Nr. 6 / Juli 1997

















Gästebuch


Col legno oder die Spurensuche nach Klangwelten -

Ein Münchener Label erforscht die musikalische Kosmologie der Moderne

Jenseits der mittlerweile obsolet gewordenen Unterscheidung von U- und E-Musik - beide Formen durchdringen sich als Politika wechselseitig - , von tonaler und a-tonaler Harmonik liegt der kompositorische Gedanke, die melodische Idee, die sich in einen solchen dualen Begriffsrahmen keinesfalls einspannen läßt (knapp 400 Jahre war sie immerhin im tonal-homophonen System eingeschlossen, bis sich die Polyphonie in modifizierter Form wieder ihrer Wurzeln bemächtigte) und sich ihren Weg und Ausdrucksmedium sucht. Waren es in der klassischen Sprache die Harmonik der Akkordsäulen, über denen sich der Bogen der Form spannte, so erscheint in der modernen Klassik ein freischwebendes, in sich bewegliches, scheinbar labil-amorphes Gebilde als Ausdruck von Autonomie, Freiheit (oder besser: Befreiung), Bewegung und Dynamik. Aus den statischen Blöcken der harmonischen Bausteine, die die Musik der Tonalität zusammensetzten, aus dem melodischen Abschreiten des Dreiklangs werden vorerst die kinetisch charakterisierten, beweglichen Reihenelemente, bis hin zur probabilistischen Auflösung derselben. Das kompositorische Schaffen bedient sich nunmehr als Ausdrucksplattform der eigens zu dem individuellen Zweck geschaffenen Axiomatik mit der Konsequenz der erhöhten Variationsbreite, der Steigerung des Expressivo hin zum Fragmentarischen. Dies war kein novum, hatte doch schon der Surrealismus in expliziter Gegenzeichnung zum Dada (Intention: Schockwirkung) das Fragmentarische zum Paradigma erhoben, der von der Montage der Trümmer lebte, die er vorfand.

Die Stücke wurden in einen Zusammenhang montiert, damit man sah, daß sie nicht zusammenpassen. Von Anfang an stand fest, daß hier nichts fest steht, sondern daß alles aus den Fugen geraten war, und der Versuch, irgendeine Ordnung zu schaffen, erwies erst recht, daß eine verzweifelte Unordnung waltete. Der Surrealismus präparierte den Unsinn heraus, der entsteht, wenn ein Bewußtsein, das mit der Geschichte nicht mitgekommen ist, eine in Trümmer gegangene Welt so behandelt, als ob sie noch ganz wäre.

Was im Musikalischen von Trümmern übrigblieb, war der reine und autonome Klang in seiner Offenheit implizierenden Strukturalität. Somit war der Hörer "artikulierter Musik" in doppelter Weise gefordert, wie es Theodor W-Adorno (Eigenkompositionen 1923-45 auf Wergo, Wer 6173-2), der wohl leidenschaftlichste und unerbittlichste Apologet der Avantgarde, formulierte, nämlich "ihre Teilmomente auseinanderzuhalten und sie wiederum funktionell zu vereinen". Daß dies an die Grenzen herkömmlicher auditiver Akzeptanz stieß und Skandale zeitigte, war nicht so sehr intendiert, als eher eine Begleiterscheinung, sodaß Schönberg als Begründer der Zweiten Wiener Schule bezeichnenderweise die "Gesellschaft für musikalische Privataufführungen" (Wien, 1918) gründete, die sich somit außerhalb der ästhetischen (und explizit außerhalb der medialen) Apparatur des Musikbetriebs ansiedelte.

In der Tat beginnt die Entfremdung der Kunst und damit der Widerstand gegen die jeweils neue Musik, gegen jene, die den höchsten Grad von Expressivität realisiert, immer intensiver zu werden, je mehr die Auffassung durchdringt, daß die Kunst zur Erholung und Erbauung nach des Tages Last und Plage zu dienen habe, je eindeutiger man also die Kunst unter die Genußmittel zu rechnen beginnt, die einzigen Gegenstände, um derentwillen jene Plage sich lohnen mag; so lautete demnach der dogmatisch überhöhte Schlachtruf der Avantgarde: "Nolite conformari huic saeculo!" (Keine Anpassung!) Einen vergleichbar weicheres Schwellenprodukt zur Moderne bietet das durch rhythmische Härte ausgezeichnete "Le sacre du Printemps" 1913 von Igor Strawinsky (1882-1971), welche einen der größten Skandale der Musikgeschichte, vergleichbar denen der Koproduktionen von Buñuel und Dali, zeitigte und für die das tonale Ohr einer 20-jährigen Inkubationszeit bedurfte (zerreißende und preisgekrönte Boulezsche Einspielung mit dem "Orchestre National" Paris).

Die Gedanken, die sich insbesondere nach den Erfahrungen des WK I und II ihren Weg in das musikalische Medium zu suchen bestrebten, waren nun mal nicht mit dem herkömmlichen Notationssystem auszudrücken (man denke an das ekstatische Expressivo des Auschwitz Oratoriums "Dies Irae" von Penderecki (1933-), am 16. April 1967 anläßlich eines internationalen Memorandums auf der Anlage des ehemaligen KZs uraufgeführt):

Größere Komplexität der Erfahrung verlangt nach größerer Komplexität der Sprache und bewirkte eine radikale Umwälzung der Grundlagen des musikalischen Bewußtseins. War mit Schönberg der erste Schritt im Zeichen der seriellen Destruktion der Tonalität getan (Auflösung der Dur/moll-Binarität in der Zwölftontechnik), so folgte eine noch radikalere 2. Stufe mit Olivier Messiaen (Schüler: Boulez, Stockhausen) und eine 3. und letzte Stufe mit John Cage.

Messiaen (1908-1992) als Vertreter der Darmstädter Schule übertrug die Idee der Reihe auf den Rhythmus und zerstörte die metrische Ordnung der alten Musik, zumal die zeitliche Ordnung für die Wahrnehmung von Musik weit fundamentaler ist als die klangliche. Solange ein fester, gleichbleibender "beat" eine stets erkennbare Symmetrie der harmonischen Gestalten garantiert, kann der Hörer in der so entstandenen Perspektive musikalische Gegenstände relativ leicht identifizieren; fehlt dieser "beat", so wird dem Hörer eine ganz neue Aufmerksamkeit abverlangt, eine puzzlehafte Rekonstruktion des Gegebenen.

Cage (1912-1992) nun stürzte die Serialität ebenfalls in eine Krise, indem er mit der Idee eines geplanten und gebauten Kunstwerks überhaupt brach und an die Stelle von Konstruktion den Zufall als System der Komposition setzte: mit dem aleatorischen Element als Selbstbefreiung von der Last und "kulturellen Überbürdung, die die Kunst überschattet und verdeckt" (Carl Andre), ist die Herrschaft der vorgewählten Reihe beendet und eine neue Freiheit erreicht. Die Form wird etwas Variables, es entsteht eine Art Raumgefühl, wie es schon in der Ästhetik Varèses vorgebildet war. Insbesondere in den Kompositionen für präpariertes Klavier ("Sonatas And Interludes", col legno, WWE 1CD 20001), aber auch in zahlreichen Schlagzeugkompositionen (neben konventioneller Instrumentierung finden sich ebenfalls Blechdosen, Tische und andere Gegenstände des täglichen Lebens) manifestiert sich die Vorliebe Cages für Geräusche und neu gefundene Klänge auch im Sinne von "Musique Concrète", einer Montage von realen akustischen Phänomenen, mit Mikrophon aufgenommen, durch Manipulation der Tonbänder verzerrt und in überraschende Zusammenhänge montiert. Diese Gesaltungsform ist nicht zu verwechseln mit rein elektronisch erzeugten Klängen, z.B. Stockhausens (1928-) "Kontakte" 1959/60 für elektronische Klänge, Werknr. 12 . Mit solchen Mitteln werden gemäß dem musikalischen Gedanken begleitende oder dominante Klangteppiche erzeugt. Solche Stücke beinhalten Aufgabenstellungen, die trotz aller offensichtlichen "Einfachheit" scheinbar unmöglich sind. Cage überläßt den Spielern zwar durch die Unbestimmtheit seiner Kompositionen eine mehr oder weniger große Bandbreite an Wahlmöglichkeiten, hat aber gleichzeitig verdeutlicht, daß diese Freiheit ein sehr hohes Maß an Verantwortung verlangt.

Solch Verantwortung im weiteren Sinne hat sich das Münchner Label "col legno" (1982-, Vertrieb: SONY) liebevoll zur Aufgabe und Pflicht gemacht. Als ein Label gemäß dem amerikanischen "A-Not-For-Profit-Corp."-Dogma (american contemporary, Composers Recordings, Inc., CRI, NY, 1954-) und in enger Zusammenarbeit mit dem SWF besticht es in Auswahl, Interpretation, graphischer und Verpackungsgestaltung (robuster und schützender Carton-Schuber) sowie Informationsgehalt der eingespielten Stücke (ausführliches und äußerst informatives Booklet mit Kompositions- und Komponistenmaterial).

Das Repertoire liest sich als ein who-is-who der modern-klassischen Avantgarde: Boulez, Stockhausen, Schönberg, Nono, Cage, Xenakis, Rihm, Penderecki, Varèse, Feldman und den für sein kompositorisches Lebenswerk mit dem "Ernst von Siemens-Musikpreis" 1997 ausgezeichneten Helmut Lachenmann (u.a. WWE 1CD 31862/ WWE 1CD 31863).

Neben Einspielungen noch unbekannter oder mittlerweile bekanntgewordener Komponisten (sicher ist dies auch ein Verdienst von "col legno") enthält das labelinterne 3-Punkte-Programm die Steigerung der Verkaufsattraktivität der Komponisten mittels internationaler Orchester und Interpreten. Gleichfalls zentriert sich der Aktionsradius dieses innovativen Labels auf Portrait-Konzerte z.B. von György Kurtág (10.8.93 in Salzburg, WWE 2CD 31870), insbesondere aber auf die Dokumentation nationaler und internationaler Festivals, wie dem Labelzugpferd Donaueschingen (Verzeichnis der dokumentierten Veranstaltungen siehe Bildkasten).

col legno, das Avantgarde-Aushängeschild des Branchenriesen SONY und immer auf Spurensuche im Kosmos neuer Klänge, erfaßt mit Spürsinn und Feingefühl zeitgenössische Avantgardeströme und bannt sie eindrucksvoll auf Tonträger. Der Klang, zum Grundelement moderner Kompositionstechnik avanciert, rückt in den Mittelpunkt; die musikalischen Muster sind mitunter kurze Tonfolgen oder Akkorde, die in genauer Wiederholung oder mittels kleinster rhythmischer Variationen das gesamte Stück durchlaufen können und bei Morton Feldman (1926-1987) leise und fragil gewebte Klanggebilde entstehen lassen (Feldmans Faible für die technisch bedingten asymetrisch geknüpften türkischen Nomaden-Teppiche ist unverkennbar). Die Dimension der Unbegreiflichkeit wird durch die ungeheure Länge (Dauern zwischen einer und fünf Stunden) ins Extrem getrieben, zumal es beim Hören dieser Werke durch die Absenz einer musikalischen Syntax keinerlei Ansatzpunkte zum Festhalten gibt und somit das Gefühl für die Zeit völlig verloren geht, "Crippled Symmetry" 1983 (WWE 2CD 31874) oder "Triadic Memories" 1981 (WWE 2CD 31873): Was bleibt ist der Eindruck des einzelnen Klangmoments, wie Stockhausen sich ausdrückt. Der Hörer ist hier genötigt, unabhängig von einem absoluten Zentrum, sein eigenes Beziehungssystem zu errichten, das er aus dem klingenden Kontinuum herausholt, in dem es keine bevorzugten Punkte mehr gibt, sondern in dem alle Perspektiven gleichermaßen gültig und möglichkeitsträchtig sind, so bei Carlos H. Veerhoffs (1926-) an Heraklits Worte mahnende 1. "Sinfonia pantha rhei" 1954/5 (WWE 1CD 31892) oder Pendereckis famosen "Polymorphia" 1961 (Philips 839701 LY).

Alle zusammen dokumentieren die Werke Zeugnisse einer modern-dynamischen und spiegelhaften Gegenwartskultur, die, im steten Wandel befindlich, sich mit Händen und Füßen und zunehmendem Erfolg - dies ist mitunter ein Verdienst der zunehmenden Popularität Cages - gegen die Kommerzialisierung und Verrohung durch die moderne Kulturindustrie wehrt; ein aktueller Ausblick für 1997 bleibt immerhin: Die 76sten Donaueschinger Musiktage vom 17.-19. Oktober, da:

"The present-day composer refuses to die!" (Edgar Varèse, July 1921).

Festivalübersicht:

  • "Festival Rencontres Internationales de Musique Contemporaine" Metz, 1970-1990 (5+1 CD),
  • "Leningrader Festival für Neue Musik" 1988 (6 CDs),
  • "Festival Alternativa" Moskau 1989 (5 CDs),
  • "Zeitfluss", Salzburg 1993 ,
  • "50 Jahre Internationale Ferienkurse zur Neuen Musik" Darmstadt 1996
  • "Donaueschinger Musiktage", 1990/1992/1993/1994/1995 und enzyklopädische Originalaufnahmen umfassende Dokumentation zu
  • "75 Jahre Donaueschingen" auf 12 CDs (WWE 12CD 20000).

Weitere Informationen unter:

col legno Musikproduktion
Wulf Weinmann
Prangerlstr. 8
D-81247 München
Phone: 089-891.600.07
fax: 089-891.53.64

 

Letzte Änderungen: 28.12.2001
Produziert von
Peter Pötsch