Teddys, Affen
und Exzentrik
Nein, Charlemagne
Palestine gehört bestimmt nicht zu den "household names"
des internationalen Musikgeschäfts; und doch hat dieser Mann Mitte/Ende
der sechziger Jahre gemeinsam mit Steve Reich, Terry Riley und Philip
Glass die Grundlage für etwas gelegt, was dann als Minimal Music
bezeichnet wurde; Steely Dan haben seinem seltsamen Vornamen in
einem Song Referenz gezollt ("Kid Charlemagne"; Charlemagne
= franz./engl. "Karl der Große"), der nicht nur Leeson´s
elder statesman Thomas Bohnet bei Redaktionssitzungen auf zahlreiche
lustige Falschreibungen brachte. Christoph Linder traf den alten
weisen Mann der reduzierten Musik bei einem Konzert in Ulm und machte
sich auf, die "Legende" seines Lebens zu schreiben, Essenz
eines fast einstündigen beeindruckenden Interviews.
Charlemagne
selbst ist über die neue Aufregung um sein Werk jedoch eher überrascht:
"Ich habe so seit 12, 13 Monaten das Gefühl, daß die Welle
zu mir zurückkehrt." "The Wave is turning back on me",
war aber hierbei nur ein Beispiel des an Wasser/Fließ-Metaphern
so reichen Interviews. Dies war sicher auch meine Mitschuld (ich
hatte dem Künstler ein Exemplar von David Toops "Ocean of Sound"
als Geschenk mitgebracht) gleichzeitig kennzeichnet ewiges Fließen
und Wogen auch ganz gut die Musik des Charlemagne Palestine, nicht
zuletzt aber auch seinen Interviewstil: Als Fragender ist man hier
in der dankbaren Rolle des reinen Stichwortgebers, während Charlemagne
im ewigen Flow seiner Wordraps lose zwischen "ethnischer Musizierpraxis",
"Marshall McLuhan", "orale Tradition" und "Spiritualität"
hin und her pendelt, ohne allerdings in oberflächliche Esoterik
zu verfallen oder seine Freundschaft zu dem verstorbenen belgischen
Comic-Zeichner Hergé zu vergessen.
"Music
as a legend"
Dieser hatte
den Künstler 1974 nach einer Solo-Performance in Brüssels Palast
der schönen Künste angesprochen und seine Musik als "Legende"
bezeichnet; hier drängten sich Ähnlichkeiten mit seinem eigenen
Oeuvre (Tintin, ihr erinnert euch...), das von Hergé erstaunlicherweise
als zeitgenössische Möglichkeit einer eigentlich archaischen Form,
der Epik, verstanden wurde, förmlich auf. Auch Charlemagne ist von
der Idee der Legende, der Idee des Erzählflusses und der irisierenden
Vielfältigkeit oraler Vermittlung auch von Musik fasziniert, die
für ihn Möglichkeiten weitab der Rigidität europäischer Notationstechniken
bietet und ebenso die Starrheit der Improvisation/Komposition-Distinktion
auflöst: "Ich mag das Wort Improvisation nicht. Ich denke,
ein Teil meiner Stücke enthalten 10 % "Improvisation",
andere etwas mehr. Heute Nacht z.B. hab ich mich entschlossen, 85
- 90 % so zu spielen - ich weiß nicht ob "Improvisation"
das richtige Wort ist... Heute werde ich eine Version eines Approach
spielen, den ich vor über 30 Jahren entwickelt habe. Ich habe aber
nichts niedergeschrieben und erinnere mich nicht mal, wer oder was
ich vor dreißig Jahren war. Aber ich spiele diesen Ansatz heute
wieder, und weil er in oraler Tradition überliefert wurde und nicht
aufge-schrieben, birgt er große unglaubliche Möglichkeiten zur Freiheit
in sich. Diese Freiheit ist wie in der ethnischen Musizierpraxis
der neue Anreiz die neue Motivation, die jeder tagtäglich in sein
Leben bringt Es verhält sich wie bei einem Bauer, der für 30 Jahre
seine Farm bewirtschaftet. Wenn er morgens aufwacht, weiß er nicht
welche Pflanze er einsetzt, welche er ausreißt oder welche zurückhält...oder
wenn plötzlich ein Sturm aufkommt und er umherennt wie verrückt:
Improvisiert er? Oder tut er nicht letzt-endlich das, was er immer
getan hat?" Auch das Interview entwickelt sich im organischen
Groove dieses Erzählflusses, letztendlich auch Charlemagne Biographie,
und ich schäme mich fast, als ich nach fast einer Stunde mit einem
Hinweis auf eine nötige Konzentrations- und Erholungspause für den
Künstler vor dem Konzert abbreche. Tatsächlich schildert "Kid
Charlemagne" recht genau Charlemagnes eigene "Legende",
wenngleich die nach einem Burroughschen Dildo benannten Steely Dan
sich diesen Titel nur von einer mit dem "wirklichen" Charlemagne
befreundeten schwedischen Band entliehen hatte: Aufstieg und Fall
eines jungen Exzentrikers und Bohemiens, eines Wunderkindes, das
nach Indonesien reist, Anhänger einer selbsterfundenen synkretistischen
Religion ist und dessen an physische Gewalttätigkeit grenzenden,
oft mehrstündigen Performances am Bösendorfer Imperial Flügel (umgegeben
von fluffigen Stofftieren) Legende sind. Noch früher: C., Sohn einer
jüdischen Kantorenfamilie, stundelange rituelle Gesänge in der Synagoge.
jüdisches Erbe
Charlemagnes
jüdisches Erbe realisiert sich auch heute noch vor allem, wenn er,
wie in Ulm, singt. "Wenn ich singe, spreche ich in Zungen.
Du kennst die Sprache nicht, ich kenne sie nicht, und doch ist sie
da und ich habe hinterher das Gefühl, als ob ich eine sehr persönliche,
magische und uralte Geschichte mit sehr wenigen Worten, die aus
jeder Sprache stammen können, erzählt zu haben. Das ist meine Art
eine solche "Legende" zu erzählen." Das Ulmer Vokalstück,
das sich für die Dauer einer Stunde in schmerzhafter Intensität
über einige wenige, offene Keyboard-Akkorde entwickelt, transportiert
dabei jedoch mehr an jüdischer Tradition (eben vor allem jahrhundertealte
ostjüdische Kantorentradition) als dies die oft oberflächlichen
Apologeten einer "Radical Jewish Culture", John Zorn et
al., jemals vermögen werden. Als ich beim Essen nach dem Konzert,
dieses Stück als "jewish blues tune" bezeichne, widerspricht
Charlemagne nicht....
Career moves
Weitere Ausschnitte
aus einer professionellen Karriere: Bereits als 13 jähriger kommt
C. an die Musikakademie, wenig später ist er hauptamtlicher Carillon(=Glockenspiel)spieler
im New Yorker Central Park, erste Faszination der Drones, des Dröhnens.
Am Carillon, das mit derben Holzstöcken anstelle der Tasten gespielt
wird, entdeckt Charlemagne Palestine auch mit Begeisterung Musik
als physischen Ausbruch und Ausdruck. Seine Musizierpraxis wird
zur einer oftmals ans gewalttätige grenzenden "Strumming Music".
Dann die 70er Jahre, Zeit der Desillusion-ierung, der weitflächigen
Vermarktung der Minimal Music. Ein Prozeß dem Charlemagne Palestine
keineswegs bereit war zu folgen: "An einem gewißen Moment gab
es einen Tanz, bei dem jeder mitmachen mußte, um zu überleben...
und, obwohl ich bald 50 werde bin ich ganz gut darin, meinen eigenen
kleinen "Song" zu singen und meinen eigenen Tanz zu tanzen.
Diesen Bus, der Ende der siebziger Jahre in Richtung Jazz startete,
in Richtung Rock, New Wave und dann New Age, verstand ich zwar,
aber es war ein Bus, den ich nicht nehmen konnte... Obwohl ich wußte,
ich würde finanziell eine fürchterlich schlechte Zeit haben, sagte
ich dem Bus "Adieu", weil ich nicht anders konnte... Ich
bin eigentlich kein Purist, schau mich an, ich liebe es zu essen
und zu trinken, was aber meine eigentlichen künstlerischen Grundlagen
und Werte anbetrifft, bin ich´s doch, denn ich schaffe einfach nicht
diesen Übergang zum Popularismus, wie das die anderen Leute machen"
Eine Zeit der privaten Krise und der Aggression und Entzweiung folgte,
dann der Rückzug in die bildende Kunst, wobei auch hier primitive,
archaisch-rituelle Formen überwiegen: Affenfetische und: immer wieder
Teddybären. Am berühmtesten hierbei wohl eine Installation, die
Charlemagne in den achtziger Jahren für die Dokumenta in Kassel
erstellte. Riesenhafte Teddys, die nach Vorlagen des Künstlers von
Steiff ("Knopf im Ohr") produziert werden. Heute sagt
Charlemagne über den Minimalisten-Zirkeln: "Über eine lange
Zeit fühlte ich mich nicht wirklich als ein Bestandteil der Schule...
das mag der Grund gewesen sein, warum ich abgehauen bin, um was
Anderes zu machen, oder um irgendwie meine eigene "Legende"
zu schreiben." Auf Vermittlung von Sonic Youth´s Lee Renaldo
wurden jüngst einige der klassischen 70er Jahre Werke C. Palestines
bei zwei Kleinstlabels wiederveröffentlicht (bei "Four Manifestations"
besorgte Porter Ricks` Thomas Köner das Mastering), andere sollen
folgen und auch neue Aufnahmen, da der Künstler durch das neue Interesse
an seiner Kunst wieder verstärkt musikalisch tätig ist; die "Legende"
des Charlemagne Palestine ist noch längst nicht im letzten Kapitel
angekommen...
Diskographie
Charlemagne
Palestine
"Four Mani-festations
on Six Elements"
CD, Barooni
1996
"Strumming
Music" CD
New Tone 1996
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