Nr. 4 / April 1996

















Gästebuch


Plattenrezensionen April 1996

Tip:
Homepages von Bands, Musikerinnen und Musikern aller Stilrichtungen findet ihr in der Jukebox

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Plattenrezensionen

Combustible Edison
Schizophonic
[Bungalow/Rough Trade]

[tb] Sie sind mitverantwortlich für das neuerliche Easy-Listening-Revival, gab doch ihr grandioses Debütalbum "I, Swinger", 1994 den Startschuß für viele neue Projekte zwischen dezenten Fahrstuhlsounds, Barjazz und Filmmusiken. Mit dem nun endlich erschienen Nachfolger entführen Bandleader Michael Cudahy, besser bekannt als "The Millionaire", und seine charmante Sängerin Miss Lily Banquette wieder in die bunte Welt beschwingter Sounds, farbenprächtiger Cocktails und bizarrer Klanggebilde. Hier ein Vibraphon, dort eine Hammondorgel, da eine Melodica, dort ein Spinett. "Checkered Flag" swingt, "Bluebeard" hat den Latin-Touch, "Solid State" pendelt zwischen Latin und Weltraumsounds und "Object d`amour" kommt orientalisch daher. Alles allerdings feinst arrangiert und dezent gespielt. Beim Stück "52" verbreitet Miss Lilly gar noch stimmige Lebensweisheiten: "Too much luck is bad luck". Im Mai kommen Combustible Edison übrigens (endlich!) erstmalig auf Deutschland-Tournee. Im nächsten LEESON werden wir uns ausführlicher mit Herrn Millionaire und anderen Easy-Listening-Größen auseinandersetzen.

Tocotronic
Wir kommen um uns zu beschweren
[L’age d’or/Motor music]

[mz] Kaum ist das tolle Mini-Album "Nach der verlorenen Zeit" verdaut, schon gibt es wieder Nachschub von der derzeit besten deutschsprachigen Band. Was Tocotronic den meisten anderen deutschen Bands und der gesamten Diskurs-Pop-Elite voraus hat, ist, daß bei ihnen zum ersten Mal seit langer, langer Zeit Musik und der deutschsprachige Text eine Einheit bilden. Ihre Stücke sind von einer einfachen Schönheit, oder von einer schönen Einfachheit. "Wir kommen um uns zu beschweren", das dritte Bravourstück der Freiburg-Hamburg-Connection, steht den großartigen beiden vorangegangenen Alben in nichts nach. Balladeskes ("Ich möchte irgendetwas für Dich sein") wechselt mit Schrammelsound ("Ich hab’ geträumt, ich wäre Pizza essen mit Mark E. Smith") und irgendwo dazwischen finden sich die von Schlagzeuger Arne Zank solo eingespielten Unartigkeiten. Der diesesmal mit "Ich mache meinen Frieden mit Euch"("Halloo Vollidiot/Halloo Vollidiot/Ich mache meinen Frieden mit Euch/Halloo Arschloch/Halloo..") einen kleinen Underground-Hit für all die unsäglichen Gestalten dieser Erde beigesteuert hat. Danke!

FSK
International
[Sub Up/EfA]
Diverse
Slow Music - Texas Bohemia II
[Trikont/Indigo]

[tb] Platte des Monats, ohne Zweifel! Nachdem jüngst erst das (empfehlenswerte!) Album der Münchner "FSK bei Alfred" (siehe LEESON 2), erschienen ist, das die Frühzeit dieser wichtigen deutschen Band dokumentiert, nun endlich das lang erwartete neueste Werk. Ein Masterpiece wie schon "Son of Kraut" und "Sound Of Music". Eingespielt wieder zusammen mit dem amerikanischen "Brother-in-Mind" David Lowery (einst Kopf der Camper van Beethoven, nun erfolgreich als "Rocker" mit Cracker zugange). Wie auf den Vorgängeralben graben sich Michael Melian, Thomas Meinecke, Justin Hoffmann, Wilfried Petzi und Carl Oesterhelt auch hier durch den Urgrund zwischen bajuwarischer Folklore, Country, TexMex und Rock. Das alles verpackt in ein eindeutiges Pop-Konzept mit Querverweisen zwischen Politik und Musik. Diskurs-Pop im besten Sinne, in gewißer Weise sogar die Old-School des derzeit in Hamburg stattfindenen Diskurs-Pops von Blumfeld, Cpt. Kirk & und anderen.

BesucherInnen der Livekonzerte kennen manche Titel schon. Etwa "Das schlechteste Land der Welt" oder die "Karl-Eduard-von-Schnitzler Polka". Und natürlich die beiden Gender-Songs: alte Hits wie "She acts like a woman should" (Mariyln Monroe) und "To The Other Woman" (J.C.Riley) die hier eben nicht von Frauen sondern Männern (Meinecke respektive Petzi) gesungen werden. Dazu Songs in Zydeco-Manier ("Jane Fonda Lied"), Residents-artige Instrumentals, tpyische FSK-Polkas sowie eine Hommage an die (wieder auferstandenen) Münchner Krautrocker Amon Düül II mit Velvet-Underground-Touch. Ein Novum dürfte auch die -naja - "Dance-Version" des Cracker-Stückes "Euro-Trash Girl" sein.

Als Musikarchäologe hat sich FSK Thomas Meinecke auf "Texas Bohemia II" wieder einmal aufgemacht und Obskuritäten aus den deutsch-böhmisch-mährischen Gemeinden in Texas mitgebracht. Nachdem Vol. 1 von 1994 schon für Exzesse unter Rockfans gesorgt haben sollte, bringt Teil 2 nun "Slow Music" aus der Region bzw. den Regionen um San Antonio, Austin und Houston. Dort, wo die lokalen Tanzkapellen auf Namen wie "Adolph Hofner And His Pearl Wranglers" oder "Jimmy Brosch And His Happy Country Boys" hören. Ziemlich weirder Stuff zwischen Polka, Schlager, Country, Western Swing und anderem. Ob wir nun Elvis in der Bauern-Swing-Version oder eine Adaption von Merle Haggards Redneck-Epos "Okie From Muskogee" hören. Highly recommended für alle aufgeschlossenen HörerInnen und ein großer Spaß für WG-Bewohner die ihren Lieben einmal wieder etwas gutes tun wollen. Das sollte jeden Green-Day-Fan zum Heulen bringen!

Kastrierte Philosophen
Where did our love go
[Strange Ways/Indigo]

[hu] Album Nummer zehn der Kastrierten Philosophen - und es ist ein gutes! Letztes Jahr auf der Popkomm traten sie beim OnU-Sound-Abend auf. Da hat sich ihre gegenwärtige Vorliebe für Dub/Reggae in Verbindung mit der für sie so typischen sphärischen Dichte gezeigt. Inzwischen haben sich die "Philosophen" aber auch von ihrer Schwermütigkeit gelöst und spielen derart frisch und locker auf, als hätten sie sich eben erst gegründet. Als Rezensent kann man in eine Band, die man über viele Jahre mitverfolgt und für großartig befunden hat, auch schnell zuviel hineininterpretieren: Aber ich höre da eine Spielfreude und Leichtigkeit heraus, die zwar dem Trend von Dub und Easy Listening gleichermaßen gerecht wird, trotzdem als unbekümmert zeitloses Werk dasteht. "Where did our love go" hat Soul und spirituelle Kraft.

Um die Philosophen-Köpfe Katrin Achinger und Mathias Arfmann haben sich diesmal die "Non Stop People" geschart, die mit dem Reggae-Dub-Projekt Vision seit Jahren den deutschen Mark auf diesem Gebiet beherrschen. Bernd von Ostrowski sorgt mit seinem Vibraphon für neue Klangfarben. Bleibt zu hoffen, daß das Album für Furore sorgen wird.

Tilman Rossmy
Willkommen zuhause
Diverse
Camp Imperial
[L`Age D`Or/Rough Trade]

[tb] Neues von den Hamburger Goldkehlchen. Neben der neuen Tocotronic (siehe Extra-Kritik) und Schorsch Kameruns Solowerk (siehe Artikel) zwei weitere bedenkenlos empfehlenswerte Neuheiten von L´Age D´Or.

Das (gute alte) Punk-Motto DIY, Do it Yourself - ohne die damalien musikalischen Vorgaben - schwebt über Camp Imperial, einem Sampler, der gleich 20 Hamburger Produktionen, alle ohne großen Schnickschnack im Imperial-Studio aufgenommen, vorstellt. Das reicht von einer atemberaubenden Spoken-Word-Performance vom Hrubesch-Youth-Sänger Kai Damkowski alias Klausner Klang Commando (klasse!) über Daddel-Techno von Spydaboy und Heim-House von Furarium bis hin zu Schrammelcore vom Tocotronic-Drummer Arne Zank und Kinderzimmer-Pop von Teer Gleene Muck. Natürlich fehlen auch Schorsch Kamerun (Goldene Zitronen), der einstige Huah!-Kopf Knarf Rellöm (im April gemeinsam mit den Aeronauten auf Tour) und Andreas Dorau nicht. Amüsante Merkwürdigkeiten sind das karibische "Everybody`s Glad on Trinidad" von Titanic-Autor Ernst Kahl mit Hardy Krüger sowie die Hardrock-Parodie "Magnum`s Son" vom Berliner Comiczeichner Phil. Letzteres ist eine bitterböse Vater-Sohn-Geschichte, wo der Metal-Vater den Filius gar zwingt, einen Scorpions-Song zu pfeifen (Kindesmißhandlung!).

Glattweg gewonnen hat Tilman Rossmy, der einstige Kopf der Band "Die Regierung" (früher Essen, dann Hamburg) mit seinem Solo-Debüt. In seinen schönsten Momenten hat dieses lässige, von Bernd Begemann produzierte, mit einer relaxten Band eingespielte, Album den Prefab-Sprout-Touch. Wie die genialen Briten auf ihrem Meisterwerk "Steve McQueen" schafft auch Rossmy wunderbarsten Pop mit dem (europäisch transponierten) Country-Touch. Eleganter Gitarrenpop mit feiner Instrumentierung, hier mal ein Örgelchen, dort eine feine Dobro, edelst arrangiert. Mit der herrlich beiläufigen Stimme, die wir schon bei der Regierung liebten, singt Rossmy vom "Mädchen mit dem Body-Count-T-Shirt", von "Liebe ist nicht so wie bei den anderen" oder "Ulrike, eine Lektion mehr in Liebe" mit der schönen Textzeile: "Wir sitzen in der Dämmerung und hören "Please don`t break my big gay heart".

Tortoise
Millions now living will never die
[City Slang/EFA]

[hu] Die mittlerweile zweite, offizielle LP der Chicagoer erinnert an Gepflogenheiten aus den 70er Jahre: Ein 20 minütiges Stück nimmt die Hälfte der Produktion ein. Allerdings kommt in "Djet", so der Titel des erwähnten Stückes, kein Schlagzeugsolo vor. Dafür aber jede Menge melodiöse Instrumentierung und Gefiepe, das auf differenziert pulsierende Rhythmen aufsetzt. Tortoise zerlegen Musik in repetitive Grundmuster, mischen durch und setzen ein neues Gebilde zusammen: Was diesmal äußerst relaxt und, wie gesagt, sehr melodiös daherkommt. Die Gruppe entfernt sich dabei etwas vom Dub, der bei der ersten Produktion noch deutlicher herauszuhören war. Das Album ist aber noch eingängiger als der Erstling geraten. (Ein Interview und weitere Hintergrundinfos finden sich in LEESON 1).

The Cakekitchen
The Devil & The Deep Blue Sea
[Raffmond/RTD]

[tb] Auch schon fast zehn Jahre ist es her, daß neuseeländischer Pop hierzulande richtig hip war: mit Bands wie den Chills, Sneaky Feelings, Clean, Bats oder den Verlaines. Im März feiert übrigens "Flying Nun", das wichtigste Neuseeland-Label 15-jähriges Bestehen! - Etliche der NZ-Bands können mit ihren obskuren Popsongs auch als Mitinitiatoren der ganzen Lo-Fi-Geschichte bezeichnet werden - denken wir zum Beispiel an die Tall Dwarfs. Einer, der auch schon lange mit dabei ist, dessen Bekanntheitsgrad sich aber leider immer noch (sehr) in Grenzen hält, ist Graeme Jeffries. Einst bei den "This Kind Of Punishment" aktiv, werkelt er seit einigen Jahren mit seinem Projekt The Cakekitchen herum. Gemeinsam mit dem französischen Drummer Jean-Yves Douet gibt er als Minimal-Duo (Gitarre und Drums) maximal gute Konzerte und veröffentlicht sehr schöne Platten: Beim kleinen, auf NZ-acts spezialisierten Landsberger Label "Raffmond". "The Devil & The Deep Blue Sea" ist das fünfte Cakekitchen-Album und bringt auch hier wieder diese verschrobene Mischung aus Schrammelcore, verspielten Pophymnen, effektgeschwängerten Gitarren und gelegentlichen Lärmexzessen. Zwar ist diesesmal, wie beim letzten Album "Stompin` Through The Boneyard" kein "Hit" wie "Tell me why you lie" dabei. Das Ganze ist trotzdem eine höchst erfreuliche Angelegenheit.

Flowerpornoes
Ich & ich
[Moll/EFA]

[hu] Der Titel deutet es an: Tom Liwa hat wieder Texte geschrieben, die persönlicher nicht sein könnten. Neun Stücke, darunter als einzige Coverversion Van Morrisons "Sweet Thing", haben die Flowerpornoes von Juli bis Dezember letzten Jahres eingespielt - für Aufnahmen steht ihnen ein bandeigenes Studio zur Verfügung. Musikalisch haben sich Liwa & Co. ein bißchen verändert. Denn die Songs sind allesamt satt durcharrangiert, bei manchen hat man sich gar Bläsersätze geleistet. Und an Gastmusikern wurde eingespannt, was gerade in der Nähe war. Wer genau hinhört kann zum Beispiel Chris Cacavas an der Orgel heraushören ("Eng in meinem Leben"). Leander Haussmann, der in der Musikwelt zwar keinen Namen hat, dafür aber Theaterkundigen als Intendant des Bochumer Schauspielhauses bekannt sein dürfte, spielt Mundharmonika ("Respekt") und Krite von den Sharon Stoned ist an Gitarre und Orgel zu hören. Die Songs haben zwar noch den rauhen, persönlichen Charakter, für den die Flowerpornoes bekannt sind, wirken aber geschliffener. Das könnte diesesmal fast als Mischung aus Schlager und Chanson durchgehen. Am 21. April spielen sie im "El International" in Zürich, am 18.4. im Münchner "Substanz".

Azalia Snail
Blue Danube
[Normal/Indigo]

[mz] Bei der "Leeson-Geburtsparty" im Juli vergangenen Jahres im Konstanzer Kulturladen verstörte die New Yorkerin den Großteil der anwesenden Hörerschaft, die fluchtartig akustischen Schutz im Vorraum des Konzertsaales suchte. Wer blieb und sich nicht von den Distortion- und Feedback-Klängen, die immer wieder von semi-akustischen Low-fi-Einlagen durchbrochen wurden, abschrecken ließ, erlebte ein spannendes, stellenweise hypnotisierendes Konzert, in dem die zarte, zerbrechliche Stimme Azalias gegen den Wall of Noise der Gitarren, der den gesamten Raum vibrieren ließ, ankämpfte.

"Blue Danube" ist die light Ausgabe, dieser "Downtown post psychedelic space music" (New York Press). Ruhiger, zärtlicher ertönen hier die Gitarren, werden angereichert mit Geige und Trompete, Auto-harp und Electronics. Azalias verzerrter Gesang fügt sich gleichsam als Instrument in den Gesamtkontext ein, bestimmt ihn, ohne jemals aufdringlich zu sein. Nicht alles ist zwingend, vieles aber mehr als nett, findet seine Bestimmung gerade in dieser charmanten Unaufdringlichkeit der Stücke. Jemand schrieb einmal sie sei der "weibliche Beck", genauso gut ließe sich auch Beck als die "männliche Snail" titulieren.

Cowboy Junkies
Lay it down
[Geffen/BMG]

[sg] Die Cowboy Junkies haben den Blues immer schon so gespielt, als sei er Kammermusik. Erinnert sei nur an ihre Session in einer alten Kirche und die ganz zarte Version von "Sweet Jane". Auch auf ihrer neuen Platte haben sie sich nicht von ihren Barhockern erhoben. Ganz gemächlich spielen sie, ganz vorsichtig ist Margo Timmins Gesang, ganz sehnsüchtig und zerbrechlich die Atmosphäre: "She says, I`m getting that lonely feeling, you know what I mean?"

Auch die Aufnahme ist wieder so direkt gehalten, daß selbst die leisen Klänge des über die Snare streichelnden Besens so unglaublich nahe erscheint. Unweigerlich läuft dazu vor meinen Augen ein grobkörniger Streifen ab, der nichts als eine endlos lange Fahrt durch unendliche Weiten zeigt, Träume von einer leeren, verrauchten Bar.....

Guru Guru/Uli Trepte
dito.
Ax Genrich
Wave Cut
[beide ATM Records]

[nf] So langsam bahnt sich eine veritable Krautrock-Renaissance an: Nachdem die unbestrittenen Könige der teutonischen Rockmusik der frühen 70er, Lothar Meids und Renate Knaups Amon Düül II, vor einem runden halben Jahr ihr Comeback feierten, gibt es nun auch neues Futter für alle Guru-Guru-Fans: Eine neue Platte von Ax Genrich, dem ehemaligen Bassisten und zweiten Sänger dieser mindestens ebenso legendären Truppe, und eine CD mit bisher unveröffentlichten Live-Aufnahmen von 1972 - gekoppelt mit einigen (bisher unveröffentlichten) Solostücken von Uli Trepte, dem Dritten im Guru Guru-Bunde. Was Genrichs, Treptes und Mani Neumaiers Band seinerzeit so faszinierend machte, ist aus diesen "Lost Tapes" unschwer herauszuhören: Ultralange, dynamisch-federnde Kollektivimprovisationen im Stile der Jefferson Airplane oder der damaligen Grateful Dead (aber ungleich härter), psychedelische Gitarrenexzesse, hart an der Grenze zur Trip-Musik: "Der LSD-Marsch" heißt denn auch folgerichtig einer der beiden 72er Live-Tracks (Spieldauer: 23:50 Minuten!). Das mit 18:22 Minuten nur unwesentlich kürzere zweite Stück "Bo Diddley" würde dem so Geehrten sicherlich schlaflose Nächte bereiten - fände er je einmal die Gelegenheit, es zu hören. Mit klirrenden und sirrenden, dem Stil eines Jimi Hendrix nicht unähnlichen, Gitarrensoli spielt sich hier Ax Genrich unüberhörbar in den Vordergrund und degradiert seine Mitmusiker fast zu Statisten - ein Ohrenschmaus für alle, denen ein Instrumentalsolo gar nicht lange genug dauern kann (diejenigen, die im Plattenschrank beispielsweise Mountains Album "Twin Peaks" mit der über dreißigminütigen(!) Version von "Nantucket Sleighride" stehen haben). Wesentlich unspektakulärer sind dagegen die in recht privatem Rahmen entstandenen Solo-Tracks von Uli Trepte: Schöne, fließende, typisch "progressive" Rockmusik der damaligen Zeit, ebenfalls mit sehr langen Gitarrensoli (von Roman Bunka) und herrlich "teutonisch" klingenden, englisch gesungenen Vocals (meist von Trepte selber). Hört sich exakt so an, als wär´s grad gestern 73 geworden...

Und Ax Genrich heute? Kann immer noch verdammt flüssig Gitarre spielen, der Mann. Produziert hat das Werk Tom Redecker von "The Perc meets the Hidden Gentleman", deren Verdienste um die Rehabilitierung des Kraut-Rock gar nicht hoch genug einzuschätzen sind. "Come back " geht sehr energisch zur Sache, von den Vocals einmal abgesehen, die sind...nun ja, sagen wir mal, jenseits von Gut und Böse. Auch wenn´s dann später hin und wieder etwas ruhiger wird: Am liebsten mag es Genrich richtig rockig - in "The Rebel" etwa oder dem Titelstück. Schöne relaxte Rockmusik, das Ganze; keineswegs anachronistisch, aber auch nicht krampfhaft "trendy". - "Zeitlos" ist wohl das am ehesten passende Adjektiv.

Biack
Turn loose the idiots
[Normal/Indigo]
[mz] Lo-fi-noise zum zweiten! Im Gegensatz zur Labelkollegin Azalia Snail, steht bei Biack, dem früheren Sänger und Gitarristen der belgischen Band Joyhouse, die Stimme ganz im Vordergrund. "Turn loose the idiots" ist das Werk eines Einzelgängers, der sich zuhause den angestaubten, klischeebeladenen Blues von der Seele schreit. Die Stücke, meist mit simplen Perkussions und Gitarren unterlegt, gelegentlich durch Billigelektronics erweitert, entfalten einen rüden Charme, der ganz durch den Aufnahmeprozeß bestimmt ist: Die einzelnen Spuren des Mehrspurengerätes bezeugen gleichsam die verschiedenen Stadien der Komposition, sind dekonstruktive Elemente eines kleinen Gesamtkunstwerkes, das um die fiktive Figur Howard und dessen Unterbewußtseinsströme kreist. Biack ist die europäische Antwort auf eine mittlerweile fast schon zur Bedeutungslosigkeit verkommenen, angestaubten, amerikanischen Lo-fi-Ästhetik.

Diverse
God Less America
[Crypt/EfA]

[tb] Geschichten erzählen ist die Domäne der Countrymusik. Dabei können das Stories, Sozialdramen, Geshichten aus dem Leben der kleinen Leute, herzzereißende Liebesstories oder Redneck-Epen sein. Der hochgradig witzige Sampler "God Less America" bringt 40 Minuten lang feinsten Country-Trash - zumindest textlich gesehen: irrwitzige, obskure Merkwürdigkeiten über Drogengebrauch, seltsame Todesarten, etc. Musikalisch sind die 16 Songs auch für den echten Countryfan brauchbar. Abgesehen vom Novelty-Charakter, dem Obskur-Bonus der aberwitzigen Texte, der auch Menschen, die eigentlich nichts mit Country anfangen können, zu "God Less America" greifen lassen.

Crypt-Records, das Label, des in Hamburg lebenden Exil-Amerikaners Tim Warren, eigentlich spezialisiert auf Garagenpunk (die exzellente Reihe "Back From The Grave", dessen Vol. 8 jetzt erschienen ist) hat für diesen Sampler tief in die Archive gegriffen und Absonderliches zutage gefördert. Songs, die zwischen 1955 und 66 entstanden sind und die die dunkle Seite des Country zeigen. Da jammert ein Kind namens Troy Hess im Stück "Please, don`t go topless mother" etwa, daß er der einzige Junge in der Schule sei, dessen Mutter "Topless" zum Job (Gogo girl) gehe. Die Hi-Fi Guys verkünden "Rock `n` Roll killed my mother" (vom heftigen Schaukeln in ihrem Stuhl fällt der alten Dame das Radio von der Kommode auf den Kopf. Ergo: Exitus) und Billy Ray erzählt die traurige Geschichte von Susie, der Drogenqueen. Country Johnny Mathis bitte um Gnade für einen mehrfachen Prositutiertenkiller, während Horace Heller in "Ed`s Place" als spoken word-Performance einen Mord an Frau und Liebhaber gesteht. Und und und....Die amüsantesten Countrystücke seit Kinky Friedmans "Asshole From El Paso" und "They ain`t makin` jews like jesus anymore". Ein Heidenspaß dieses Album!

Steve Wynn
Melting in the dark
[Enemy/IRS]

[hu] Nachdem Steve Wynn die letzten Jahre auch solo tourte - dabei nur mit der Gitarre in der Hand auf der Bühne stand - und nachdem bei Normal Mailorder unter dem Titel "Take your flunky & dangle" eine CD in folkig,bluesiger Tradition erschienen ist, habe ich mit einer ähnlich minimalistischen, persönlichen Scheibe gerechnet, die weitere akustische Sets zu bieten hat. Aber weit gefehlt. Steve ist mit "Melting in the dark" wieder im Gitarrenrock zu Hause. Quasi back to the roots, ähnlich wie mit seiner alten Band, den Dream Syndicate. Die 13 Songs sind mit Sean O´Brien, mit zwei Leuten der Bostoner Come und dem Schlagzeuger Arthur Johnson eingespielt. Live wird Wynn allerdings im April wieder ein anderes Line-up mitbringen: Neben den beiden von Come steht dann Armistead Wellford am Bass, der auch schon bei Steve Wynns anderem Projekt, den Gutterball, einen festen Platz hat. Am Schlagzeug wird auf dieser Tour Dennis Duck zu sehen sein, der einst schon bei den Dream Syndicate tätig war. Die neuen Songs der Platte indes sind weitere Perlen aus dem reichen Song-Reservoir des Steve Wynn. Filigranes Songwriting mit einer kräftigen Portion Energie vermischt.

Moose
Live a little love a lot
[Play it again Sam/Rough Trade]

[mz] Vom Noise-Pop der Anfangstage ist wenig übrig geblieben auf dem neusten Werk von Moose. Ähnlich wie die Boo Radleys haben auch Moose den Feedbacklärm der Gitarren gegen eigenwillige Baß- und Streicherarrangenments eingetauscht. "Live a little Love a lot" klingt streckenweise so sophisticated wie eigentlich immer nur die heißgeliebten Monochrome Set klangen. Kombiniert wird das Ganze aber weniger mit der Set typischen Schlichtheit als mit psychedelischen Soundspielereien und Arrangements, die auch einem Andy Partridge und seinen XTC gut zu Gesicht gestanden hätten. "Live a little love a lot" ist Pop-Musik jenseits jeglichen Brit-Hypes, denn Moose stehen heute mit ihrer antiquierten Auffassung von Pop-Musik ebenso alleine da, wie der greatest living englishman Martin Newell (Cleaners from Venus), neben dem sie sich langsam einen Platz im englischen Pop-Olymp erspielen.

Pat Thomas
Fresh
[Strange Ways/Indigo]
Walter Salas-Humara
Radar
[Normal/Indigo]

[tb] Es scheint, als habe der US-amerikanische Songwriter Pat Thomas - einigen LeserInnen vielleicht bekannt als aficionado der San-Francisco Neo-Folk-Szene, Boß des Hey-Day-Labels, Herausgeber der SPEX-Compilation "Hit me with a flower" - beim Hamburger Indie-Label Strange Ways eine neue Heimat gefunden. Nach einem Livealbum nun, hier seine erste Studio-Platte. Rockiger als zum Beispiel die 94 bei "What`s so funny about" erschienene Compilation "St.Katherine", ohne daß Thomas nun seine Folk- und Bluesvorlieben ganz ablegen würde. Alleine die Besetzungsliste des Albums läßt aufhorchen und den Fan einiges erwarten. So hören wir u.a. den großen Steve Wynn (Gutterball, Ex-Dream Syndicate) als Gitarristen bei einigen Songs. Chris Cacavas, nach Jahren als Keyboarder (bei Green On Red und ca. fünf Dutzend anderer US-Südwest-Rockbands) inzwischen selbst zum geschätzten Songwriter, Sänger und Gitarristen emanzipiert oder Gary Floyd (Sister Double Happiness) als Co-Sänger. Sonya Hunter und der Songwriter Pat Johnson sind weitere Mitstreiter bei diesem schönen, auf sympathische Art unhippen Rockalbum, das Thomas eigentlich auch einen größeren Hörerkreis erschließen sollte. Nicht nur wegen des witzigen Songtitels "Helmut Kohl & Rasputin". Der Erstauflage liegt übrigens eine Bonus-CD bei, mit u.a. einer Dylan-Coverversion ("Get Your Rocks Off") und einem vertonten Allen-Ginsberg-Text für alle überzeugten Nichtraucher wie unseren lieben Kollegen Hucky ("Put Your Cigarettes Off").

Schon etwas länger draußen ist "Fresh", das jüngste Solowerk von Walter Salas-Humara. WSH dürfte den Meisten als Kopf der großartigen Silos bekannt sein und der eine oder andere hat auch sein erstes Solowerk "Lagarjita" (88) im Regal stehen. Von der Stimmlage her tiefer als Thomas, singt und nöhlt sich WSH hier durch "Radar". Tendenziell etwas dunkler das Ganze, edgy, aufgerauht, mit Ecken und Kanten kommen die rockigen Stücke mit dezentem Folk- und Country-Einschlag. Interressant instrumentiert und arrangiert, mal mit wummernder Orgel, mal mit Violine schließt "Radar" an die Silos-Meisterwerke an. Anspieltips: "Evangeline" und "One More Dance".

Jalal
On the one
[OnU-Sound/EFA]

[hu] Jalal ist einer der Godfather des Hiphop. 1968 gründete Alafia Pudim, so Jalal Nuriddins damaliger Name, in Harlem, NYC, mit seinen Kumpels die "Last Poets" - eine Gruppe, die für die Urform des Rap verantwortlich zeichnet. Damals hieß das allerdings noch "spoken word" und war der gelungene Versuch, schwarze Kultur, Griot und neues Selbstbewußtsein der Schwarzen in den USA der 60er Jahre in einer neuen Kunstform zusammenzuführen. In der Rockkultur der 60er und frühen 70er Jahre nahmen die Last Poets einen großen Stellenwert ein. Die erste Rap-Single spielten sie 1969 mit Jimi Hendrix ein. Jalals Gedicht "Wake up, Niggers" übernahm Mick Jagger in den Film "Performance". Die illustere Biographie von Jalal und den Last Poets wäre eigentlich einen eigenen Artikel wert.

Inzwischen ist der stark von Gospel und Bebop beeinflußte Jalal mit dem Londoner OnU-Sound-Label verbandelt. Zusammen mit seinem Sohn Tariq spricht/singt er eine CD mit elf Titeln voll. Minimalistisch instrumentiert unter der Mitwirkung der Hausband von OnU-Sound (näheres siehe Artikel in diesem Heft) ist eine Platte entstanden, die im musikalischen Sinne cool ist. Die Jungs haben wirklich den Rhythmus in der Stimme - im Gegensatz zu vielen der Rap-Schnellaufsager.

Gene
To see the lights
[Polydor]

[mz] Ein bißchen Humor gehört ja schon dazu, als zweites Album, trotz (oder gerade wegen) aller Smiths-Epigonen-Vorwürfe, ein Compilation Album mit den Ursprüngen der Band, ebenso wie die Smiths seinerzeit, herauszubringen, den Vorwürfen und somit den bereits vorgefertigten Plattenkritiken weiter Vorschub zu leisten. Nichtsdestotrotz bildeten Gene seit ihrer Entstehung einen völlig eigenen Stil heraus, der sicherlich auch von den Smiths, aber nicht nur, geprägt ist, wie man auf "To see the lights" unschwer erkennen kann. Die CD enthält neben diversen Livetracks (u.a. einer Burt Bacharach Coverversion), einigen Radiosessions, all die schon lange gesuchten und vergriffenen Singles, die vor "Olympian" entstanden sind und die die Band bereits vor dem ersten Album auf die Titelseiten der englische Presse katapultiert hatten. Neben dem glanzvollen "For the dead", dem Beatles-Cover "Don’t let me down", sind es vor allem die Single B-Seiten, die die eine oder andere bislang unentdeckte Kostbarkeit hervorzaubern und das Warten auf das neue Album, Ende des Jahres, verkürzen.

Big Sandy And His Fly-Rite Boys
Swingin` West
Rosie Flores
Rockabilly Filly
[beide Hightone/Semaphore]

[tb] Der dicke Sandy und seine Cowboys aus Kalifornien haben sich (fast) ganz dem Western Swing verschrieben, einem frühen "Crossover" der Musikgeschichte. In den 30er und 40er Jahren kreuzten findige Musiker die populären Stile Swing und Country (respektive Hillbilly) zu dieser eleganten, tanzbaren Mischung. Populärster Vertreter war Bob Wills mit seinen legendären "Light Crust Doughboys" und den späteren, bekannteren "Texas Playboys". Wen die New-School-Swinger um Big Sandy auf den Geschmack gebracht haben, dem empfehle ich älteres Material von Wills (findet man immer noch gerne auf Börsen und Flohmärkten) auszuchecken. Bis dahin tut`s aber auch "Swingin` West" - ein richtiges Kleinod. Mit Gitarren, Stand-up-Baß, Drums und einer exzellent gespielten Steel-Guitar warten die fünf, ausgesprochen gut gekleideten Musiker (siehe Cover) auf. Sophisticated Dance Music!

Wer sich für Country interessiert, dem ist lovely Rosie Flores sicherlich keine Unbekannte. Auf "Rockabilly Filly" zeigt sich die Texanerin, wie der Titel schon sagt, von einer anderen Seite und hat sich hier ganz dem Rockabilly verschrieben. Dabei auch noch zwei singende Legenden - Janis Martin und Wanda Jackson - ins Studio miteingeladen. Absolutes Highlight des Albums und hitverdächtig: die Coverversion des Butch-Hancock-Titels "Boxcars".

P
same
[spin/EMI]

[sg] Ganz schön durchgeknallt, dieses Debütalbum. Beginnend mit einer Version von Daniel Johnstons "I save Cigarette Butts" haben P eine Ansammlung absolut abgedrehter Country-Nummern ("Mr.Officer"), kaputter Bluesstücke ("White man sings the blues") und immer wieder wüstem Krach ("Zing Splash") eingespielt, wobei eine schmachtende Version von Abbas "Dancing Queen" den absoluten Höhepunkt darstellt. Ebenso verrückt wie ihre Platte ist auch die Geschichte und das Line-Up der Band: Neben Sänger Billy Haynes von den Butthole Surfers und dem Bluesrock-Veteranen Bill Carter sind noch Johnny Depp und Sal Jenco dabei. Kennengelernt haben sie sich vor drei Jahren bei den Dreharbeiten zu "Gilbert Grape". An diesem Abend spielte man in Depps Nightclub "The Viper Room", als River Phoenix dort vor der Tür starb. - Vor diesem Hintergrund wirkt die Single "Michael Stipe" zwar etwas lächerlich, der Rest des Albums zeigt allerdings, daß die Vier hier einfach getan haben, wozu sie Lust hatten: Musik zu machen. "P" ist kein flaches Klischee-Album eines profilierungssüchtigen, narzißtischen Filmstars, das man gerne verreißen möchte, sondern ein abgedrehtes Album mit einer Klasse, die ich seit den Zeiten der Camper van Beethoven selten gehört habe.

Diverse
Doyres - Traditonal Klezmer Recordings 1979-1994
Diverse
Shteygers - New Klezmer Music 1991-1994
[Trikont/Indigo]

[tb] Klezmer, der "jüdische Soul" hat in den vergangenen Jahren eine Menge neuer Freunde gefunden und nach den Siebziger Jahren ein zweites Revival erlebt. Vor allem die New Yorker Band "Klezmatics" hat da echte Pionierarbeit geleistet. Das Münchner Label Trikont legt hier eine beispiellose Anthology vor, die 1992 mit dem Sampler "Yikhes" begonnen wurde und nun mit zwei weiteren Ausgaben fortgesetzt wird. "Shteygers" (deutsch "Wege") stellt jüngere Bands wie eben die Klezmatics oder Klezmokum aber auch bekannte Jazzer wie Don Byron, Branford Marsalis und Elliot Sharp mit Klezmer-Stücken vor. "Doyres" ("Generationen") befaßt sich mit den Bands, die dem Klezmer ab Mitte der 70er Jahre zum ersten Revival verholfen haben. Darunter die kalifornischen "The Klezmorim", aber auch die Klarinetten-Legende Dave Tarras, dessen Foto das Cover ziert oder die Klezmer Conservatory Band.

Wie bei ähnlichen Reihen (erinnert sei an die Zydeco- und Cajun-Reihe "Swamp Music") warten auch diese Sampler mit umfangreichen Booklets und lesenswerten Begleittexten auf. Unerläßlich für Klezmer-Fans.

Harald "Sack" Ziegler
Brick
[Marginal Records/
im gut sortierten Plattenhandel oder über: Harald "Sack" Ziegler, Eupener Str. 42, 50933 Köln]

[mz] Zwischen den schweizer Welttraumforschern, dem Plan und den musikalischen Versuchen eines Max Goldt bewegt sich das neuste Werk des Independent-Einzeltäters Harald "Sack" Ziegler. Ausgerüstet mit sämtlichen klingenden Spielzeugen dieser Welt (von singenden Barbie-Puppen über Miniatur-Gitarren Marke Heavy Metal bis hin zu akustischen Memos) schafft "Sack" Ziegler verspielte kleine Pop-Perlen in denen Sinn und Un-Sinn gleichberechtigt nebeneinander existieren. Auf 32(!) Stücken wird in Residents-hafter-Commercial-Album-Manier der Margerite ("Genauso sieht sie aus - die Margerite") ebenso Hommage erwiesen, wie Politisches, sinnentfremdet artikuliert wird ("Tri-tra-Tränengas"). Höhepunkt ist das 1 Minute 26 Sekunden lange "Pyjama-Toast" ( mit den einprägsamen Zeilen: "Erst hab’ ich den ersten Ärmel - GETOASTET - dann hab’ ich den zweiten Ärmel - GETOASTET - dann hab’ ich...ein ganzes Toastbrot - GEBÜGELT- und im Wäschekorb roch es wie in einer Bäckerei"). "Brick" ist Kinder-Lo-Fi-Pop zwischen Retorten-Techno-Gestampfe und Dada-Ballade.

St&p
Shake
[Soulciety/99 Berlin]

[hu] Funk und Swing vereinen die Hamburger st&p. Was sich wie eine Mini-Bigband anhört ist von drei Jungs ausgetüftelt: Tim und Sven Waje sowie Claus Vogel programmieren die Rhythmen, spielen Samples und Scratches ein und legen darauf satte Keyboardklänge und Gitarrensounds. Zu diesem Grundgerüst spielen Gastmusiker bei einigen Stücken Bass und Bäsersätze ein. Und dann sind da noch Malik Pointer, der Sohnemann einer der Pointer Sisters sowie Sandra B aus den USA, die schon mit bei "Monkey Business" angenehm auffiel. Die beiden steuern souligen Gesang bei. St&p, aus der Mitte der Hamburger Funky Family, können jeder US-Band das Wasser reichen. In manchen Passagen machen sie denen sogar vor, wie im Funk immer noch neue Wege zu beschreiten sind. It`s got swing!

Peter Lübke, Maria Volk u.a.
Straten. Unterirdischer Tourismus
[Hörsturz, Kurze Gasse 14, 85452 Eichenried, Tel: 08123-2268]

[hu] Hörspiele haben’s schwer. Und Hörspiele, in denen nicht so klingende Namen wie Heiner Müller und Blixa Bargeld auftauchen haben’s doppelt schwer. Dennoch gibt es Unentwegte, die an ihren Projekten festhalten und bereits einen beträchtlichen Katalog an hochkarätigen Produktionen zusammengestellt haben: "Hörsturz" ist so ein Verein der Idealisten. Über diesen Medienversand ist eine gediegene Auswahl an Hörspielen zu beziehen - meist in den Studios der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten von BR und WDR aufgenommen. Jüngste Neuheit im Programm ist das Hörspiel von Maria Volk, in dem sich die Phantasie des Zuhörers in das "Mannmuseum" begibt. Die Führung durch Höhlen und Grotten wartet mit den Klängen und Rhythmen von Stimmen, Körpergeräuschen und diversen Materialien auf. Auch dieses Werk ist im Bayerischen Rundfunk entstanden und war im Februar schon in einer Live-Fassung im Münchner Soft Research zu hören. "Straten" ist eine CD für all jene HörerInnen, die sich auf Experimentelles einlassen können, gerne den Tönen aus den Lautsprecherboxen lauschen und ihre Phantasie während des Hörens auf Reisen gehen lassen können. Für Einsteiger in die große Welt der Hörspielkunst ist es nicht das leichtetste Werk, das man sich aussuchen kann. Ich selbst mußte mehr als einmal hinhören. Aber damit ist "Straten" auch ein Hörspiel, das unaufhörlich neue Facetten offenbart.

Verschiedene
Schaales Bier. 10 Jahre Baader Café
[Blickpunkt pop, Postfach 750303, 81333 München]

[hu] Das Baader in München feierte letzthin 10jähriges. In der Baaderstraße in München befindet sich dieses Café, das so ganz normal aussieht, auch so ganz normal ist, wo man demzufolge gerne hingeht weil es dort abends immer so lecker Bier gibt. Die Jubiläumsfanfaren ertönen einmal mehr von FSK, die auf dem kleinen Geburtstagssampler eines von sechs Stücken spielen: "die Kaiser Wilhelm (als Huapango)". Die anderen Bands sind kaum bekannt, obwohl die Merricks ja bereits in LEESON 2 gewürdigt worden sind. Aber Hitmaschine, BluMe, New Angels und das Meinhof Café Orchestra, wie die anderen Gruppen heißen, huldigen allesamt einem krachig-entrückten Stil, so daß sie auf dem Sampler gut zusammenpassen. Ein echter Brüller ist auch die Coverversion von Dylans "It’s all right" vom Meinhof Café Orchestra. Den Sampler gibt es nur über obige Adresse zu beziehen.

Congos
Heart of the congos
[Blood & fire/Indigo]

[hu] Wiederveröffentlichung einer der führenden Vocalreggae-Gruppen auf dem Speziallabel für Roots Music. Die Harmoniegesänge der Congos schweben über dem Dub der Upsetters-Musiker. Als bekannter Name wäre Sly Dunbar herauszuheben. Was der Produzent, "Studiowizard" Lee Scratch Perry, Mitte der 70er Jahre in seinem Black Ark-Studio zusammen mit den Congos gezaubert hat, hat bis in die 80er Jahre den Reggae/Dub bestimmt. Neben dem Re-Release von ’Heart of the Congos’ gibt es auch eine zweite CD mit ausgesuchten Single-Versionen der Congos. Ein 36seitiges Booklet und die außergewöhnliche Verpackung sorgen für ein funktionales (= informatives) Design. Endlich mal eine CD, die man auch gerne in die Hand nimmt.

Michael Hall
Day
[Moll/EFA]

[hu] Slow Countryrock. Dahinter steht Michael Hall, der in den 80er Jahren in Austin, Texas mit den Wild Seeds Kultstatus innehatte. Hall begleitet seine spröden Songs auf Gitarre und Akkordeon. Für seine inzwischen dritte Solo-Produktion, nach den Wild Seeds, hat er Musiker von den Mekons und Poi Diog Pondering eingespannt - hält er sich doch inzwischen nicht mehr in Austin sondern in Chicago auf. So zwirbeln mal Fuzzgitarren in den Himmel, mal ("Las Vegas") reichen Akkordeon, Tamburin und Violine aus, damit Michael Hall Stories und Stimmungen in die Welt setzen kann. Authentische Musik "as real as the light that comes from your eyes".

Wolfsheim
Dreaming Apes
[StrangeWays/Indigo]
Icehouse
The Berlin Tapes
[Intercord]

[nf] Mit dem Motiv aus dem bekannten Kinderreim "Guten Abend, Gute Nacht" beginnt die neue CD von Wolfsheim - und mündet geradewegs in den wohl faszinierendsten Synthie-Pop, der derzeit hierzulande produziert wird. Sehr düster, melancholisch und bedeutungsschwanger präsentiert sich "Dreaming Apes" - Novembernachtsmusik, zweifelsohne. Ich weiß, mit so etwas kann der Rest der LEESON-Crew herzlich wenig anfangen - aber was soll´s, mir gefällt´s. Abwechselnd auf deutsch und englisch singt Peter Heppner in "A new starsystem has been explored", zu Texten, die, in angenehmem Kontrast zu denen vieler anderer BRD-Bands, auch ganz und gar nicht verkrampft klingen. Buchstäblich alle Register zieht Multiinstrumentalist Markus Reinhardt auf dieser Platte, auf der außer dem Gesang und einer Mundharmonika (in "Old Man´s Valley") jeder Ton synthetisch erzeugt wurde - ohne daß das Ergebnis auch nur im geringsten steril oder kalt klingen würde.

Kein reines Coverversionen-Album (wie etwa das grandios unterschätzte "Thank you" von Duran Duran letztes Jahr) ist "The Berlin Tapes" von Iva Davies und seinen reformierten Icehouse (die uns vor allem Anfang der Achtziger mit ihren coolen, schwer Bowie- und Roxy-beeinflußten Synthie-Popsongs beglückten), sondern die Begleitmusik für ein Ballett(!). Entstanden in Zusammenarbeit mit der australischen Sydney Dance Company unter der Leitung von Graeme Murphy. Ein glückliches Händchen bewies Davies mit der Auswahl der hier vorgelegten "Klassiker" - daß die Platte mit einem Song von David Bowie beginnt ("Loving the Alien") und endet ("Heroes"), ist dabei nur ehrlich und konsequent, verdanken Icehouse doch ihm und seiner Musik vermutlich mehr als jedem anderen. Roxy Music sind natürlich auch vertreten ("Really Good Time") , XTC ("Complicated Game") und The Cure (mit "At Night"!). Kaum zu glauben, aber selbst dem tausendfach gecoverten "All Tomorrow´s Parties" von den Velvets gewinnen Icehouse noch neue Aspekte ab. - Irgendwann einmal raffe ich mich hoffentlich doch noch dazu auf und nehme mal ein ganzes Tape ausschließlich mit "All-Tomorrow´s-Parties"-Coverversionen auf...

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Kurztips

[tb] Lambchop müssen Anhänger von Jonathan Richmans alter Theorie sein. Der Ex-Modern-Lover sagte einmal, er sei deshalb von elektrischer zu akustischer Musik gewechselt, weil laute Musik die Ohren von Insekten und kleinen Kindern verletzen könnte. Kurt Wagner, Kopf des 14-köpfigen Projektes macht mit seiner Band Musik, die wirklich die Ohren schont - ohne zu langweilen. Mit einem immensen Instrumentarium inklusvie Celli, Klarinetten, Saxophonen und Kontrabässen spielen Lambchop kleine folk- und countryinfizierte Songs, superlangsam und superunaufgeregt. Wunderschön. Manchmal erinnert mich das an die Tindersticks, ohne deren zuweilen (auch schönen) dramatischen Dandy-Stil. Wagner & Co. leben in Nashville, Homebase des Mainstream-Country, in deren Szene sie mit diesen Sounds sicherlich die Paradiesvögel sind. "How I Quit Smoking" (City Slang/EfA) heißt das zweite Album nach "I Hope You`re Sitting Down" (siehe LEESON No.1).

[mz] Noch so eine englische Band in der klassischen Vierer-Besetzung wollen die Bluetones aus dem Londoner Vorort Hounslow nicht sein. Vieles auf "Expecting to fly" [Polydor], ihrem Debutalbum, klingt allerdings alles andere als besonders eigen: Zu offensichtlich sind die Zitate aus dem riesigen Fundus der britischen Rockmusik. Ein paar Kanten mehr, ein bißchen mehr Innovation und eigenes Profil hätte man sich für den Sixties-Pop der Bluetones gewünscht. So ist es ein nettes Album geworden, aber auch nicht mehr.

[tb] Schon etwas länger draußen, dennoch der kurze Hinweis auf den Sampler "The Sound Of MZEE" (MZEE/EfA). Ist doch das inzwischen von Heidelberg nach Köln übersiedelte Label MZEE eines der wichtigsten deutschen Hip-Hop-Labels und feierte die Posse um Akim Walta jüngst dreijähriges Bestehen. Die vorliegende Compilation ist Nr. 20 der bisherigen MZEE-Veröffentlichungen. Stücke von MC Rene, F.A.B., No Remorze, Massive Töne, A Real Dope Thing und anderen geben einen guten Einblick in die deutsche Hip-Hop-Szene.

[nf] Ha, verliebt vom ersten Takt an: Gar nicht lasch (hallo, tb!) klingen Lush auf "Lovelife", dem neuen Longplayer (4AD/Rough Trade) - ganz und gar nicht. "Ladykillers", der Eröffnungstrack, bezaubert mit einer Jahrhundertmelodie und der begnadeten Stimme von Emma Anderson (jetzt gehen mir aber auch schon langsam die Superlative aus...), die im übrigen auch Gitarre spielt - der Rest des Albums steht dem in nichts nach. Whimp-Musik vom Feinsten - und sogar ein Duett mit Jarvis Cocker, dem Frontmann der Pulp ("Ciao") ist mit drauf... Wenn das keine Gewähr für den endgültigen Durchbruch ist...

[mz] Kammermusik im Sinne der schon lange verblichenen Jules Verne machen Rachel’s auf ihrer außergewöhnlichen CD "Music for Egon Schiele" [Quarterstick/EFA]. Als Soundtrack für ein Tanztheater komponiert, steht das zweite Projekt der US-Amerikaner ganz in der Tradition der "Made to Measure"-Serie und ist einer der musikalischen Höhepunkte der letzten Monate. Großartiges Album.

[tb] Relaxten Sound zwischen Ambient, Trip Hop und gelegentlichem Jazzgedudel bringen Drome auf dem neuen Label mit dem bezeichnenden Namen "Kiff FM" (Vertrieb: Rough Trade). "Dromed" nennt Soundbastler Bernd Friedmann, der sich dahinter verbirgt, dieses feine Werk. Chill-out-Faktor zehn!

(hu) Angetrieben durch Jungle haben auch die musikalischen Wurzeln des zeitgenössischen Dance und somit das reiche Reservoir für Samples und Scratches wieder Konjunktur. Die Rede ist von Reggae. Zum Beispiel Prince Far I & the Arabs. Deren "Cry tuff dub encounter chapter 3" ist auf Pressure Sounds/EFA wieder zu haben. Das Album ist beispielhaft für die Evolution des Dub. Hier sind also kein "Jah-Rastafari"-Gegröhle im Stil der 70s zu hören sondern Adrian Sherwoods erste Ansätze des Remixens. Wohingegen Little Roys "Tafari earth uprising" (Pressure Sounds/EFA) auf wummernde Riddims und die Stimme von Little Roy setzt: Relaxter Schmuseraggae. Frisches Futter kommt auch von den Di Iries: "Worry not!" (Buback/Indigo). Die Band ist aus Hamburg und deren Musiker haben ursprünglich mehr mit Punk, House oder Hiphop zu tun gehabt als mit Reggae - bis sie auf Dub und Raggamuffin aufmerksam wurden und zu deren Wurzeln zurückgangen sind. Seit 1994 spielen die Di Iries zusammen und haben inzwischen ihre eigene, städtische Variante des Reggae geschaffen. Freilich klingen immer die Wurzeln klar heraus. Exzellent ist das sparsame "Respect" mit Sängerin Claudia Gonzales. Übrigens sind die Di Iries neben Vision aus Hannover die zweite deutsche Reggae-Band, die es in die britischen Charts geschafft hat. Womit wir bei der nächsten Produktion wären: das Album "Namas te" (Fünfundvierzig/Indigo) der Vision. Die Band hat hier 10 neue Songs eingespielt, die atmosphärischen, entrückten Dub bieten. Anders ausgedrückt: Reggae goes psychedelic. Wer übrigens Dub japanischer Prägung liebgewonnen hat und bereits zu den Audio-Active-Fans gehört, sollte sich die EP "Happy Shopper in Europe" (OnU-Sound/EFA) einmal zu Gemüte führen. Ein Kultstück!

[tb] "The Chicago Allstars Compilation" (Radikal Fear/PIAS/RTD) ist ein exzellenter House-Sampler (CD und Doppel-Vinyl), der die wichtigsten acts des angesagten Chicagoer Labels Radikal Fear vorstellt. Teilweise exklusiv für diesen Sampler aufgenommen, teilweise in Remixes sind hier Labelchef Felix da Housecat, DJ Sneak, Armando & Co. versammelt. Eine gute Geldanlage für all jene House-addicts, denen der eigentlich für dieses Genre zwingende (so fern man auf dem Laufenden bleiben will) Maxi-Single-Spaß zu teuer ist.

[mz] Gewohnt gekonnt gemachten Gitarrennoise englischer Art bietet Wedding Presents neustes Werk "Mini" (Cooking Vinyl). Zwar insgesamt nicht ganz so gelungen wie das Vorgängeralbum "Watusi", findet sich nichtsdestotrotz auch auf "Mini", der ein oder andere unvergeßliche lovetune des unermüdlichen David Lewis Gedge, der im elften Dienstjahr, eifriger denn je, Herz und Schmerz besingt.

[sg] Da legt man im Winter 96 ein brandneues Debütalbum ein und hört urtypischen Spätachtziger Gitarrenrock, an dem die letzten zehn Jahre einfach spurlos vorbeigezogen sind - ganz schön seltsam. Auf ihrem gleichnamigen Album (Mantra Recordings) spielen China Drum, als ob sie gerade mit Hüsker Dü touren würden und die Vorstellung, daß die Goo Goo Dolls in den Charts wären, noch völlig unvorstellbar sei. Von wegen schnellebige Neunziger - mancherorts ist wohl alles beim alten geblieben.

[tb] Blues, der nicht stinkt wie ein toter Fisch. Bislang hat mich der Australier Hugo Race immer zu sehr an Nick Cave erinnert. Nach seinem jüngsten, fünften Album "Valley Of Light" (Glitterhouse/EfA), eingespielt mit seiner Band The True Spirit, leiste ich Abbitte. Race fischt zwar im gleichen Gewässer wie Cave und die Bad Seeds, klingt jedoch ziemlich eigenständig.

[tb] "Black Love" (WEA) heißt das jüngste Album der Afghan Whigs, die leider, wie die Mudhoney auch, trotz großartiger Platten im Gefolge der Grunge-Euphorie nicht groß geworden sind. Wobei, trotz ihres zeitweiligen Aufenthalts bei Sub Pop, Greg Dulli & Co. eigentlich nie eine richtige Grunge-Band waren. Ihr Interesse am schwarzen Amerika, am Soul und Funk, ihren Ideen von Style ließen bei ihnen da schon eher Ähnlichkeiten zu den Urge Overkill aufkommen. Drei Jahre nach dem letzten Album "Gentleman" bringt auch die neue CD wieder abwechslungsreichen Alternativ Rock mit tollen Songs zwischen midtempo Balladen, Soul-inspiriertem (klasse: "Blame, Etc."), rockenden Ohrwürmern ("Going To Town" und die Singleauskopplung "Honky`s Ladder"), ungewöhnlich arrangieren Stücken ("Night By Candellight" mit Streichern) und "Bulletproof" mit schwiemeliger Orgel. Klasse.

[tb] Die Krähen nennt sich eine neue Band aus der schwäbischen Hip-Hop-Szene, genauer aus "Benztown" (Bubach/Indigo), so auch der Titel dieses feinen, deutsch gerappten Debütalbums. Neben den Kinderzimmer Productions (Ulm) und den Massiven Tönen (Stuttgart) ein weiteres hoffnungsvolles Projekt aus Schwaben.

[mz] Flying saucer attack demonstrieren auf "Chorus"(Pinnacle/Rough Trade) einmal mehr die Vorliebe englischer Bands für Krautrock (vor allem Can), kombinieren diese Einflüsse aber geschickt mit zeitgemäßen Feedbackattacken. Die Stimme meist verhallt und beinahe unkenntlich in den Hintergrund gemischt, leitet diese ganz und gar meditative und spannende Musik. "Chorus" vereint diverse Peel-Sessions und rare Singletracks. Das Album markiert, wie es im Booklet heißt, "the end of FSA phase one...when we return with phase two - who knows where the wind blows..."

[tb] Die Pale Nudes sind eines der vielen Projekte der US-amerikanische Multiinstrumentalistin Amy Denio. Wer lovely Amy einmal live gesehen hat, ob nun solo, mit dem Billy Tipton Memorial Saxophone Quartet oder mit den (EC) Nudes weiß um die große Klasse dieser Musikerin. Gemeinsam mit den Schweizer Musikern Wädi Gysi (Gitarre) und Michael Gerber (Kontrabaß) sowie dem amerikanischen Drummer Will Dowd zeigt sich Amy Denio auf "Wise To The Heat" (RecRec) zugänglicher als auf ihren Platten mit den Tone Dogs oder solo. Grenzgängerisch wie eh und je schwanken die elf Songs zwischen Folk, Pop und Jazz, wobei bei den Songs meist ein melancholischer Unterton mitschwingt.

[hu] Die Rain Ministers aus Waltrop mischen auf ihrem glechnamigen Album (Tonhaus/NTT) Rock mit somalischer Folklore. Sänger Farah Haidar sorgt dabei für die richtige Aussprache. Die siebenköpfige Band bietet auf ihrem Debut afrikanische Rhythmen und Reggae-Riddims, die zugleich mit europäischer Härte eingespielt sind.

[tb] Überraschung: Ed Kueppers jüngstes Solowerk "Exotic Mail Order Moods" (Hot Records) beginnt mit Breakbeats (!), so als habe der Australier nun auch noch am Jungle-Nektar genippt. Auch andere, kurze Fragmente auf dieser nur über Mailorder beziehbaren CD werden den Kuepper-Fan etwas verwirren. Wobei die teilweise sehr eigenwilligen Arrangements diverser Traditionals (der Folkklassiker "Sam Hall" etwa wird mit Dancebeats unterlegt, worüber Kuepper seine, effektversetzte Gitarre legt) und diverse Coverversionen (von Bowies "The Man Who Sold The World" über Nick Caves "Do You Love Me" bis zum Animals-Klassiker "When I was young") bestechen! Dazu gibts noch den alten Saints-Song "Memories (are made of this)." Dem Mann gehen nun einmal nie die Ideen aus!

[hu] Wer mal kurz eine kompetente Zusammenstellung an Songs aus dem Genre Electro sucht, ist mit "Electrocity 7" (Ausfahrt/EfA) bestens bedient. Die Sampler-Reihe hat ja schon in der Vergangenheit geholfen, sich einen schnellen Überblick über die Szene zu verschaffen. So sind auch diesesmal - in einer breitgefächerten Mischung - Crossover-Klänge der Holy Gang ebenso zu hören wie Elektropop der Cyber-Tec oder die Sounds der altbekannten Young Gods.

[tb] Achtung! Hinter Curd Ducas Volume 4 von "Easy Listening" (Normal/Indigo) verbirgt sich kein "easy listening" im Sinne des gegenwärtigen Revivals. Wie schon auf den vorherigen drei Ausgaben (inzwischen sind Vol 1 bis 4 zusammengefaßt als Doppel-CD bzw. -LP erschienen) entwirft der österreichische Soundbastler kleine, elektronische Miniaturen. Wobei die filmmusikartigen Schnipsel, Ambientstücke, Heim-Techno-Sounds und Electronic-Listening-parts, die gelegentlich an die Residents der "Commercial-Album"-Phase erinnern, durchaus Easy-Listening-kompatibel sind. Will sagen: ziemlich klasse was der ehemalige Gitarrist der Rockband "Dead Waldheims" da zusammenbraut. Angenehm: Duca nervt nicht, indem er auf seinen Ideen zu lange herumreitet. Alle Stücke sind recht kurz, durchschnittlich zwei Minuten lang.

[mz] Nach dem wundervollen Obskuritäten Sampler "Refried Ectoplasm" gibt es nun endlich das neue Album von Stereolab. Dem einstigen Flaggschiff des Too pure-Labels gelingt es auch auf "Emperor Tomato Ketchup" [Duophonic/Wea] ihren außergewöhnlichen, hypnotischen Moog-Pop adäquat umzusetzen. Deutlich weniger gitarrenlastig als das Vorgängeralbum "Mars Audio Quintett", besticht auf Sterolabs neustem, in Chicago aufgenommenen, Werk einmal mehr der mehrstimmige englisch/französische Chorgesang von Laetitia Sadier und Mary Mansen. Highlight!

[tb] Butter nennt der Hamburger Christoph Kähler sein neues Nebenprojekt, bei dem der disjam-Sänger vom Funk zum Pop wechselt. Etwas vollmundig wird das Debütalbum "Happy" (Yo Mama/Indigo) als "Pop 2000" ausgerufen. Nett sind die mit sanfter Stimme gesungenen kleinen Popsongs allerdings schon. Wobei das Album erst nach vier eher langweiligen Stücken mit Track 5, dem Titelsong, an Drive gewinnt. "Happy", "Box of matches" & Co. arbeiten mit Popmelodiechen und darunter geschobenen Rhythmus-Mustern aus der Dance-Ecke. "Hypocrite" dagegen ist ein netter Soul-Pop, der auch für Sade geschrieben sein könnte.

[mz] Girls against Boys viertes Album "House of GVSB" [Touch & GO/EFA] klingt ein bißchen wie die rüde, amerikanische Antwort auf The Fall. Verbunden mit der New York School of Noise ergibt das ein gar nicht uninteressantes Sittengemälde am Ausgang des 20. Jahrhunderts.

[tb] Schon wieder ein neues Album der Knödel. Grade mal ein halbes Jahr nach "Die Noodle!" (siehe LEESON 2) meldet sich das alpenländische Oktett mit "Panorama" (RecRec/EfA) auf der Bildfläche zurück. Dabei spielt man ausschließlich Musik von Tiroler Komponisten zwischen Landler und Klassik. Alles nicht ohne Augenzwinkern, poppig aufbereitet.

[nf] For Squirrels nennt sich ein Quartett aus Florida, und das, was es macht (auf dem Album "Example"), läßt sich vielleicht am ehesten als Speed-Grunge beschreiben: Ein paar schmutzige (aber nicht allzu schmutzige) Riffs, ein leicht nöliger Gesang und ein sicheres Gespür für eine ins Ohr gehende Melodie - "The next Big Thing" oder was? Zumindest Anja von Sony Music scheint dieser Meinung zu sein, sonst hätte sie mir wohl nicht unaufgefordert diese CD geschickt... Hm, mal sehen, auch Live waren ja vor etwa anderthalb Jahren noch ein absoluter Geheimtip...

[tb] Seit fünf Jahren das erste richtige Studioalbum von Marc Almond! "Fantastic Star" (Mercury), fast achtzig Minuten lang, wartet mit einigen tollen Brit-Pop-Songs auf. Einerseits zwar sehr dance-orientiert, mit Disco- und Techno-Beats legte der kleine Brite diesesmal aber auch viel Wert auf Gitarren. Mal Trash-Rock, mal Glam-Rock, mal gar eine Slide-Gitarre. Mit dabei - bei zwei Songs - waren die Gastmusiker John Cale, Chris Spedding und David Johanson. Wobei der Ex-Sänger der New York Dolls hier an der Mundharmonika (!) zu hören ist. Großes Comeback, das bereits von den vorab als Single erschienen Stücken "Adored & Explored", "The Idol" und der Schnulze "Child Star" vorbereitet wurde.

[sg] Im Hause Throw That Beat gab es in der letzten Zeit ja die verschiedensten Solo- und Side-Projekte. Vor allem Sänger Cornfield konnte jüngst ja viel Lob ernten. Auf "Sticht" (spool/eleven) versucht sich jetzt auch Schlagzeuger Andreas Sticht als Songwriter. Unterstützt von Gitarrist Pferd bleibt er ganz dem typischen Schrammelpop treu, allerdings ohne die von den "Throw That Beat" gewohnten Komik-Elemente einzustreuen.

[tb] "World Tour 1998" (RéR/EfA) bringt die beiden LPs "World Tour" (87) und "Fin de Siecle" (89) auf einer CD zusammen. Les 4 Guitaristes de l`apocalypso bar nannten die Gitarristen René Lussier, André Duchesne, J.P.Bouchard und Roger Boudreault ihr Projekt. Gemeinsam mit weiteren Größen aus der internationalen Avantgarde-Rock-Szene wie Chris Cutler (Drums) und Ferdinand Richard (Baß; der ist mit seinen Ferdinand et les philosophes am 1. Mai im Konstanzer Kulturladen zu sehen) wurden diese beiden Alben eingespielt.

[tb] Abwechslungsreichen Brit-Pop vom Frauentrio Sidi Bou Said auf ihrem zweiten Album "Bodies" (RTD). Mal schrammeliger Gitarrencore, mal balladesk mit Folkeinflüßen und Streichern.

[tb] "El Haoua" (Barraka el farnatshi/EfA) ist leider noch nicht die lange erwartete dritte CD des marokkanischen Projekts Aisha Kandisha`s Jarring Effects (AKJE)- die, mit dem Titel "Koyo Koyo", erst im Herbst erscheinen soll. Bis dahin nehmen wir mit dieser Live-CD vorlieb. Eingespielt während des 94er Konzertes in Basel bringt "El Haoua" die Stärke der Band, das Verschmelzen von arabischen-afrikanischen Mustern mit House- Hip-Hop-Elementen zum Vorschein. Neben Stücken der ersten beiden CDs "El Buya" und "Shabeesation" gibt es auch drei unveröffentliche Stücke zu hören.

[nf] Als "die illegitimen Söhne von Soundgarden und The Almighty" bezeichnete ein Kollege einer namhaften britischen Metal-Zeitschrift die drei Jungs aus Glasgow, die sich unter dem Namen Mudshark zusammenfanden und nun ihr gleichnamiges Debüt vorlegen (PIAS/Rough Trade). Knüppelharter, roher und aggressiver Hardcore-Metal - mit dem Charme eines, die Kettensäge schwingenden, Leatherface. Als support act für die Utah Saints, die Pogues und Gun machten sie sich auch live bereits einen Namen - merken wir ihn uns eben einfach mal.

[tb] Vom seltsamen Namen sollte man sich nicht abschrecken lassen: Was die Münchner Schwermut Forest, ein Ableger der First Things First, auf ihrer Debüt-LP (ist tatsächlich ein Vinyl-Teil!) "Pilot" (Kollaps c/o C.Merk, Obere Riedl 1, 82395 Untersöchering) abliefern, ist ziemlich interessant, zumindest sehr eigenwillig. Tortoise auf deutsch und mit Gesang? Baß und Drums drücken ziemlich tief und heftig (fast overdubbed), während ein einsames Saxophon seine Kreise zieht und der Sänger leise, fast zu leise (was singt der denn da?) erzählt: "Macht Rockmusik noch einen Sinn?" wird da etwa gefragt. In der Art, wie das Schwermut Forest machen, auf jeden Fall.

[tb] Raissa heißt eine neue dreiköpfige Band um die gleichnamige Sängerin aus London, die jetzt auf dem exquisiten Big-Cat-Label (Pavement, Blumfeld & Co.) debütiert. "Sleeping Bugs" (RTD, erscheint im April) bringt abwechslungsreiche Heimaufnahmen zwischen lo-fi-Pop, Trip-Hop und Easy Listening. Wunderbar kombiniert man die Songwriter-Extravaganza der Pavement mit Erkenntnissen aus der britischen Dancefloorszene. Das schöne englische Adjektiv "gorgeous" verwendete der Meldoy Maker anläßlich einer Live-Review von Raissa (mehrere Instrumente), Paul (Gitarre) und Dan Birch (Programming, DJ). Dem bleibt auch für das Album nichts hinzuzufügen.

[tb] Grade noch reingerutscht, kurz vor Redaktionsschluß, ist Rocko Schamonis neues Werk "Galerie Tolerance" (Trikont/Indigo). Neben dem tollen Easy-Listening-Einstieg "Pudel à gogo" gibt`s hier alternativen deutscher Schlager (oder so was), ziemlich elegant gespielt. Mit Gasteinlagen: u.a. Bernd Begemann an der Gitarre und ein nuschelnder Jochen Distelmeyer (?) bei "Berlin Woman".

[mz] Peter Blegvads sechstes Soloalbum "Just woke up" [EFA] ist ein akustisches Folk/Rock-Album in Singer/Songwriter-Manier geworden, auf dem immer wieder Blegvads musikalische Vergangenheit (u.a. bei Slapp Happy) durchblitzt. Unterstützt von der Londoner-Underground-Kultur-Mafia (u.a. Greaves, Cutler, Hodgkinson), betritt "Just woke up" zwar kein musikalisches Neuland, bietet aber gewohnt gekonnt gemachten Avantgarde-Folk mit intelligenten Texten.

[tb] "Ich hab noch einen Kiffer in Berlin" (Conträr/Indigo) heißt diese spoken-word-CD von Wolfgang Neuss. 1985 eingespielt im Wohnzimmer des vor sieben Jahren verstorbenen Kabarettisten entführen die Texte in das "Neussche Zeitalter" der rauch-verhangenen Assoziationen. Wenngleich auch manche Beiträge doch sehr zeitbezogen sind und heute nicht mehr ganz so brisant sind (Stichwort: Abrüstung), eine amüsante Sache.

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Neues aus der Schweizer Szene

Von Thomas Bohnet

Mitten ins Herz trifft mich das neue Album der Schaffhauser Eugen. Seit 13 Jahren (einst noch als "Der böse Bub Eugen") musikalisch aktiv, haben Songschreiber Rämi (Gesang, Gitarre), Suzann (Baß, Stimme), Bächi (Gitarre) und Fisch (Drums, Sampler, Orgeln) ihr Meisterwerk abgeliefert. "Cool (& aber auch sexy)" [CH: Tom Produkt/RecRec, D:Buback/Indigo] bringe ich jedenfalls kaum noch aus meinem CD-Player raus. Ohrwurm-Popsongs wie "Neu hier", "Nur für dich", "Liegenbleiben" oder den Titelsong mag ich immer hören. Nicht nur diese Songs warten mit interessanten Schlagzeugsounds (Hip-Hop- respektive Trip-Hop-Beats), schönen Gitarrenpassagen und feinen, kleinen Melodien auf.

Immer noch beweisen Eugen ungeheuren Mut und singen (wie die Aeronauten) hochdeutsch. Ein Umstand, der - dies für deutsche LeserInnen, die die schweizerischen Gegebenheiten vielleicht nicht kennen - ungefähr so mutig ist, als würde eine deutsche Band, versuchen mit schwäbischen oder sächsischen Songs (die unbeliebtesten deutschen Dialekte: dies für Schweizer LeserInnen) beim Publikum zu landen. Die Weigerung schwyzerdütsch zu singen, ist vielleicht aber auch dafür mitverantwortlich, daß die Eugens in ihrer Heimat nicht längst so groß sind, wie sie eigentlich sein sollten. - Mit Ale Sexfeinds Buback-Label haben die Eugens nun endlich auch ein deutsches Label gefunden. Hier findet, wie schon bei den Aeronauten auch die Hamburg-Schweiz-Connection ihre Fortsetzung. Dazu Stephan Rämi alias Rämi: "Von den Ideen her liegt Hamburg für mich, merkwürdigerweise, näher als Bern. Ich habe, das Gefühl, daß es da Leute gibt, die ähnliches im Kopf haben, wie ich. Da haben sich dann neue Kontakte ergeben und alte, wie mit den "Zitronen", wurden wieder aufgefrischt."

Ebenfalls auf Initiative von "Eugen"-Sänger Rämi zustandegekommen (auf Anfrage des Zürcher Theaters an der Winkelwiese) ist die CD "Chabis!" (CH: Tom Produkt/RecRec, D: leider noch kein Vertrieb), die ganz im Zeichen des Schweizer Krimischriftstellers Friedrich Glauser ("Wachtmeister Studer") steht. Gemeinsam mit Eugen-Drummer Fisch, Aeronauten-Sänger Olifr Maurmann, Tom Etter (Musiker und Produzent) sowie dem Schauspieler und Sprecher Daniel Kasztura wurde dieses Projekt realisiert. Neben rezitierten Texten finden wir hier interessante mit u.a. Cello, Marimba und Harmonium arrangierte Instrumentals und Songs zu diesem großen Autoren.

Der am Glauser-Projekt beteiligte Musiker (bei "Starfish", siehe LEESON 1/95) und Produzent Tom Etter hat nicht nur obige Eugen-CD sondern auch das neue Album der Zürcher Scuba Divers produziert. Die einstige Funk- und Soul-Band bemüht sich mit "Slow Motion" (CD: Ausserhaus/RecRec D:-) vom Image der Partyband wegzukommen. Und das gelingt der Gruppe um die beiden Schwestern Gerda und Kathrin Tremli mit ihren Trip-Hop-artigen Songs ziemlich gut.

Eine gleichermaßen witzige wie musikalisch verspielte Band sind Les Reines Prochaines: Fünf Frauen, die seit einigen Jahren mit eleganten Songs zwischen Vaudeville, Chanson, Kurt-Weill-Referenzen, Folk und Rock aufwarten. "Le coeur en beurre" (CH: RecRec, D: -) heißt das dritte Werk der Baslerinnen. Wobei die inzwischen ausgestiegene, ehemalige "Königin" Pipilotti Rist - übrigens auch eine bekannte Videokünstlerin - mit einer wunderbaren Coverversion von Chris Isaaks "Wicked Game" (das hier allerdings "Opfer dieses Lieds" heißt) glänzt.

Die Primitive Lyrics sind eine ziemlich gute, schwyzerdütsch rappende Hip-Hop-Combo aus Zürich. "Druck vo allne siite" (CH: Sun-Tic Reckkords, D:-) heißt ihre neue Mini-CD: Zwischen Groove und dezenten Crossover-Ansätzen.

Einen Singles-Club haben die Labels Noise Product und Post Tenebras Rock ins Leben gerufen. "Club45" soll die Erstlingswerke von Genfer Bands veröffentlichen. Nummer 1 bringt zwei Songs der Hardcore-Band Yawn: "Time" und "Kill Your Children". Das im Sommer 94 gegründete Quintett hat sich bereits durch ausgiebiges Livespielen einen guten Namen gemacht. Kontakt: Noise Product 0041-22-7816152.

Zuguterletzt noch der Hinweis, daß Rudolph Dietrich (siehe ausführliches Interview in LEESON 3/95) mit seinem Bluesalbum "Monsieur L`ti bon ange" endlich ein deutsches Label gefunden hat: Glitterhouse (Vertrieb: EfA). Das freut uns! Auch die Konstanzer Multiinstrumentalistin und Soloentertainerin Shirley Anne Hofmann hat für ihr Debütalbum "Euphoria" (Label UsineS/RecRec, siehe LEESON 2/95) ein deutsches Label gefunden: "Z.O.O." respektive NRW in Herne kümmert sich nun um die Deutsch-Kanadierin.

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Jazzrock, Avantgarde und Anderes

Neuerscheinungen aus der deutschen Jazzszene

Von Axel Bußmer

Während Us-amerikanische Jazzer bis auf wenige Ausnahmen glücklos zwischen Neotraditionalismus, HipHop-Anbiederungen und langweiligem Fusion-Gedöns schwanken, erscheint in den deutschsprachigen Ländern derzeit eine exzellente CD nach der anderen. Dabei sorgen gerade junge MusikerInnen aus den Generationen nach Mangelsdorff und Brötzmann für außergewöhnliche Hörerlebnisse. Meist bewegen sie sich souverän auf hohem Niveau zwischen Klassik, Moderne und auch freiem Jazz. Dabei reflektieren sie die Errungenschaften des freien Spiels auf der Grundlage durchaus ausgefeilter Kompositionen.

Nach der fantastischen Duo-CD mit Pianist Georg Ruby und der genauso spannenden CD mit Vertonungen von Oskar Pastior-Gedichten vereinigt die Sängerin Gabriele Hasler auf ihrem neuesten Album intensives Duo-Spiel mit dem Bläser Roger Hanschel (Kölner Saxophon Mafia und Blau Frontal) mit Vertonungen von Gedichten der amerikanischen Sprach-Avantgardistin Gertrude Steins (1874 - 1946). Auf "Go in green" (JazzHausMusik) wird die Dichterin einer eigenwilligen Betrachtung unterzogen. Aus dem Duett wird unversehens ein Zwiegespräch mit der vor einem halben Jahrhundert verstorbenen Dichterin. Ein kammermusikalisches Erlebnis der Dritten Dimension.

Saxophonist Wollie Kaiser (Kölner Saxophon Mafia, Klaus König Orchestra) legt die zweite Produktion von Timeghost (Reinhard Kobialka, dr, Ulla Oster, b, und der auch im Jan von Klewitz Quintet mitspielende Stefan Lottermann, tr) vor. Wie schon die erste CD "tust du fühlen gut" ist auch "Post Art Core" (Jazzhaus Musik) ein witzig-anarchistischer Rundgang durch Pop und Rock. Alles kräftig durcheinandergemischt und mit einer gehörigen Portion Ironie und Jazz versehen, versteht sich. Entstanden ist die "zeitgemäß unzeitgeistige Antwort auf den Zeitgeist". - "Absolut ungeeignet für Puristen jedweder Couleur und Verfechter der reinen Lehre". "Post Art Core ist damit auch die zeitgemäße Variante politischer Musik ohne Betroffenheitsgedöns und lametierenden Rückzug ins Innere Exil.

Zusammen mit Bassist Anthony Cox und Schlagzeuger Daniel Humair veröffentlicht Tenor- und Sopransaxophonist Christof Lauer (u. a. Carla Bley Big Band, United Jazz & Rock Ensemble) mit "Evidence" (CMP) ein fast ausschließlich aus Standards bestehendes Album. Aber mit seinem free-jazzigen Zugriff gewinnt das Trio Stücken wie "Evidence" (Monk), "Blue & Green" (Davis) und "In a sentimental mood" (Ellington) neue und überraschende Seiten ab. "Evidence" ist schon jetzt einer der Höhepunkte des Jahres.

Der explosive und expressive Saxophonist Matthias Schubert ist festes Mitglied des Klaus König Orchestras und erhielt kürzlich den Jazzpreis des Südwestfunks und des Landes Rheinland-Pfalz. Auf "Blue and grey Suite" (enja), der ersten CD mit seinem kraftvoll aufspielenden Quartett (Simon Nabatov, p, Lindsey Horner, p, Tom Rainey, dr), kredenzt er eine atemberaubende Mischung aus Tradition, Free-Jazz, Moderne und Surrealismus. Sogar auf der über dreißigminütigen, mehrschichtigen "Blue and Grey Suite" - inspiriert von dem bekannten "Blaugrau bleibt Blaugrau" des Bauhaus-Artisten Andor Weininger - läßt die Spielfreude in keiner Zehntelsekunde nach.

Endlich veröffentlicht der in Berlin lebende Saxophonist Jan von Klewitz (u. a. Septer Bourbons Incredible Four, Ulla Oster Group) sein längst überfälliges CD-Debüt als Leader. Die "Bonehenge Suite" (JazzHausMusik) wurde speziell für die beiden unterschiedlichen Posaunisten Stefan Lottermann (Wollie Kaiser Timeghost, Heinz Sauer Quintett) und Iven Hausmann komponiert. Die Kompositionen verweisen gleichzeitig auf die urtümliche Kraft jahrhundertealter Melodien und die pure Freude am spontanen Zusammenspiel.

Das Hannes Claus Quartett besteht aus dem Bassisten Thomas Biller (Buggy Braune Band), dem famosen Holzbläser Claudio Puntin und Gitarrist Werner Neumann (Franck Band, Drei vom Rhein). Auf ihrem Erstling "Walk" (Acoustic Music Records) spielen sie angeregt und gewitzt mit den verschiedensten Musikstilen von Blues bis Latin und Marschmusik. Und dann schleicht sich plötzlich eine feine Ballade in unser Ohr: "Au Mary`s Hotel". Getragen von Claudio Puntins sehnsüchtigem Klarinettenspiel: Wunderschön!

Die zweite CD von Matalex dokumentiert einen gewaltigen Schritt nach vorne für die Gruppe. Waren sie bei ihrer ersten CD eine Studio-Band, die eine äußerst gelungene Fusion-CD ablieferte, ist Matalex bei ihrer zweiten CD "Jazz Grunge" (Lipstick Records) eine fest zusammengewachsene Gruppe mit einem eigenen musikalischem Konzept. Dabei ist der CD-Titel kein Etikettenschwindel, sondern eine ziemlich genaue Inhaltsangabe: Die urwüchsige Kraft des Grunge wird mit der Virtuosität und der Improvisationsfreude des Jazz verbunden. Das ganze ist spannend, kraftvoll und, wenigstens bisher, ziemlich einzigartig. Nur Wayne Horwitz bemüht sich mit seiner Seattle-Band "Pigpen" um eine ähnliche Verbindung. Es ist eine Fusion zwischen Jazz und Rock, wie sie auch zu Beginn der 70er praktiziert wurde. Heute werden, wie wir bei "Matalex" eindrucksvoll hören, nur die Gitarren in der Folge von Led Zeppelin, Heavy Metal und Punk un einige Grade härter und lauter gespielt.

Ein Duo ist die intensivste Form des musikalischen Zusammenspiels. Wenn sich aber ein Tastenmann auf einem Computer mit Midiotics-Setup (Joker Nies) und ein Altsaxophonist (Jeffrey Morgan) dafür zusammenschließen, ist gelinde Skepsis angebracht, ob das musikalische Experiment gelingen wird. Ob der Avantgarde-Anspruch nur deshalb hochgehalten wird, um mangelnde musikalische Substanz zu verheimlichen?. Bei der ersten CD von Pair a` Dice, "Snake Eyes" (Random Acoustics), ist diese Skepsis vollkommen unbegründet. Hier entstand ein ungemein komplexes, aber immer live-klingendes musikalisches Experiment, welches zu aufmerksamem Hören verpflichtet. Free Jazz-Avantgarde at it`s best!

Aus Berlin kommt mit "Reedstorm" (Acoustic Music Reocrds) ein ausgezeichnetes Saxophon-Quartett. Mutig setzen sich Roland Schmitt, Micha Scheunemann, Torsten Piper und Dagmar Thimm zwischen die Stühle Tradition und Moderne. Dabei steht bei ihnen das kraftvolle Ensemble-Spiel gegenüber langen Soli im Vordergrund. Sie eifern damit erfolgreich Us-amerikanischen Gruppen wie dem "29th Street Saxophone Quartet" nach, ohne in plattes Epigonentum zu verfallen.

Zwar ist das John Stowell Trio nach dem Us-amerikanischen Gitarristen Stowell benannt, aber Schlagzeuger Hiram Muschler und Bassist Florian Dölling kommen aus Freiburg. Außerdem schrieb Dölling fast alle Kompositionen der im vergangenen Februar Live aufgenommenen Debüt-CD "Somewhere" (Seraphon). Entstanden ist, teilweise an Slow Sco erinnernder, erfrischend zupackender Gitarrenjazz. Dölling spielt auch bei dem UpART I. G. Ensemble, einem Zusammenschluß Freiburger Musiker, mit. Auf dem knapp achzigminütigen Konzertmitschnitt "Juxtapositions" (Seraphon) wandelt die zwölfköpfige Gruppe (u. a. mit Saxophonist Matthias Stich) erfolgreich auf den Spuren von Tim Berne.

"Visitors" (Acoustic Music Record", die zweite CD der Berliner Gruppe "Loftline" (Saxophonist Christian Raake, Pianist Peter Schenderlein, der neu hinzugekommene Bassist Alexander Procop, Schlagzeuger Max Vonthien), ist wesentlich stärker als ihr Erstling: Man spielt homogener und straighter zusammen. Besonders die langsamen, bluesgefärbten Stücke klingen exzellent. Auch integrieren sie erstmals, behutsam, Samples in ihr Spiel.

Ein beeindruckendes Debüt gelingt dem noch unbekannten Dirk Balthaus/Bert Lochs Quartett mit "Tales of the frog" (Acoustic Music Records). Mit sicherem Gespür für griffige Melodien und Stimmungen spielen sich Bert Lochs, tr, Dirk Balthaus, p, Sven Schuster, b, und Steve Altenber, dr, durch ihre Eigenkompositionen. Diese sind mal balladesk, mal funky, aber immer straight und inspiriert gespielt.

Schrammel & Slide nennen die beiden Rockgitarristen Hans Reffert und Adax Dörsam ihr Projekt. Auf "Deux" (Wonderland) interpretieren sie auf akustischen Gitarren verschroben die verschiedensten Stile. Zigeuner-Jazz, Hawai-Gitarren, Mississippi-Blues, Hillbilly und Ländler mischen sich friedlich zu einer schrammeligen, bierseeligen (oder weinseeligen) Musik für`s Lagerfeuer.

Zum Abschluß nun doch noch ein Hinweis auf die alten Free-Jazzer. Die September Band, bestehend aus den Free-Jazz-Urgesteinen Paul Lovens, dr, Shelley Hirsch, voc, Rüdiger Carl und Hans Reichel, git/dax, veröffentlicht mit dem Konzert-Mitschnitt ihres "Vandoeuver Concerts" (FMP) fast ein Pop-Album. Freier Jazz, imaginäre Folklore, Film- und Weltmusik werden zu einem bezaubernden Gemisch zusammenimprovisiert. Eine Sternstunde für die September Band, den Freien Jazz und alle geneigten Hörer.

Letzte Änderungen: 28.12.2001
Produziert von
Peter Pötsch