigen Silos
bekannt sein und der eine oder andere hat auch sein erstes Solowerk
"Lagarjita" (88) im Regal stehen. Von der Stimmlage her
tiefer als Thomas, singt und nöhlt sich WSH hier durch "Radar".
Tendenziell etwas dunkler das Ganze, edgy, aufgerauht, mit Ecken
und Kanten kommen die rockigen Stücke mit dezentem Folk- und Country-Einschlag.
Interressant instrumentiert und arrangiert, mal mit wummernder Orgel,
mal mit Violine schließt "Radar" an die Silos-Meisterwerke
an. Anspieltips: "Evangeline" und "One More Dance".
Jalal
On the one
[OnU-Sound/EFA]
[hu] Jalal ist
einer der Godfather des Hiphop. 1968 gründete Alafia Pudim, so Jalal
Nuriddins damaliger Name, in Harlem, NYC, mit seinen Kumpels die
"Last Poets" - eine Gruppe, die für die Urform des Rap
verantwortlich zeichnet. Damals hieß das allerdings noch "spoken
word" und war der gelungene Versuch, schwarze Kultur, Griot
und neues Selbstbewußtsein der Schwarzen in den USA der 60er Jahre
in einer neuen Kunstform zusammenzuführen. In der Rockkultur der
60er und frühen 70er Jahre nahmen die Last Poets einen großen Stellenwert
ein. Die erste Rap-Single spielten sie 1969 mit Jimi Hendrix ein.
Jalals Gedicht "Wake up, Niggers" übernahm Mick Jagger
in den Film "Performance". Die illustere Biographie von
Jalal und den Last Poets wäre eigentlich einen eigenen Artikel wert.
Inzwischen ist
der stark von Gospel und Bebop beeinflußte Jalal mit dem Londoner
OnU-Sound-Label verbandelt. Zusammen mit seinem Sohn Tariq spricht/singt
er eine CD mit elf Titeln voll. Minimalistisch instrumentiert unter
der Mitwirkung der Hausband von OnU-Sound (näheres siehe Artikel
in diesem Heft) ist eine Platte entstanden, die im musikalischen
Sinne cool ist. Die Jungs haben wirklich den Rhythmus in der Stimme
- im Gegensatz zu vielen der Rap-Schnellaufsager.
Gene
To see the lights
[Polydor]
[mz] Ein bißchen
Humor gehört ja schon dazu, als zweites Album, trotz (oder gerade
wegen) aller Smiths-Epigonen-Vorwürfe, ein Compilation Album mit
den Ursprüngen der Band, ebenso wie die Smiths seinerzeit, herauszubringen,
den Vorwürfen und somit den bereits vorgefertigten Plattenkritiken
weiter Vorschub zu leisten. Nichtsdestotrotz bildeten Gene seit
ihrer Entstehung einen völlig eigenen Stil heraus, der sicherlich
auch von den Smiths, aber nicht nur, geprägt ist, wie man auf "To
see the lights" unschwer erkennen kann. Die CD enthält neben
diversen Livetracks (u.a. einer Burt Bacharach Coverversion), einigen
Radiosessions, all die schon lange gesuchten und vergriffenen Singles,
die vor "Olympian" entstanden sind und die die Band bereits
vor dem ersten Album auf die Titelseiten der englische Presse katapultiert
hatten. Neben dem glanzvollen "For the dead", dem Beatles-Cover
"Don’t let me down", sind es vor allem die Single B-Seiten,
die die eine oder andere bislang unentdeckte Kostbarkeit hervorzaubern
und das Warten auf das neue Album, Ende des Jahres, verkürzen.
Big Sandy And
His Fly-Rite Boys
Swingin` West
Rosie Flores
Rockabilly Filly
[beide Hightone/Semaphore]
[tb] Der dicke
Sandy und seine Cowboys aus Kalifornien haben sich (fast) ganz dem
Western Swing verschrieben, einem frühen "Crossover" der
Musikgeschichte. In den 30er und 40er Jahren kreuzten findige Musiker
die populären Stile Swing und Country (respektive Hillbilly) zu
dieser eleganten, tanzbaren Mischung. Populärster Vertreter war
Bob Wills mit seinen legendären "Light Crust Doughboys"
und den späteren, bekannteren "Texas Playboys". Wen die
New-School-Swinger um Big Sandy auf den Geschmack gebracht haben,
dem empfehle ich älteres Material von Wills (findet man immer noch
gerne auf Börsen und Flohmärkten) auszuchecken. Bis dahin tut`s
aber auch "Swingin` West" - ein richtiges Kleinod. Mit
Gitarren, Stand-up-Baß, Drums und einer exzellent gespielten Steel-Guitar
warten die fünf, ausgesprochen gut gekleideten Musiker (siehe Cover)
auf. Sophisticated Dance Music!
Wer sich für
Country interessiert, dem ist lovely Rosie Flores sicherlich keine
Unbekannte. Auf "Rockabilly Filly" zeigt sich die Texanerin,
wie der Titel schon sagt, von einer anderen Seite und hat sich hier
ganz dem Rockabilly verschrieben. Dabei auch noch zwei singende
Legenden - Janis Martin und Wanda Jackson - ins Studio miteingeladen.
Absolutes Highlight des Albums und hitverdächtig: die Coverversion
des Butch-Hancock-Titels "Boxcars".
P
same
[spin/EMI]
[sg] Ganz schön
durchgeknallt, dieses Debütalbum. Beginnend mit einer Version von
Daniel Johnstons "I save Cigarette Butts" haben P eine
Ansammlung absolut abgedrehter Country-Nummern ("Mr.Officer"),
kaputter Bluesstücke ("White man sings the blues") und
immer wieder wüstem Krach ("Zing Splash") eingespielt,
wobei eine schmachtende Version von Abbas "Dancing Queen"
den absoluten Höhepunkt darstellt. Ebenso verrückt wie ihre Platte
ist auch die Geschichte und das Line-Up der Band: Neben Sänger Billy
Haynes von den Butthole Surfers und dem Bluesrock-Veteranen Bill
Carter sind noch Johnny Depp und Sal Jenco dabei. Kennengelernt
haben sie sich vor drei Jahren bei den Dreharbeiten zu "Gilbert
Grape". An diesem Abend spielte man in Depps Nightclub "The
Viper Room", als River Phoenix dort vor der Tür starb. - Vor
diesem Hintergrund wirkt die Single "Michael Stipe" zwar
etwas lächerlich, der Rest des Albums zeigt allerdings, daß die
Vier hier einfach getan haben, wozu sie Lust hatten: Musik zu machen.
"P" ist kein flaches Klischee-Album eines profilierungssüchtigen,
narzißtischen Filmstars, das man gerne verreißen möchte, sondern
ein abgedrehtes Album mit einer Klasse, die ich seit den Zeiten
der Camper van Beethoven selten gehört habe.
Diverse
Doyres - Traditonal Klezmer Recordings 1979-1994
Diverse
Shteygers - New Klezmer Music 1991-1994
[Trikont/Indigo]
[tb] Klezmer,
der "jüdische Soul" hat in den vergangenen Jahren eine
Menge neuer Freunde gefunden und nach den Siebziger Jahren ein zweites
Revival erlebt. Vor allem die New Yorker Band "Klezmatics"
hat da echte Pionierarbeit geleistet. Das Münchner Label Trikont
legt hier eine beispiellose Anthology vor, die 1992 mit dem Sampler
"Yikhes" begonnen wurde und nun mit zwei weiteren Ausgaben
fortgesetzt wird. "Shteygers" (deutsch "Wege")
stellt jüngere Bands wie eben die Klezmatics oder Klezmokum aber
auch bekannte Jazzer wie Don Byron, Branford Marsalis und Elliot
Sharp mit Klezmer-Stücken vor. "Doyres" ("Generationen")
befaßt sich mit den Bands, die dem Klezmer ab Mitte der 70er Jahre
zum ersten Revival verholfen haben. Darunter die kalifornischen
"The Klezmorim", aber auch die Klarinetten-Legende Dave
Tarras, dessen Foto das Cover ziert oder die Klezmer Conservatory
Band.
Wie bei ähnlichen
Reihen (erinnert sei an die Zydeco- und Cajun-Reihe "Swamp
Music") warten auch diese Sampler mit umfangreichen Booklets
und lesenswerten Begleittexten auf. Unerläßlich für Klezmer-Fans.
Harald "Sack"
Ziegler
Brick
[Marginal Records/
im gut sortierten Plattenhandel oder über: Harald "Sack"
Ziegler, Eupener Str. 42, 50933 Köln]
[mz] Zwischen
den schweizer Welttraumforschern, dem Plan und den musikalischen
Versuchen eines Max Goldt bewegt sich das neuste Werk des Independent-Einzeltäters
Harald "Sack" Ziegler. Ausgerüstet mit sämtlichen klingenden
Spielzeugen dieser Welt (von singenden Barbie-Puppen über Miniatur-Gitarren
Marke Heavy Metal bis hin zu akustischen Memos) schafft "Sack"
Ziegler verspielte kleine Pop-Perlen in denen Sinn und Un-Sinn gleichberechtigt
nebeneinander existieren. Auf 32(!) Stücken wird in Residents-hafter-Commercial-Album-Manier
der Margerite ("Genauso sieht sie aus - die Margerite")
ebenso Hommage erwiesen, wie Politisches, sinnentfremdet artikuliert
wird ("Tri-tra-Tränengas"). Höhepunkt ist das 1 Minute
26 Sekunden lange "Pyjama-Toast" ( mit den einprägsamen
Zeilen: "Erst hab’ ich den ersten Ärmel - GETOASTET - dann
hab’ ich den zweiten Ärmel - GETOASTET - dann hab’ ich...ein ganzes
Toastbrot - GEBÜGELT- und im Wäschekorb roch es wie in einer Bäckerei").
"Brick" ist Kinder-Lo-Fi-Pop zwischen Retorten-Techno-Gestampfe
und Dada-Ballade.
St&p
Shake
[Soulciety/99 Berlin]
[hu] Funk und
Swing vereinen die Hamburger st&p. Was sich wie eine Mini-Bigband
anhört ist von drei Jungs ausgetüftelt: Tim und Sven Waje sowie
Claus Vogel programmieren die Rhythmen, spielen Samples und Scratches
ein und legen darauf satte Keyboardklänge und Gitarrensounds. Zu
diesem Grundgerüst spielen Gastmusiker bei einigen Stücken Bass
und Bäsersätze ein. Und dann sind da noch Malik Pointer, der Sohnemann
einer der Pointer Sisters sowie Sandra B aus den USA, die schon
mit bei "Monkey Business" angenehm auffiel. Die beiden
steuern souligen Gesang bei. St&p, aus der Mitte der Hamburger
Funky Family, können jeder US-Band das Wasser reichen. In manchen
Passagen machen sie denen sogar vor, wie im Funk immer noch neue
Wege zu beschreiten sind. It`s got swing!
Peter Lübke,
Maria Volk u.a.
Straten. Unterirdischer Tourismus
[Hörsturz, Kurze Gasse 14, 85452 Eichenried, Tel: 08123-2268]
[hu] Hörspiele
haben’s schwer. Und Hörspiele, in denen nicht so klingende Namen
wie Heiner Müller und Blixa Bargeld auftauchen haben’s doppelt schwer.
Dennoch gibt es Unentwegte, die an ihren Projekten festhalten und
bereits einen beträchtlichen Katalog an hochkarätigen Produktionen
zusammengestellt haben: "Hörsturz" ist so ein Verein der
Idealisten. Über diesen Medienversand ist eine gediegene Auswahl
an Hörspielen zu beziehen - meist in den Studios der öffentlich-rechtlichen
Rundfunkanstalten von BR und WDR aufgenommen. Jüngste Neuheit im
Programm ist das Hörspiel von Maria Volk, in dem sich die Phantasie
des Zuhörers in das "Mannmuseum" begibt. Die Führung durch
Höhlen und Grotten wartet mit den Klängen und Rhythmen von Stimmen,
Körpergeräuschen und diversen Materialien auf. Auch dieses Werk
ist im Bayerischen Rundfunk entstanden und war im Februar schon
in einer Live-Fassung im Münchner Soft Research zu hören. "Straten"
ist eine CD für all jene HörerInnen, die sich auf Experimentelles
einlassen können, gerne den Tönen aus den Lautsprecherboxen lauschen
und ihre Phantasie während des Hörens auf Reisen gehen lassen können.
Für Einsteiger in die große Welt der Hörspielkunst ist es nicht
das leichtetste Werk, das man sich aussuchen kann. Ich selbst mußte
mehr als einmal hinhören. Aber damit ist "Straten" auch
ein Hörspiel, das unaufhörlich neue Facetten offenbart.
Verschiedene
Schaales Bier. 10 Jahre Baader Café
[Blickpunkt pop, Postfach 750303, 81333 München]
[hu] Das Baader
in München feierte letzthin 10jähriges. In der Baaderstraße in München
befindet sich dieses Café, das so ganz normal aussieht, auch so
ganz normal ist, wo man demzufolge gerne hingeht weil es dort abends
immer so lecker Bier gibt. Die Jubiläumsfanfaren ertönen einmal
mehr von FSK, die auf dem kleinen Geburtstagssampler eines von sechs
Stücken spielen: "die Kaiser Wilhelm (als Huapango)".
Die anderen Bands sind kaum bekannt, obwohl die Merricks ja bereits
in LEESON 2 gewürdigt worden sind. Aber Hitmaschine, BluMe, New
Angels und das Meinhof Café Orchestra, wie die anderen Gruppen heißen,
huldigen allesamt einem krachig-entrückten Stil, so daß sie auf
dem Sampler gut zusammenpassen. Ein echter Brüller ist auch die
Coverversion von Dylans "It’s all right" vom Meinhof Café
Orchestra. Den Sampler gibt es nur über obige Adresse zu beziehen.
Congos
Heart of the congos
[Blood & fire/Indigo]
[hu] Wiederveröffentlichung
einer der führenden Vocalreggae-Gruppen auf dem Speziallabel für
Roots Music. Die Harmoniegesänge der Congos schweben über dem Dub
der Upsetters-Musiker. Als bekannter Name wäre Sly Dunbar herauszuheben.
Was der Produzent, "Studiowizard" Lee Scratch Perry, Mitte
der 70er Jahre in seinem Black Ark-Studio zusammen mit den Congos
gezaubert hat, hat bis in die 80er Jahre den Reggae/Dub bestimmt.
Neben dem Re-Release von ’Heart of the Congos’ gibt es auch eine
zweite CD mit ausgesuchten Single-Versionen der Congos. Ein 36seitiges
Booklet und die außergewöhnliche Verpackung sorgen für ein funktionales
(= informatives) Design. Endlich mal eine CD, die man auch gerne
in die Hand nimmt.
Michael Hall
Day
[Moll/EFA]
[hu] Slow Countryrock.
Dahinter steht Michael Hall, der in den 80er Jahren in Austin, Texas
mit den Wild Seeds Kultstatus innehatte. Hall begleitet seine spröden
Songs auf Gitarre und Akkordeon. Für seine inzwischen dritte Solo-Produktion,
nach den Wild Seeds, hat er Musiker von den Mekons und Poi Diog
Pondering eingespannt - hält er sich doch inzwischen nicht mehr
in Austin sondern in Chicago auf. So zwirbeln mal Fuzzgitarren in
den Himmel, mal ("Las Vegas") reichen Akkordeon, Tamburin
und Violine aus, damit Michael Hall Stories und Stimmungen in die
Welt setzen kann. Authentische Musik "as real as the light
that comes from your eyes".
Wolfsheim
Dreaming Apes
[StrangeWays/Indigo]
Icehouse
The Berlin Tapes
[Intercord]
[nf] Mit dem
Motiv aus dem bekannten Kinderreim "Guten Abend, Gute Nacht"
beginnt die neue CD von Wolfsheim - und mündet geradewegs in den
wohl faszinierendsten Synthie-Pop, der derzeit hierzulande produziert
wird. Sehr düster, melancholisch und bedeutungsschwanger präsentiert
sich "Dreaming Apes" - Novembernachtsmusik, zweifelsohne.
Ich weiß, mit so etwas kann der Rest der LEESON-Crew herzlich wenig
anfangen - aber was soll´s, mir gefällt´s. Abwechselnd auf deutsch
und englisch singt Peter Heppner in "A new starsystem has been
explored", zu Texten, die, in angenehmem Kontrast zu denen
vieler anderer BRD-Bands, auch ganz und gar nicht verkrampft klingen.
Buchstäblich alle Register zieht Multiinstrumentalist Markus Reinhardt
auf dieser Platte, auf der außer dem Gesang und einer Mundharmonika
(in "Old Man´s Valley") jeder Ton synthetisch erzeugt
wurde - ohne daß das Ergebnis auch nur im geringsten steril oder
kalt klingen würde.
Kein reines
Coverversionen-Album (wie etwa das grandios unterschätzte "Thank
you" von Duran Duran letztes Jahr) ist "The Berlin Tapes"
von Iva Davies und seinen reformierten Icehouse (die uns vor allem
Anfang der Achtziger mit ihren coolen, schwer Bowie- und Roxy-beeinflußten
Synthie-Popsongs beglückten), sondern die Begleitmusik für ein Ballett(!).
Entstanden in Zusammenarbeit mit der australischen Sydney Dance
Company unter der Leitung von Graeme Murphy. Ein glückliches Händchen
bewies Davies mit der Auswahl der hier vorgelegten "Klassiker"
- daß die Platte mit einem Song von David Bowie beginnt ("Loving
the Alien") und endet ("Heroes"), ist dabei nur ehrlich
und konsequent, verdanken Icehouse doch ihm und seiner Musik vermutlich
mehr als jedem anderen. Roxy Music sind natürlich auch vertreten
("Really Good Time") , XTC ("Complicated Game")
und The Cure (mit "At Night"!). Kaum zu glauben, aber
selbst dem tausendfach gecoverten "All Tomorrow´s Parties"
von den Velvets gewinnen Icehouse noch neue Aspekte ab. - Irgendwann
einmal raffe ich mich hoffentlich doch noch dazu auf und nehme mal
ein ganzes Tape ausschließlich mit "All-Tomorrow´s-Parties"-Coverversionen
auf...
[tb] Lambchop
müssen Anhänger von Jonathan Richmans alter Theorie sein. Der Ex-Modern-Lover
sagte einmal, er sei deshalb von elektrischer zu akustischer Musik
gewechselt, weil laute Musik die Ohren von Insekten und kleinen
Kindern verletzen könnte. Kurt Wagner, Kopf des 14-köpfigen Projektes
macht mit seiner Band Musik, die wirklich die Ohren schont - ohne
zu langweilen. Mit einem immensen Instrumentarium inklusvie Celli,
Klarinetten, Saxophonen und Kontrabässen spielen Lambchop kleine
folk- und countryinfizierte Songs, superlangsam und superunaufgeregt.
Wunderschön. Manchmal erinnert mich das an die Tindersticks, ohne
deren zuweilen (auch schönen) dramatischen Dandy-Stil. Wagner &
Co. leben in Nashville, Homebase des Mainstream-Country, in deren
Szene sie mit diesen Sounds sicherlich die Paradiesvögel sind. "How
I Quit Smoking" (City Slang/EfA) heißt das zweite Album nach
"I Hope You`re Sitting Down" (siehe LEESON No.1).
[mz] Noch so
eine englische Band in der klassischen Vierer-Besetzung wollen die
Bluetones aus dem Londoner Vorort Hounslow nicht sein. Vieles auf
"Expecting to fly" [Polydor], ihrem Debutalbum, klingt
allerdings alles andere als besonders eigen: Zu offensichtlich sind
die Zitate aus dem riesigen Fundus der britischen Rockmusik. Ein
paar Kanten mehr, ein bißchen mehr Innovation und eigenes Profil
hätte man sich für den Sixties-Pop der Bluetones gewünscht. So ist
es ein nettes Album geworden, aber auch nicht mehr.
[tb] Schon etwas
länger draußen, dennoch der kurze Hinweis auf den Sampler "The
Sound Of MZEE" (MZEE/EfA). Ist doch das inzwischen von Heidelberg
nach Köln übersiedelte Label MZEE eines der wichtigsten deutschen
Hip-Hop-Labels und feierte die Posse um Akim Walta jüngst dreijähriges
Bestehen. Die vorliegende Compilation ist Nr. 20 der bisherigen
MZEE-Veröffentlichungen. Stücke von MC Rene, F.A.B., No Remorze,
Massive Töne, A Real Dope Thing und anderen geben einen guten Einblick
in die deutsche Hip-Hop-Szene.
[nf] Ha, verliebt
vom ersten Takt an: Gar nicht lasch (hallo, tb!) klingen Lush auf
"Lovelife", dem neuen Longplayer (4AD/Rough Trade) - ganz
und gar nicht. "Ladykillers", der Eröffnungstrack, bezaubert
mit einer Jahrhundertmelodie und der begnadeten Stimme von Emma
Anderson (jetzt gehen mir aber auch schon langsam die Superlative
aus...), die im übrigen auch Gitarre spielt - der Rest des Albums
steht dem in nichts nach. Whimp-Musik vom Feinsten - und sogar ein
Duett mit Jarvis Cocker, dem Frontmann der Pulp ("Ciao")
ist mit drauf... Wenn das keine Gewähr für den endgültigen Durchbruch
ist...
[mz] Kammermusik
im Sinne der schon lange verblichenen Jules Verne machen Rachel’s
auf ihrer außergewöhnlichen CD "Music for Egon Schiele"
[Quarterstick/EFA]. Als Soundtrack für ein Tanztheater komponiert,
steht das zweite Projekt der US-Amerikaner ganz in der Tradition
der "Made to Measure"-Serie und ist einer der musikalischen
Höhepunkte der letzten Monate. Großartiges Album.
[tb] Relaxten
Sound zwischen Ambient, Trip Hop und gelegentlichem Jazzgedudel
bringen Drome auf dem neuen Label mit dem bezeichnenden Namen "Kiff
FM" (Vertrieb: Rough Trade). "Dromed" nennt Soundbastler
Bernd Friedmann, der sich dahinter verbirgt, dieses feine Werk.
Chill-out-Faktor zehn!
(hu) Angetrieben
durch Jungle haben auch die musikalischen Wurzeln des zeitgenössischen
Dance und somit das reiche Reservoir für Samples und Scratches wieder
Konjunktur. Die Rede ist von Reggae. Zum Beispiel Prince Far I &
the Arabs. Deren "Cry tuff dub encounter chapter 3" ist
auf Pressure Sounds/EFA wieder zu haben. Das Album ist beispielhaft
für die Evolution des Dub. Hier sind also kein "Jah-Rastafari"-Gegröhle
im Stil der 70s zu hören sondern Adrian Sherwoods erste Ansätze
des Remixens. Wohingegen Little Roys "Tafari earth uprising"
(Pressure Sounds/EFA) auf wummernde Riddims und die Stimme von Little
Roy setzt: Relaxter Schmuseraggae. Frisches Futter kommt auch von
den Di Iries: "Worry not!" (Buback/Indigo). Die Band ist
aus Hamburg und deren Musiker haben ursprünglich mehr mit Punk,
House oder Hiphop zu tun gehabt als mit Reggae - bis sie auf Dub
und Raggamuffin aufmerksam wurden und zu deren Wurzeln zurückgangen
sind. Seit 1994 spielen die Di Iries zusammen und haben inzwischen
ihre eigene, städtische Variante des Reggae geschaffen. Freilich
klingen immer die Wurzeln klar heraus. Exzellent ist das sparsame
"Respect" mit Sängerin Claudia Gonzales. Übrigens sind
die Di Iries neben Vision aus Hannover die zweite deutsche Reggae-Band,
die es in die britischen Charts geschafft hat. Womit wir bei der
nächsten Produktion wären: das Album "Namas te" (Fünfundvierzig/Indigo)
der Vision. Die Band hat hier 10 neue Songs eingespielt, die atmosphärischen,
entrückten Dub bieten. Anders ausgedrückt: Reggae goes psychedelic.
Wer übrigens Dub japanischer Prägung liebgewonnen hat und bereits
zu den Audio-Active-Fans gehört, sollte sich die EP "Happy
Shopper in Europe" (OnU-Sound/EFA) einmal zu Gemüte führen.
Ein Kultstück!
[tb] "The
Chicago Allstars Compilation" (Radikal Fear/PIAS/RTD) ist ein
exzellenter House-Sampler (CD und Doppel-Vinyl), der die wichtigsten
acts des angesagten Chicagoer Labels Radikal Fear vorstellt. Teilweise
exklusiv für diesen Sampler aufgenommen, teilweise in Remixes sind
hier Labelchef Felix da Housecat, DJ Sneak, Armando & Co. versammelt.
Eine gute Geldanlage für all jene House-addicts, denen der eigentlich
für dieses Genre zwingende (so fern man auf dem Laufenden bleiben
will) Maxi-Single-Spaß zu teuer ist.
[mz] Gewohnt
gekonnt gemachten Gitarrennoise englischer Art bietet Wedding Presents
neustes Werk "Mini" (Cooking Vinyl). Zwar insgesamt nicht
ganz so gelungen wie das Vorgängeralbum "Watusi", findet
sich nichtsdestotrotz auch auf "Mini", der ein oder andere
unvergeßliche lovetune des unermüdlichen David Lewis Gedge, der
im elften Dienstjahr, eifriger denn je, Herz und Schmerz besingt.
[sg] Da legt
man im Winter 96 ein brandneues Debütalbum ein und hört urtypischen
Spätachtziger Gitarrenrock, an dem die letzten zehn Jahre einfach
spurlos vorbeigezogen sind - ganz schön seltsam. Auf ihrem gleichnamigen
Album (Mantra Recordings) spielen China Drum, als ob sie gerade
mit Hüsker Dü touren würden und die Vorstellung, daß die Goo Goo
Dolls in den Charts wären, noch völlig unvorstellbar sei. Von wegen
schnellebige Neunziger - mancherorts ist wohl alles beim alten geblieben.
[tb] Blues,
der nicht stinkt wie ein toter Fisch. Bislang hat mich der Australier
Hugo Race immer zu sehr an Nick Cave erinnert. Nach seinem jüngsten,
fünften Album "Valley Of Light" (Glitterhouse/EfA), eingespielt
mit seiner Band The True Spirit, leiste ich Abbitte. Race fischt
zwar im gleichen Gewässer wie Cave und die Bad Seeds, klingt jedoch
ziemlich eigenständig.
[tb] "Black
Love" (WEA) heißt das jüngste Album der Afghan Whigs, die leider,
wie die Mudhoney auch, trotz großartiger Platten im Gefolge der
Grunge-Euphorie nicht groß geworden sind. Wobei, trotz ihres zeitweiligen
Aufenthalts bei Sub Pop, Greg Dulli & Co. eigentlich nie eine
richtige Grunge-Band waren. Ihr Interesse am schwarzen Amerika,
am Soul und Funk, ihren Ideen von Style ließen bei ihnen da schon
eher Ähnlichkeiten zu den Urge Overkill aufkommen. Drei Jahre nach
dem letzten Album "Gentleman" bringt auch die neue CD
wieder abwechslungsreichen Alternativ Rock mit tollen Songs zwischen
midtempo Balladen, Soul-inspiriertem (klasse: "Blame, Etc."),
rockenden Ohrwürmern ("Going To Town" und die Singleauskopplung
"Honky`s Ladder"), ungewöhnlich arrangieren Stücken ("Night
By Candellight" mit Streichern) und "Bulletproof"
mit schwiemeliger Orgel. Klasse.
[tb] Die Krähen
nennt sich eine neue Band aus der schwäbischen Hip-Hop-Szene, genauer
aus "Benztown" (Bubach/Indigo), so auch der Titel dieses
feinen, deutsch gerappten Debütalbums. Neben den Kinderzimmer Productions
(Ulm) und den Massiven Tönen (Stuttgart) ein weiteres hoffnungsvolles
Projekt aus Schwaben.
[mz] Flying
saucer attack demonstrieren auf "Chorus"(Pinnacle/Rough
Trade) einmal mehr die Vorliebe englischer Bands für Krautrock (vor
allem Can), kombinieren diese Einflüsse aber geschickt mit zeitgemäßen
Feedbackattacken. Die Stimme meist verhallt und beinahe unkenntlich
in den Hintergrund gemischt, leitet diese ganz und gar meditative
und spannende Musik. "Chorus" vereint diverse Peel-Sessions
und rare Singletracks. Das Album markiert, wie es im Booklet heißt,
"the end of FSA phase one...when we return with phase two -
who knows where the wind blows..."
[tb] Die Pale
Nudes sind eines der vielen Projekte der US-amerikanische Multiinstrumentalistin
Amy Denio. Wer lovely Amy einmal live gesehen hat, ob nun solo,
mit dem Billy Tipton Memorial Saxophone Quartet oder mit den (EC)
Nudes weiß um die große Klasse dieser Musikerin. Gemeinsam mit den
Schweizer Musikern Wädi Gysi (Gitarre) und Michael Gerber (Kontrabaß)
sowie dem amerikanischen Drummer Will Dowd zeigt sich Amy Denio
auf "Wise To The Heat" (RecRec) zugänglicher als auf ihren
Platten mit den Tone Dogs oder solo. Grenzgängerisch wie eh und
je schwanken die elf Songs zwischen Folk, Pop und Jazz, wobei bei
den Songs meist ein melancholischer Unterton mitschwingt.
[hu] Die Rain
Ministers aus Waltrop mischen auf ihrem glechnamigen Album (Tonhaus/NTT)
Rock mit somalischer Folklore. Sänger Farah Haidar sorgt dabei für
die richtige Aussprache. Die siebenköpfige Band bietet auf ihrem
Debut afrikanische Rhythmen und Reggae-Riddims, die zugleich mit
europäischer Härte eingespielt sind.
[tb] Überraschung:
Ed Kueppers jüngstes Solowerk "Exotic Mail Order Moods"
(Hot Records) beginnt mit Breakbeats (!), so als habe der Australier
nun auch noch am Jungle-Nektar genippt. Auch andere, kurze Fragmente
auf dieser nur über Mailorder beziehbaren CD werden den Kuepper-Fan
etwas verwirren. Wobei die teilweise sehr eigenwilligen Arrangements
diverser Traditionals (der Folkklassiker "Sam Hall" etwa
wird mit Dancebeats unterlegt, worüber Kuepper seine, effektversetzte
Gitarre legt) und diverse Coverversionen (von Bowies "The Man
Who Sold The World" über Nick Caves "Do You Love Me"
bis zum Animals-Klassiker "When I was young") bestechen!
Dazu gibts noch den alten Saints-Song "Memories (are made of
this)." Dem Mann gehen nun einmal nie die Ideen aus!
[hu] Wer mal
kurz eine kompetente Zusammenstellung an Songs aus dem Genre Electro
sucht, ist mit "Electrocity 7" (Ausfahrt/EfA) bestens
bedient. Die Sampler-Reihe hat ja schon in der Vergangenheit geholfen,
sich einen schnellen Überblick über die Szene zu verschaffen. So
sind auch diesesmal - in einer breitgefächerten Mischung - Crossover-Klänge
der Holy Gang ebenso zu hören wie Elektropop der Cyber-Tec oder
die Sounds der altbekannten Young Gods.
[tb] Achtung!
Hinter Curd Ducas Volume 4 von "Easy Listening" (Normal/Indigo)
verbirgt sich kein "easy listening" im Sinne des gegenwärtigen
Revivals. Wie schon auf den vorherigen drei Ausgaben (inzwischen
sind Vol 1 bis 4 zusammengefaßt als Doppel-CD bzw. -LP erschienen)
entwirft der österreichische Soundbastler kleine, elektronische
Miniaturen. Wobei die filmmusikartigen Schnipsel, Ambientstücke,
Heim-Techno-Sounds und Electronic-Listening-parts, die gelegentlich
an die Residents der "Commercial-Album"-Phase erinnern,
durchaus Easy-Listening-kompatibel sind. Will sagen: ziemlich klasse
was der ehemalige Gitarrist der Rockband "Dead Waldheims"
da zusammenbraut. Angenehm: Duca nervt nicht, indem er auf seinen
Ideen zu lange herumreitet. Alle Stücke sind recht kurz, durchschnittlich
zwei Minuten lang.
[mz] Nach dem
wundervollen Obskuritäten Sampler "Refried Ectoplasm"
gibt es nun endlich das neue Album von Stereolab. Dem einstigen
Flaggschiff des Too pure-Labels gelingt es auch auf "Emperor
Tomato Ketchup" [Duophonic/Wea] ihren außergewöhnlichen, hypnotischen
Moog-Pop adäquat umzusetzen. Deutlich weniger gitarrenlastig als
das Vorgängeralbum "Mars Audio Quintett", besticht auf
Sterolabs neustem, in Chicago aufgenommenen, Werk einmal mehr der
mehrstimmige englisch/französische Chorgesang von Laetitia Sadier
und Mary Mansen. Highlight!
[tb] Butter
nennt der Hamburger Christoph Kähler sein neues Nebenprojekt, bei
dem der disjam-Sänger vom Funk zum Pop wechselt. Etwas vollmundig
wird das Debütalbum "Happy" (Yo Mama/Indigo) als "Pop
2000" ausgerufen. Nett sind die mit sanfter Stimme gesungenen
kleinen Popsongs allerdings schon. Wobei das Album erst nach vier
eher langweiligen Stücken mit Track 5, dem Titelsong, an Drive gewinnt.
"Happy", "Box of matches" & Co. arbeiten
mit Popmelodiechen und darunter geschobenen Rhythmus-Mustern aus
der Dance-Ecke. "Hypocrite" dagegen ist ein netter Soul-Pop,
der auch für Sade geschrieben sein könnte.
[mz] Girls against
Boys viertes Album "House of GVSB" [Touch & GO/EFA]
klingt ein bißchen wie die rüde, amerikanische Antwort auf The Fall.
Verbunden mit der New York School of Noise ergibt das ein gar nicht
uninteressantes Sittengemälde am Ausgang des 20. Jahrhunderts.
[tb] Schon wieder
ein neues Album der Knödel. Grade mal ein halbes Jahr nach "Die
Noodle!" (siehe LEESON 2) meldet sich das alpenländische Oktett
mit "Panorama" (RecRec/EfA) auf der Bildfläche zurück.
Dabei spielt man ausschließlich Musik von Tiroler Komponisten zwischen
Landler und Klassik. Alles nicht ohne Augenzwinkern, poppig aufbereitet.
[nf] For Squirrels
nennt sich ein Quartett aus Florida, und das, was es macht (auf
dem Album "Example"), läßt sich vielleicht am ehesten
als Speed-Grunge beschreiben: Ein paar schmutzige (aber nicht allzu
schmutzige) Riffs, ein leicht nöliger Gesang und ein sicheres Gespür
für eine ins Ohr gehende Melodie - "The next Big Thing"
oder was? Zumindest Anja von Sony Music scheint dieser Meinung zu
sein, sonst hätte sie mir wohl nicht unaufgefordert diese CD geschickt...
Hm, mal sehen, auch Live waren ja vor etwa anderthalb Jahren noch
ein absoluter Geheimtip...
[tb] Seit fünf
Jahren das erste richtige Studioalbum von Marc Almond! "Fantastic
Star" (Mercury), fast achtzig Minuten lang, wartet mit einigen
tollen Brit-Pop-Songs auf. Einerseits zwar sehr dance-orientiert,
mit Disco- und Techno-Beats legte der kleine Brite diesesmal aber
auch viel Wert auf Gitarren. Mal Trash-Rock, mal Glam-Rock, mal
gar eine Slide-Gitarre. Mit dabei - bei zwei Songs - waren die Gastmusiker
John Cale, Chris Spedding und David Johanson. Wobei der Ex-Sänger
der New York Dolls hier an der Mundharmonika (!) zu hören ist. Großes
Comeback, das bereits von den vorab als Single erschienen Stücken
"Adored & Explored", "The Idol" und der
Schnulze "Child Star" vorbereitet wurde.
[sg] Im Hause
Throw That Beat gab es in der letzten Zeit ja die verschiedensten
Solo- und Side-Projekte. Vor allem Sänger Cornfield konnte jüngst
ja viel Lob ernten. Auf "Sticht" (spool/eleven) versucht
sich jetzt auch Schlagzeuger Andreas Sticht als Songwriter. Unterstützt
von Gitarrist Pferd bleibt er ganz dem typischen Schrammelpop treu,
allerdings ohne die von den "Throw That Beat" gewohnten
Komik-Elemente einzustreuen.
[tb] "World
Tour 1998" (RéR/EfA) bringt die beiden LPs "World Tour"
(87) und "Fin de Siecle" (89) auf einer CD zusammen. Les
4 Guitaristes de l`apocalypso bar nannten die Gitarristen René Lussier,
André Duchesne, J.P.Bouchard und Roger Boudreault ihr Projekt. Gemeinsam
mit weiteren Größen aus der internationalen Avantgarde-Rock-Szene
wie Chris Cutler (Drums) und Ferdinand Richard (Baß; der ist mit
seinen Ferdinand et les philosophes am 1. Mai im Konstanzer Kulturladen
zu sehen) wurden diese beiden Alben eingespielt.
[tb] Abwechslungsreichen
Brit-Pop vom Frauentrio Sidi Bou Said auf ihrem zweiten Album "Bodies"
(RTD). Mal schrammeliger Gitarrencore, mal balladesk mit Folkeinflüßen
und Streichern.
[tb] "El
Haoua" (Barraka el farnatshi/EfA) ist leider noch nicht die
lange erwartete dritte CD des marokkanischen Projekts Aisha Kandisha`s
Jarring Effects (AKJE)- die, mit dem Titel "Koyo Koyo",
erst im Herbst erscheinen soll. Bis dahin nehmen wir mit dieser
Live-CD vorlieb. Eingespielt während des 94er Konzertes in Basel
bringt "El Haoua" die Stärke der Band, das Verschmelzen
von arabischen-afrikanischen Mustern mit House- Hip-Hop-Elementen
zum Vorschein. Neben Stücken der ersten beiden CDs "El Buya"
und "Shabeesation" gibt es auch drei unveröffentliche
Stücke zu hören.
[nf] Als "die
illegitimen Söhne von Soundgarden und The Almighty" bezeichnete
ein Kollege einer namhaften britischen Metal-Zeitschrift die drei
Jungs aus Glasgow, die sich unter dem Namen Mudshark zusammenfanden
und nun ihr gleichnamiges Debüt vorlegen (PIAS/Rough Trade). Knüppelharter,
roher und aggressiver Hardcore-Metal - mit dem Charme eines, die
Kettensäge schwingenden, Leatherface. Als support act für die Utah
Saints, die Pogues und Gun machten sie sich auch live bereits einen
Namen - merken wir ihn uns eben einfach mal.
[tb] Vom seltsamen
Namen sollte man sich nicht abschrecken lassen: Was die Münchner
Schwermut Forest, ein Ableger der First Things First, auf ihrer
Debüt-LP (ist tatsächlich ein Vinyl-Teil!) "Pilot" (Kollaps
c/o C.Merk, Obere Riedl 1, 82395 Untersöchering) abliefern, ist
ziemlich interessant, zumindest sehr eigenwillig. Tortoise auf deutsch
und mit Gesang? Baß und Drums drücken ziemlich tief und heftig (fast
overdubbed), während ein einsames Saxophon seine Kreise zieht und
der Sänger leise, fast zu leise (was singt der denn da?) erzählt:
"Macht Rockmusik noch einen Sinn?" wird da etwa gefragt.
In der Art, wie das Schwermut Forest machen, auf jeden Fall.
[tb] Raissa
heißt eine neue dreiköpfige Band um die gleichnamige Sängerin aus
London, die jetzt auf dem exquisiten Big-Cat-Label (Pavement, Blumfeld
& Co.) debütiert. "Sleeping Bugs" (RTD, erscheint
im April) bringt abwechslungsreiche Heimaufnahmen zwischen lo-fi-Pop,
Trip-Hop und Easy Listening. Wunderbar kombiniert man die Songwriter-Extravaganza
der Pavement mit Erkenntnissen aus der britischen Dancefloorszene.
Das schöne englische Adjektiv "gorgeous" verwendete der
Meldoy Maker anläßlich einer Live-Review von Raissa (mehrere Instrumente),
Paul (Gitarre) und Dan Birch (Programming, DJ). Dem bleibt auch
für das Album nichts hinzuzufügen.
[tb] Grade noch
reingerutscht, kurz vor Redaktionsschluß, ist Rocko Schamonis neues
Werk "Galerie Tolerance" (Trikont/Indigo). Neben dem tollen
Easy-Listening-Einstieg "Pudel à gogo" gibt`s hier alternativen
deutscher Schlager (oder so was), ziemlich elegant gespielt. Mit
Gasteinlagen: u.a. Bernd Begemann an der Gitarre und ein nuschelnder
Jochen Distelmeyer (?) bei "Berlin Woman".
[mz] Peter Blegvads
sechstes Soloalbum "Just woke up" [EFA] ist ein akustisches
Folk/Rock-Album in Singer/Songwriter-Manier geworden, auf dem immer
wieder Blegvads musikalische Vergangenheit (u.a. bei Slapp Happy)
durchblitzt. Unterstützt von der Londoner-Underground-Kultur-Mafia
(u.a. Greaves, Cutler, Hodgkinson), betritt "Just woke up"
zwar kein musikalisches Neuland, bietet aber gewohnt gekonnt gemachten
Avantgarde-Folk mit intelligenten Texten.
[tb] "Ich
hab noch einen Kiffer in Berlin" (Conträr/Indigo) heißt diese
spoken-word-CD von Wolfgang Neuss. 1985 eingespielt im Wohnzimmer
des vor sieben Jahren verstorbenen Kabarettisten entführen die Texte
in das "Neussche Zeitalter" der rauch-verhangenen Assoziationen.
Wenngleich auch manche Beiträge doch sehr zeitbezogen sind und heute
nicht mehr ganz so brisant sind (Stichwort: Abrüstung), eine amüsante
Sache.
Von
Thomas Bohnet
Mitten ins Herz
trifft mich das neue Album der Schaffhauser Eugen. Seit 13 Jahren
(einst noch als "Der böse Bub Eugen") musikalisch aktiv,
haben Songschreiber Rämi (Gesang, Gitarre), Suzann (Baß, Stimme),
Bächi (Gitarre) und Fisch (Drums, Sampler, Orgeln) ihr Meisterwerk
abgeliefert. "Cool (& aber auch sexy)" [CH: Tom Produkt/RecRec,
D:Buback/Indigo] bringe ich jedenfalls kaum noch aus meinem CD-Player
raus. Ohrwurm-Popsongs wie "Neu hier", "Nur für dich",
"Liegenbleiben" oder den Titelsong mag ich immer hören.
Nicht nur diese Songs warten mit interessanten Schlagzeugsounds
(Hip-Hop- respektive Trip-Hop-Beats), schönen Gitarrenpassagen und
feinen, kleinen Melodien auf.
Immer noch beweisen
Eugen ungeheuren Mut und singen (wie die Aeronauten) hochdeutsch.
Ein Umstand, der - dies für deutsche LeserInnen, die die schweizerischen
Gegebenheiten vielleicht nicht kennen - ungefähr so mutig ist, als
würde eine deutsche Band, versuchen mit schwäbischen oder sächsischen
Songs (die unbeliebtesten deutschen Dialekte: dies für Schweizer
LeserInnen) beim Publikum zu landen. Die Weigerung schwyzerdütsch
zu singen, ist vielleicht aber auch dafür mitverantwortlich, daß
die Eugens in ihrer Heimat nicht längst so groß sind, wie sie eigentlich
sein sollten. - Mit Ale Sexfeinds Buback-Label haben die Eugens
nun endlich auch ein deutsches Label gefunden. Hier findet, wie
schon bei den Aeronauten auch die Hamburg-Schweiz-Connection ihre
Fortsetzung. Dazu Stephan Rämi alias Rämi: "Von den Ideen her
liegt Hamburg für mich, merkwürdigerweise, näher als Bern. Ich habe,
das Gefühl, daß es da Leute gibt, die ähnliches im Kopf haben, wie
ich. Da haben sich dann neue Kontakte ergeben und alte, wie mit
den "Zitronen", wurden wieder aufgefrischt."
Ebenfalls auf
Initiative von "Eugen"-Sänger Rämi zustandegekommen (auf
Anfrage des Zürcher Theaters an der Winkelwiese) ist die CD "Chabis!"
(CH: Tom Produkt/RecRec, D: leider noch kein Vertrieb), die ganz
im Zeichen des Schweizer Krimischriftstellers Friedrich Glauser
("Wachtmeister Studer") steht. Gemeinsam mit Eugen-Drummer
Fisch, Aeronauten-Sänger Olifr Maurmann, Tom Etter (Musiker und
Produzent) sowie dem Schauspieler und Sprecher Daniel Kasztura wurde
dieses Projekt realisiert. Neben rezitierten Texten finden wir hier
interessante mit u.a. Cello, Marimba und Harmonium arrangierte Instrumentals
und Songs zu diesem großen Autoren.
Der am Glauser-Projekt
beteiligte Musiker (bei "Starfish", siehe LEESON 1/95)
und Produzent Tom Etter hat nicht nur obige Eugen-CD sondern auch
das neue Album der Zürcher Scuba Divers produziert. Die einstige
Funk- und Soul-Band bemüht sich mit "Slow Motion" (CD:
Ausserhaus/RecRec D:-) vom Image der Partyband wegzukommen. Und
das gelingt der Gruppe um die beiden Schwestern Gerda und Kathrin
Tremli mit ihren Trip-Hop-artigen Songs ziemlich gut.
Eine gleichermaßen
witzige wie musikalisch verspielte Band sind Les Reines Prochaines:
Fünf Frauen, die seit einigen Jahren mit eleganten Songs zwischen
Vaudeville, Chanson, Kurt-Weill-Referenzen, Folk und Rock aufwarten.
"Le coeur en beurre" (CH: RecRec, D: -) heißt das dritte
Werk der Baslerinnen. Wobei die inzwischen ausgestiegene, ehemalige
"Königin" Pipilotti Rist - übrigens auch eine bekannte
Videokünstlerin - mit einer wunderbaren Coverversion von Chris Isaaks
"Wicked Game" (das hier allerdings "Opfer dieses
Lieds" heißt) glänzt.
Die Primitive
Lyrics sind eine ziemlich gute, schwyzerdütsch rappende Hip-Hop-Combo
aus Zürich. "Druck vo allne siite" (CH: Sun-Tic Reckkords,
D:-) heißt ihre neue Mini-CD: Zwischen Groove und dezenten Crossover-Ansätzen.
Einen Singles-Club
haben die Labels Noise Product und Post Tenebras Rock ins Leben
gerufen. "Club45" soll die Erstlingswerke von Genfer Bands
veröffentlichen. Nummer 1 bringt zwei Songs der Hardcore-Band Yawn:
"Time" und "Kill Your Children". Das im Sommer
94 gegründete Quintett hat sich bereits durch ausgiebiges Livespielen
einen guten Namen gemacht. Kontakt: Noise Product 0041-22-7816152.
Zuguterletzt
noch der Hinweis, daß Rudolph Dietrich (siehe ausführliches Interview
in LEESON 3/95) mit seinem Bluesalbum "Monsieur L`ti bon ange"
endlich ein deutsches Label gefunden hat: Glitterhouse (Vertrieb:
EfA). Das freut uns! Auch die Konstanzer Multiinstrumentalistin
und Soloentertainerin Shirley Anne Hofmann hat für ihr Debütalbum
"Euphoria" (Label UsineS/RecRec, siehe LEESON 2/95) ein
deutsches Label gefunden: "Z.O.O." respektive NRW in Herne
kümmert sich nun um die Deutsch-Kanadierin.
Neuerscheinungen
aus der deutschen Jazzszene
Von
Axel Bußmer
Während Us-amerikanische
Jazzer bis auf wenige Ausnahmen glücklos zwischen Neotraditionalismus,
HipHop-Anbiederungen und langweiligem Fusion-Gedöns schwanken, erscheint
in den deutschsprachigen Ländern derzeit eine exzellente CD nach
der anderen. Dabei sorgen gerade junge MusikerInnen aus den Generationen
nach Mangelsdorff und Brötzmann für außergewöhnliche Hörerlebnisse.
Meist bewegen sie sich souverän auf hohem Niveau zwischen Klassik,
Moderne und auch freiem Jazz. Dabei reflektieren sie die Errungenschaften
des freien Spiels auf der Grundlage durchaus ausgefeilter Kompositionen.
Nach der fantastischen
Duo-CD mit Pianist Georg Ruby und der genauso spannenden CD mit
Vertonungen von Oskar Pastior-Gedichten vereinigt die Sängerin Gabriele
Hasler auf ihrem neuesten Album intensives Duo-Spiel mit dem Bläser
Roger Hanschel (Kölner Saxophon Mafia und Blau Frontal) mit Vertonungen
von Gedichten der amerikanischen Sprach-Avantgardistin Gertrude
Steins (1874 - 1946). Auf "Go in green" (JazzHausMusik)
wird die Dichterin einer eigenwilligen Betrachtung unterzogen. Aus
dem Duett wird unversehens ein Zwiegespräch mit der vor einem halben
Jahrhundert verstorbenen Dichterin. Ein kammermusikalisches Erlebnis
der Dritten Dimension.
Saxophonist
Wollie Kaiser (Kölner Saxophon Mafia, Klaus König Orchestra) legt
die zweite Produktion von Timeghost (Reinhard Kobialka, dr, Ulla
Oster, b, und der auch im Jan von Klewitz Quintet mitspielende Stefan
Lottermann, tr) vor. Wie schon die erste CD "tust du fühlen
gut" ist auch "Post Art Core" (Jazzhaus Musik) ein
witzig-anarchistischer Rundgang durch Pop und Rock. Alles kräftig
durcheinandergemischt und mit einer gehörigen Portion Ironie und
Jazz versehen, versteht sich. Entstanden ist die "zeitgemäß
unzeitgeistige Antwort auf den Zeitgeist". - "Absolut
ungeeignet für Puristen jedweder Couleur und Verfechter der reinen
Lehre". "Post Art Core ist damit auch die zeitgemäße Variante
politischer Musik ohne Betroffenheitsgedöns und lametierenden Rückzug
ins Innere Exil.
Zusammen mit
Bassist Anthony Cox und Schlagzeuger Daniel Humair veröffentlicht
Tenor- und Sopransaxophonist Christof Lauer (u. a. Carla Bley Big
Band, United Jazz & Rock Ensemble) mit "Evidence"
(CMP) ein fast ausschließlich aus Standards bestehendes Album. Aber
mit seinem free-jazzigen Zugriff gewinnt das Trio Stücken wie "Evidence"
(Monk), "Blue & Green" (Davis) und "In a sentimental
mood" (Ellington) neue und überraschende Seiten ab. "Evidence"
ist schon jetzt einer der Höhepunkte des Jahres.
Der explosive
und expressive Saxophonist Matthias Schubert ist festes Mitglied
des Klaus König Orchestras und erhielt kürzlich den Jazzpreis des
Südwestfunks und des Landes Rheinland-Pfalz. Auf "Blue and
grey Suite" (enja), der ersten CD mit seinem kraftvoll aufspielenden
Quartett (Simon Nabatov, p, Lindsey Horner, p, Tom Rainey, dr),
kredenzt er eine atemberaubende Mischung aus Tradition, Free-Jazz,
Moderne und Surrealismus. Sogar auf der über dreißigminütigen, mehrschichtigen
"Blue and Grey Suite" - inspiriert von dem bekannten "Blaugrau
bleibt Blaugrau" des Bauhaus-Artisten Andor Weininger - läßt
die Spielfreude in keiner Zehntelsekunde nach.
Endlich veröffentlicht
der in Berlin lebende Saxophonist Jan von Klewitz (u. a. Septer
Bourbons Incredible Four, Ulla Oster Group) sein längst überfälliges
CD-Debüt als Leader. Die "Bonehenge Suite" (JazzHausMusik)
wurde speziell für die beiden unterschiedlichen Posaunisten Stefan
Lottermann (Wollie Kaiser Timeghost, Heinz Sauer Quintett) und Iven
Hausmann komponiert. Die Kompositionen verweisen gleichzeitig auf
die urtümliche Kraft jahrhundertealter Melodien und die pure Freude
am spontanen Zusammenspiel.
Das Hannes Claus
Quartett besteht aus dem Bassisten Thomas Biller (Buggy Braune Band),
dem famosen Holzbläser Claudio Puntin und Gitarrist Werner Neumann
(Franck Band, Drei vom Rhein). Auf ihrem Erstling "Walk"
(Acoustic Music Records) spielen sie angeregt und gewitzt mit den
verschiedensten Musikstilen von Blues bis Latin und Marschmusik.
Und dann schleicht sich plötzlich eine feine Ballade in unser Ohr:
"Au Mary`s Hotel". Getragen von Claudio Puntins sehnsüchtigem
Klarinettenspiel: Wunderschön!
Die zweite CD
von Matalex dokumentiert einen gewaltigen Schritt nach vorne für
die Gruppe. Waren sie bei ihrer ersten CD eine Studio-Band, die
eine äußerst gelungene Fusion-CD ablieferte, ist Matalex bei ihrer
zweiten CD "Jazz Grunge" (Lipstick Records) eine fest
zusammengewachsene Gruppe mit einem eigenen musikalischem Konzept.
Dabei ist der CD-Titel kein Etikettenschwindel, sondern eine ziemlich
genaue Inhaltsangabe: Die urwüchsige Kraft des Grunge wird mit der
Virtuosität und der Improvisationsfreude des Jazz verbunden. Das
ganze ist spannend, kraftvoll und, wenigstens bisher, ziemlich einzigartig.
Nur Wayne Horwitz bemüht sich mit seiner Seattle-Band "Pigpen"
um eine ähnliche Verbindung. Es ist eine Fusion zwischen Jazz und
Rock, wie sie auch zu Beginn der 70er praktiziert wurde. Heute werden,
wie wir bei "Matalex" eindrucksvoll hören, nur die Gitarren
in der Folge von Led Zeppelin, Heavy Metal und Punk un einige Grade
härter und lauter gespielt.
Ein Duo ist
die intensivste Form des musikalischen Zusammenspiels. Wenn sich
aber ein Tastenmann auf einem Computer mit Midiotics-Setup (Joker
Nies) und ein Altsaxophonist (Jeffrey Morgan) dafür zusammenschließen,
ist gelinde Skepsis angebracht, ob das musikalische Experiment gelingen
wird. Ob der Avantgarde-Anspruch nur deshalb hochgehalten wird,
um mangelnde musikalische Substanz zu verheimlichen?. Bei der ersten
CD von Pair a` Dice, "Snake Eyes" (Random Acoustics),
ist diese Skepsis vollkommen unbegründet. Hier entstand ein ungemein
komplexes, aber immer live-klingendes musikalisches Experiment,
welches zu aufmerksamem Hören verpflichtet. Free Jazz-Avantgarde
at it`s best!
Aus Berlin kommt
mit "Reedstorm" (Acoustic Music Reocrds) ein ausgezeichnetes
Saxophon-Quartett. Mutig setzen sich Roland Schmitt, Micha Scheunemann,
Torsten Piper und Dagmar Thimm zwischen die Stühle Tradition und
Moderne. Dabei steht bei ihnen das kraftvolle Ensemble-Spiel gegenüber
langen Soli im Vordergrund. Sie eifern damit erfolgreich Us-amerikanischen
Gruppen wie dem "29th Street Saxophone Quartet" nach,
ohne in plattes Epigonentum zu verfallen.
Zwar ist das
John Stowell Trio nach dem Us-amerikanischen Gitarristen Stowell
benannt, aber Schlagzeuger Hiram Muschler und Bassist Florian Dölling
kommen aus Freiburg. Außerdem schrieb Dölling fast alle Kompositionen
der im vergangenen Februar Live aufgenommenen Debüt-CD "Somewhere"
(Seraphon). Entstanden ist, teilweise an Slow Sco erinnernder, erfrischend
zupackender Gitarrenjazz. Dölling spielt auch bei dem UpART I. G.
Ensemble, einem Zusammenschluß Freiburger Musiker, mit. Auf dem
knapp achzigminütigen Konzertmitschnitt "Juxtapositions"
(Seraphon) wandelt die zwölfköpfige Gruppe (u. a. mit Saxophonist
Matthias Stich) erfolgreich auf den Spuren von Tim Berne.
"Visitors"
(Acoustic Music Record", die zweite CD der Berliner Gruppe
"Loftline" (Saxophonist Christian Raake, Pianist Peter
Schenderlein, der neu hinzugekommene Bassist Alexander Procop, Schlagzeuger
Max Vonthien), ist wesentlich stärker als ihr Erstling: Man spielt
homogener und straighter zusammen. Besonders die langsamen, bluesgefärbten
Stücke klingen exzellent. Auch integrieren sie erstmals, behutsam,
Samples in ihr Spiel.
Ein beeindruckendes
Debüt gelingt dem noch unbekannten Dirk Balthaus/Bert Lochs Quartett
mit "Tales of the frog" (Acoustic Music Records). Mit
sicherem Gespür für griffige Melodien und Stimmungen spielen sich
Bert Lochs, tr, Dirk Balthaus, p, Sven Schuster, b, und Steve Altenber,
dr, durch ihre Eigenkompositionen. Diese sind mal balladesk, mal
funky, aber immer straight und inspiriert gespielt.
Schrammel &
Slide nennen die beiden Rockgitarristen Hans Reffert und Adax Dörsam
ihr Projekt. Auf "Deux" (Wonderland) interpretieren sie
auf akustischen Gitarren verschroben die verschiedensten Stile.
Zigeuner-Jazz, Hawai-Gitarren, Mississippi-Blues, Hillbilly und
Ländler mischen sich friedlich zu einer schrammeligen, bierseeligen
(oder weinseeligen) Musik für`s Lagerfeuer.
Zum Abschluß
nun doch noch ein Hinweis auf die alten Free-Jazzer. Die September
Band, bestehend aus den Free-Jazz-Urgesteinen Paul Lovens, dr, Shelley
Hirsch, voc, Rüdiger Carl und Hans Reichel, git/dax, veröffentlicht
mit dem Konzert-Mitschnitt ihres "Vandoeuver Concerts"
(FMP) fast ein Pop-Album. Freier Jazz, imaginäre Folklore, Film-
und Weltmusik werden zu einem bezaubernden Gemisch zusammenimprovisiert.
Eine Sternstunde für die September Band, den Freien Jazz und alle
geneigten Hörer. |