Col legno oder die Spurensuche nach Klangwelten
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Ein Münchener Label erforscht die
musikalische Kosmologie der Moderne
Jenseits der mittlerweile obsolet gewordenen
Unterscheidung von U- und E-Musik - beide Formen durchdringen sich
als Politika wechselseitig - , von tonaler und a-tonaler Harmonik
liegt der kompositorische Gedanke, die melodische Idee, die sich
in einen solchen dualen Begriffsrahmen keinesfalls einspannen läßt
(knapp 400 Jahre war sie immerhin im tonal-homophonen System eingeschlossen,
bis sich die Polyphonie in modifizierter Form wieder ihrer Wurzeln
bemächtigte) und sich ihren Weg und Ausdrucksmedium sucht. Waren
es in der klassischen Sprache die Harmonik der Akkordsäulen, über
denen sich der Bogen der Form spannte, so erscheint in der modernen
Klassik ein freischwebendes, in sich bewegliches, scheinbar labil-amorphes
Gebilde als Ausdruck von Autonomie, Freiheit (oder besser: Befreiung),
Bewegung und Dynamik. Aus den statischen Blöcken der harmonischen
Bausteine, die die Musik der Tonalität zusammensetzten, aus dem
melodischen Abschreiten des Dreiklangs werden vorerst die kinetisch
charakterisierten, beweglichen Reihenelemente, bis hin zur probabilistischen
Auflösung derselben. Das kompositorische Schaffen bedient sich nunmehr
als Ausdrucksplattform der eigens zu dem individuellen Zweck geschaffenen
Axiomatik mit der Konsequenz der erhöhten Variationsbreite, der
Steigerung des Expressivo hin zum Fragmentarischen. Dies war kein
novum, hatte doch schon der Surrealismus in expliziter Gegenzeichnung
zum Dada (Intention: Schockwirkung) das Fragmentarische zum Paradigma
erhoben, der von der Montage der Trümmer lebte, die er vorfand.
Die Stücke wurden in einen Zusammenhang montiert,
damit man sah, daß sie nicht zusammenpassen. Von Anfang an stand
fest, daß hier nichts fest steht, sondern daß alles aus den Fugen
geraten war, und der Versuch, irgendeine Ordnung zu schaffen, erwies
erst recht, daß eine verzweifelte Unordnung waltete. Der Surrealismus
präparierte den Unsinn heraus, der entsteht, wenn ein Bewußtsein,
das mit der Geschichte nicht mitgekommen ist, eine in Trümmer gegangene
Welt so behandelt, als ob sie noch ganz wäre.
Was im Musikalischen von Trümmern übrigblieb,
war der reine und autonome Klang in seiner Offenheit implizierenden
Strukturalität. Somit war der Hörer "artikulierter Musik"
in doppelter Weise gefordert, wie es Theodor W-Adorno (Eigenkompositionen
1923-45 auf Wergo, Wer 6173-2), der wohl leidenschaftlichste und
unerbittlichste Apologet der Avantgarde, formulierte, nämlich "ihre
Teilmomente auseinanderzuhalten und sie wiederum funktionell zu
vereinen". Daß dies an die Grenzen herkömmlicher auditiver
Akzeptanz stieß und Skandale zeitigte, war nicht so sehr intendiert,
als eher eine Begleiterscheinung, sodaß Schönberg als Begründer
der Zweiten Wiener Schule bezeichnenderweise die "Gesellschaft
für musikalische Privataufführungen" (Wien, 1918) gründete,
die sich somit außerhalb der ästhetischen (und explizit außerhalb
der medialen) Apparatur des Musikbetriebs ansiedelte.
In der Tat beginnt die Entfremdung der Kunst
und damit der Widerstand gegen die jeweils neue Musik, gegen jene,
die den höchsten Grad von Expressivität realisiert, immer intensiver
zu werden, je mehr die Auffassung durchdringt, daß die Kunst zur
Erholung und Erbauung nach des Tages Last und Plage zu dienen habe,
je eindeutiger man also die Kunst unter die Genußmittel zu rechnen
beginnt, die einzigen Gegenstände, um derentwillen jene Plage sich
lohnen mag; so lautete demnach der dogmatisch überhöhte Schlachtruf
der Avantgarde: "Nolite conformari huic saeculo!" (Keine
Anpassung!) Einen vergleichbar weicheres Schwellenprodukt zur Moderne
bietet das durch rhythmische Härte ausgezeichnete "Le sacre
du Printemps" 1913 von Igor Strawinsky (1882-1971), welche
einen der größten Skandale der Musikgeschichte, vergleichbar denen
der Koproduktionen von Buñuel und Dali, zeitigte und für die das
tonale Ohr einer 20-jährigen Inkubationszeit bedurfte (zerreißende
und preisgekrönte Boulezsche Einspielung mit dem "Orchestre
National" Paris).
Die Gedanken, die sich insbesondere nach den
Erfahrungen des WK I und II ihren Weg in das musikalische Medium
zu suchen bestrebten, waren nun mal nicht mit dem herkömmlichen
Notationssystem auszudrücken (man denke an das ekstatische Expressivo
des Auschwitz Oratoriums "Dies Irae" von Penderecki (1933-),
am 16. April 1967 anläßlich eines internationalen Memorandums auf
der Anlage des ehemaligen KZs uraufgeführt):
Größere Komplexität der Erfahrung verlangt
nach größerer Komplexität der Sprache und bewirkte eine radikale
Umwälzung der Grundlagen des musikalischen Bewußtseins. War mit
Schönberg der erste Schritt im Zeichen der seriellen Destruktion
der Tonalität getan (Auflösung der Dur/moll-Binarität in der Zwölftontechnik),
so folgte eine noch radikalere 2. Stufe mit Olivier Messiaen (Schüler:
Boulez, Stockhausen) und eine 3. und letzte Stufe mit John Cage.
Messiaen (1908-1992) als Vertreter der Darmstädter
Schule übertrug die Idee der Reihe auf den Rhythmus und zerstörte
die metrische Ordnung der alten Musik, zumal die zeitliche Ordnung
für die Wahrnehmung von Musik weit fundamentaler ist als die klangliche.
Solange ein fester, gleichbleibender "beat" eine stets
erkennbare Symmetrie der harmonischen Gestalten garantiert, kann
der Hörer in der so entstandenen Perspektive musikalische Gegenstände
relativ leicht identifizieren; fehlt dieser "beat", so
wird dem Hörer eine ganz neue Aufmerksamkeit abverlangt, eine puzzlehafte
Rekonstruktion des Gegebenen.
Cage (1912-1992) nun stürzte die Serialität
ebenfalls in eine Krise, indem er mit der Idee eines geplanten und
gebauten Kunstwerks überhaupt brach und an die Stelle von Konstruktion
den Zufall als System der Komposition setzte: mit dem aleatorischen
Element als Selbstbefreiung von der Last und "kulturellen Überbürdung,
die die Kunst überschattet und verdeckt" (Carl Andre), ist
die Herrschaft der vorgewählten Reihe beendet und eine neue Freiheit
erreicht. Die Form wird etwas Variables, es entsteht eine Art Raumgefühl,
wie es schon in der Ästhetik Varèses vorgebildet war. Insbesondere
in den Kompositionen für präpariertes Klavier ("Sonatas And
Interludes", col legno, WWE 1CD 20001), aber auch in zahlreichen
Schlagzeugkompositionen (neben konventioneller Instrumentierung
finden sich ebenfalls Blechdosen, Tische und andere Gegenstände
des täglichen Lebens) manifestiert sich die Vorliebe Cages für Geräusche
und neu gefundene Klänge auch im Sinne von "Musique Concrète",
einer Montage von realen akustischen Phänomenen, mit Mikrophon aufgenommen,
durch Manipulation der Tonbänder verzerrt und in überraschende Zusammenhänge
montiert. Diese Gesaltungsform ist nicht zu verwechseln mit rein
elektronisch erzeugten Klängen, z.B. Stockhausens (1928-) "Kontakte"
1959/60 für elektronische Klänge, Werknr. 12 . Mit solchen Mitteln
werden gemäß dem musikalischen Gedanken begleitende oder dominante
Klangteppiche erzeugt. Solche Stücke beinhalten Aufgabenstellungen,
die trotz aller offensichtlichen "Einfachheit" scheinbar
unmöglich sind. Cage überläßt den Spielern zwar durch die Unbestimmtheit
seiner Kompositionen eine mehr oder weniger große Bandbreite an
Wahlmöglichkeiten, hat aber gleichzeitig verdeutlicht, daß diese
Freiheit ein sehr hohes Maß an Verantwortung verlangt.
Solch Verantwortung im weiteren Sinne hat
sich das Münchner Label "col legno" (1982-, Vertrieb:
SONY) liebevoll zur Aufgabe und Pflicht gemacht. Als ein Label gemäß
dem amerikanischen "A-Not-For-Profit-Corp."-Dogma (american
contemporary, Composers Recordings, Inc., CRI, NY, 1954-) und in
enger Zusammenarbeit mit dem SWF besticht es in Auswahl, Interpretation,
graphischer und Verpackungsgestaltung (robuster und schützender
Carton-Schuber) sowie Informationsgehalt der eingespielten Stücke
(ausführliches und äußerst informatives Booklet mit Kompositions-
und Komponistenmaterial).
Das Repertoire liest sich als ein who-is-who
der modern-klassischen Avantgarde: Boulez, Stockhausen, Schönberg,
Nono, Cage, Xenakis, Rihm, Penderecki, Varèse, Feldman und den für
sein kompositorisches Lebenswerk mit dem "Ernst von Siemens-Musikpreis"
1997 ausgezeichneten Helmut Lachenmann (u.a. WWE 1CD 31862/ WWE
1CD 31863).
Neben Einspielungen noch unbekannter oder
mittlerweile bekanntgewordener Komponisten (sicher ist dies auch
ein Verdienst von "col legno") enthält das labelinterne
3-Punkte-Programm die Steigerung der Verkaufsattraktivität der Komponisten
mittels internationaler Orchester und Interpreten. Gleichfalls zentriert
sich der Aktionsradius dieses innovativen Labels auf Portrait-Konzerte
z.B. von György Kurtág (10.8.93 in Salzburg, WWE 2CD 31870), insbesondere
aber auf die Dokumentation nationaler und internationaler Festivals,
wie dem Labelzugpferd Donaueschingen (Verzeichnis der dokumentierten
Veranstaltungen siehe Bildkasten).
col legno, das Avantgarde-Aushängeschild des
Branchenriesen SONY und immer auf Spurensuche im Kosmos neuer Klänge,
erfaßt mit Spürsinn und Feingefühl zeitgenössische Avantgardeströme
und bannt sie eindrucksvoll auf Tonträger. Der Klang, zum Grundelement
moderner Kompositionstechnik avanciert, rückt in den Mittelpunkt;
die musikalischen Muster sind mitunter kurze Tonfolgen oder Akkorde,
die in genauer Wiederholung oder mittels kleinster rhythmischer
Variationen das gesamte Stück durchlaufen können und bei Morton
Feldman (1926-1987) leise und fragil gewebte Klanggebilde entstehen
lassen (Feldmans Faible für die technisch bedingten asymetrisch
geknüpften türkischen Nomaden-Teppiche ist unverkennbar). Die Dimension
der Unbegreiflichkeit wird durch die ungeheure Länge (Dauern zwischen
einer und fünf Stunden) ins Extrem getrieben, zumal es beim Hören
dieser Werke durch die Absenz einer musikalischen Syntax keinerlei
Ansatzpunkte zum Festhalten gibt und somit das Gefühl für die Zeit
völlig verloren geht, "Crippled Symmetry" 1983 (WWE 2CD
31874) oder "Triadic Memories" 1981 (WWE 2CD 31873): Was
bleibt ist der Eindruck des einzelnen Klangmoments, wie Stockhausen
sich ausdrückt. Der Hörer ist hier genötigt, unabhängig von einem
absoluten Zentrum, sein eigenes Beziehungssystem zu errichten, das
er aus dem klingenden Kontinuum herausholt, in dem es keine bevorzugten
Punkte mehr gibt, sondern in dem alle Perspektiven gleichermaßen
gültig und möglichkeitsträchtig sind, so bei Carlos H. Veerhoffs
(1926-) an Heraklits Worte mahnende 1. "Sinfonia pantha rhei"
1954/5 (WWE 1CD 31892) oder Pendereckis famosen "Polymorphia"
1961 (Philips 839701 LY).
Alle zusammen dokumentieren die Werke Zeugnisse
einer modern-dynamischen und spiegelhaften Gegenwartskultur, die,
im steten Wandel befindlich, sich mit Händen und Füßen und zunehmendem
Erfolg - dies ist mitunter ein Verdienst der zunehmenden Popularität
Cages - gegen die Kommerzialisierung und Verrohung durch die moderne
Kulturindustrie wehrt; ein aktueller Ausblick für 1997 bleibt immerhin:
Die 76sten Donaueschinger Musiktage vom 17.-19. Oktober, da:
"The present-day composer refuses to
die!" (Edgar Varèse, July 1921).
Festivalübersicht:
- "Festival Rencontres Internationales
de Musique Contemporaine" Metz, 1970-1990 (5+1 CD),
- "Leningrader Festival für Neue Musik"
1988 (6 CDs),
- "Festival Alternativa" Moskau
1989 (5 CDs),
- "Zeitfluss", Salzburg 1993 ,
- "50 Jahre Internationale Ferienkurse
zur Neuen Musik" Darmstadt 1996
- "Donaueschinger Musiktage", 1990/1992/1993/1994/1995
und enzyklopädische Originalaufnahmen umfassende Dokumentation
zu
- "75 Jahre Donaueschingen" auf
12 CDs (WWE 12CD 20000).
Weitere Informationen unter:
col legno Musikproduktion
Wulf Weinmann
Prangerlstr. 8
D-81247 München
Phone: 089-891.600.07
fax: 089-891.53.64
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