Nr. 5 / März 1997

















Gästebuch


Teddys, Affen und Exzentrik

Nein, Charlemagne Palestine gehört bestimmt nicht zu den "household names" des internationalen Musikgeschäfts; und doch hat dieser Mann Mitte/Ende der sechziger Jahre gemeinsam mit Steve Reich, Terry Riley und Philip Glass die Grundlage für etwas gelegt, was dann als Minimal Music bezeichnet wurde; Steely Dan haben seinem seltsamen Vornamen in einem Song Referenz gezollt ("Kid Charlemagne"; Charlemagne = franz./engl. "Karl der Große"), der nicht nur Leeson´s elder statesman Thomas Bohnet bei Redaktionssitzungen auf zahlreiche lustige Falschreibungen brachte. Christoph Linder traf den alten weisen Mann der reduzierten Musik bei einem Konzert in Ulm und machte sich auf, die "Legende" seines Lebens zu schreiben, Essenz eines fast einstündigen beeindruckenden Interviews.

Charlemagne selbst ist über die neue Aufregung um sein Werk jedoch eher überrascht: "Ich habe so seit 12, 13 Monaten das Gefühl, daß die Welle zu mir zurückkehrt." "The Wave is turning back on me", war aber hierbei nur ein Beispiel des an Wasser/Fließ-Metaphern so reichen Interviews. Dies war sicher auch meine Mitschuld (ich hatte dem Künstler ein Exemplar von David Toops "Ocean of Sound" als Geschenk mitgebracht) gleichzeitig kennzeichnet ewiges Fließen und Wogen auch ganz gut die Musik des Charlemagne Palestine, nicht zuletzt aber auch seinen Interviewstil: Als Fragender ist man hier in der dankbaren Rolle des reinen Stichwortgebers, während Charlemagne im ewigen Flow seiner Wordraps lose zwischen "ethnischer Musizierpraxis", "Marshall McLuhan", "orale Tradition" und "Spiritualität" hin und her pendelt, ohne allerdings in oberflächliche Esoterik zu verfallen oder seine Freundschaft zu dem verstorbenen belgischen Comic-Zeichner Hergé zu vergessen.

"Music as a legend"

Dieser hatte den Künstler 1974 nach einer Solo-Performance in Brüssels Palast der schönen Künste angesprochen und seine Musik als "Legende" bezeichnet; hier drängten sich Ähnlichkeiten mit seinem eigenen Oeuvre (Tintin, ihr erinnert euch...), das von Hergé erstaunlicherweise als zeitgenössische Möglichkeit einer eigentlich archaischen Form, der Epik, verstanden wurde, förmlich auf. Auch Charlemagne ist von der Idee der Legende, der Idee des Erzählflusses und der irisierenden Vielfältigkeit oraler Vermittlung auch von Musik fasziniert, die für ihn Möglichkeiten weitab der Rigidität europäischer Notationstechniken bietet und ebenso die Starrheit der Improvisation/Komposition-Distinktion auflöst: "Ich mag das Wort Improvisation nicht. Ich denke, ein Teil meiner Stücke enthalten 10 % "Improvisation", andere etwas mehr. Heute Nacht z.B. hab ich mich entschlossen, 85 - 90 % so zu spielen - ich weiß nicht ob "Improvisation" das richtige Wort ist... Heute werde ich eine Version eines Approach spielen, den ich vor über 30 Jahren entwickelt habe. Ich habe aber nichts niedergeschrieben und erinnere mich nicht mal, wer oder was ich vor dreißig Jahren war. Aber ich spiele diesen Ansatz heute wieder, und weil er in oraler Tradition überliefert wurde und nicht aufge-schrieben, birgt er große unglaubliche Möglichkeiten zur Freiheit in sich. Diese Freiheit ist wie in der ethnischen Musizierpraxis der neue Anreiz die neue Motivation, die jeder tagtäglich in sein Leben bringt Es verhält sich wie bei einem Bauer, der für 30 Jahre seine Farm bewirtschaftet. Wenn er morgens aufwacht, weiß er nicht welche Pflanze er einsetzt, welche er ausreißt oder welche zurückhält...oder wenn plötzlich ein Sturm aufkommt und er umherennt wie verrückt: Improvisiert er? Oder tut er nicht letzt-endlich das, was er immer getan hat?" Auch das Interview entwickelt sich im organischen Groove dieses Erzählflusses, letztendlich auch Charlemagne Biographie, und ich schäme mich fast, als ich nach fast einer Stunde mit einem Hinweis auf eine nötige Konzentrations- und Erholungspause für den Künstler vor dem Konzert abbreche. Tatsächlich schildert "Kid Charlemagne" recht genau Charlemagnes eigene "Legende", wenngleich die nach einem Burroughschen Dildo benannten Steely Dan sich diesen Titel nur von einer mit dem "wirklichen" Charlemagne befreundeten schwedischen Band entliehen hatte: Aufstieg und Fall eines jungen Exzentrikers und Bohemiens, eines Wunderkindes, das nach Indonesien reist, Anhänger einer selbsterfundenen synkretistischen Religion ist und dessen an physische Gewalttätigkeit grenzenden, oft mehrstündigen Performances am Bösendorfer Imperial Flügel (umgegeben von fluffigen Stofftieren) Legende sind. Noch früher: C., Sohn einer jüdischen Kantorenfamilie, stundelange rituelle Gesänge in der Synagoge. jüdisches Erbe

Charlemagnes jüdisches Erbe realisiert sich auch heute noch vor allem, wenn er, wie in Ulm, singt. "Wenn ich singe, spreche ich in Zungen. Du kennst die Sprache nicht, ich kenne sie nicht, und doch ist sie da und ich habe hinterher das Gefühl, als ob ich eine sehr persönliche, magische und uralte Geschichte mit sehr wenigen Worten, die aus jeder Sprache stammen können, erzählt zu haben. Das ist meine Art eine solche "Legende" zu erzählen." Das Ulmer Vokalstück, das sich für die Dauer einer Stunde in schmerzhafter Intensität über einige wenige, offene Keyboard-Akkorde entwickelt, transportiert dabei jedoch mehr an jüdischer Tradition (eben vor allem jahrhundertealte ostjüdische Kantorentradition) als dies die oft oberflächlichen Apologeten einer "Radical Jewish Culture", John Zorn et al., jemals vermögen werden. Als ich beim Essen nach dem Konzert, dieses Stück als "jewish blues tune" bezeichne, widerspricht Charlemagne nicht....

Career moves

Weitere Ausschnitte aus einer professionellen Karriere: Bereits als 13 jähriger kommt C. an die Musikakademie, wenig später ist er hauptamtlicher Carillon(=Glockenspiel)spieler im New Yorker Central Park, erste Faszination der Drones, des Dröhnens. Am Carillon, das mit derben Holzstöcken anstelle der Tasten gespielt wird, entdeckt Charlemagne Palestine auch mit Begeisterung Musik als physischen Ausbruch und Ausdruck. Seine Musizierpraxis wird zur einer oftmals ans gewalttätige grenzenden "Strumming Music". Dann die 70er Jahre, Zeit der Desillusion-ierung, der weitflächigen Vermarktung der Minimal Music. Ein Prozeß dem Charlemagne Palestine keineswegs bereit war zu folgen: "An einem gewißen Moment gab es einen Tanz, bei dem jeder mitmachen mußte, um zu überleben... und, obwohl ich bald 50 werde bin ich ganz gut darin, meinen eigenen kleinen "Song" zu singen und meinen eigenen Tanz zu tanzen. Diesen Bus, der Ende der siebziger Jahre in Richtung Jazz startete, in Richtung Rock, New Wave und dann New Age, verstand ich zwar, aber es war ein Bus, den ich nicht nehmen konnte... Obwohl ich wußte, ich würde finanziell eine fürchterlich schlechte Zeit haben, sagte ich dem Bus "Adieu", weil ich nicht anders konnte... Ich bin eigentlich kein Purist, schau mich an, ich liebe es zu essen und zu trinken, was aber meine eigentlichen künstlerischen Grundlagen und Werte anbetrifft, bin ich´s doch, denn ich schaffe einfach nicht diesen Übergang zum Popularismus, wie das die anderen Leute machen" Eine Zeit der privaten Krise und der Aggression und Entzweiung folgte, dann der Rückzug in die bildende Kunst, wobei auch hier primitive, archaisch-rituelle Formen überwiegen: Affenfetische und: immer wieder Teddybären. Am berühmtesten hierbei wohl eine Installation, die Charlemagne in den achtziger Jahren für die Dokumenta in Kassel erstellte. Riesenhafte Teddys, die nach Vorlagen des Künstlers von Steiff ("Knopf im Ohr") produziert werden. Heute sagt Charlemagne über den Minimalisten-Zirkeln: "Über eine lange Zeit fühlte ich mich nicht wirklich als ein Bestandteil der Schule... das mag der Grund gewesen sein, warum ich abgehauen bin, um was Anderes zu machen, oder um irgendwie meine eigene "Legende" zu schreiben." Auf Vermittlung von Sonic Youth´s Lee Renaldo wurden jüngst einige der klassischen 70er Jahre Werke C. Palestines bei zwei Kleinstlabels wiederveröffentlicht (bei "Four Manifestations" besorgte Porter Ricks` Thomas Köner das Mastering), andere sollen folgen und auch neue Aufnahmen, da der Künstler durch das neue Interesse an seiner Kunst wieder verstärkt musikalisch tätig ist; die "Legende" des Charlemagne Palestine ist noch längst nicht im letzten Kapitel angekommen...

Diskographie

Charlemagne Palestine

"Four Mani-festations on Six Elements"

CD, Barooni 1996

"Strumming Music" CD

New Tone 1996

Letzte Änderungen: 28.12.2001
Produziert von
Peter Pötsch