Nr. 6 / Juli 1997

















Gästebuch


Gary Thomas

Found on sordid streets

Tim Berne/Marc Ducret/Tom Rainey

Big Satan (I think they liked it, honey)

Marc Ducret

(détail)

Uri Caine/Gustav Mahler

Urlicht/Primal light

[alle Winter & Winter/Edel]

(ab) Während der Geburtstagsfeier zum zehnjährigen Bestehen von JMT, Stefan Winters innovativem Jazzlabel, erreichte die Feiernden die Nachricht, daß Polydor die Geldhähne zudrehte (Yeah, fuck majors!). Schon damals erklärte Stefan Winter, daß er ein neues Label gründen werde. Fast alle JMT-Künstler erklärten sich damals spontan zur weiteren Zusammenarbeit mit ihm bereit. Nach über einem Jahr erblickte mit "Winter & Winter" der JMT-Nachfolger, der neben Jazz auch zeitgenössische E-Musik veröffentlicht, das Licht der Welt. Doch beschränken wir uns hier auf die fabelhaften Jazz-CDs liebgewonnener Künstler.

Das neue Werk "Found on sordid streets" von Tenorsaxophonist Gary Thomas (auch er war in den Achzigern kurze Zeit Mitglied der Miles Davis Band. Nach wenigen Wochen schmiß er den ihn langweilenden Job.) ist eine zündende, geschmacksichere Verbindung des orgellastigen Funkjazz der Sechziger mit zeitgenössischen Klängen. Diese organsiche Verbindung der unterschiedlichsten afroamerikanischen Musikstile ist in der persönlichen Klangwelt von Gary Thomas ein weiterer aufregender Baustein, der die treibende M-Base Funktradition konsequent fortführt und Raps organisch integriert, ohne jemals nach einem dieser biederen und todsterbenslangweiligen Jazz-Hip-Hop-Projekte zu klingen. Dabei wird das rhythmische Fundament gerade bei den Raps noch flexibler gehandhabt als bei der aufregenden vorherigen CD "Murder in the (1st) worst degree" von Gary Thomas mit Overkill. Einzig sein alter M-Base-Kollege Steve Coleman schafft auf einem ähnlich hohen Niveau eine derart geschmacksichere state of the art-Verbindung afroamerikanischer Musikstile.

Saxophonist Tim Berne spielt wieder in einem Trio. Gitarrist Marc Ducret und Schlagzeuger Tom Rainey sind seine Mitspieler in diesem Projekt dreier gleichberechtigter Musiker, wobei Berne und Ducret als Komponisten der Stücke eine hervorgehobene Stellung einnehmen. Selbstverständlich erinnert "Big Satan" an Miniature, einem anderen aufsehenerregendem Trio mit Berne. Doch heute sind die Kompositionen länger als damals, aber auch wesentlich kürzer als bei "Bloodcount" (einem anderen sagenhaften Projekt von Tim Berne) und die Bezüge vielfältiger als in früheren Jahren. Wer also wissen will, wie heute Jazz klingen muß, sollte sich "Big Satan" genau anhören.

Von Marc Ducret, der auch bei "Bloodcount" und in verschiedenen Gruppen von Louis Sclavis mitspielt, liegt mit "(détail)" ein rein akustisch aufgenommenes Solo-Werk vor. Die einzelnen Stücke sind dabei von ruhigen, suchenden Bewegungen gekennzeichnet, die eher ziellos und tastend einen Raum erforschen. Dabei wirkt Ducrets Spiel hier niemals so zwingend und zielgerichtet wie in den verschiedensten Ensembles. Er stellt mehr Fragen, als er Antworten gibt. Aber bei seinen Fragen wieß Ducret genau, was er nicht will: jegliches offensichtliche Virtuosentum wird ebenso wie gewollter Dilletantismus gekonnt vermieden. Denn spielen kann Marc Ducret verdammt gut!

Und zuguterletzt noch Uri Caines neuestes Werk. Bereits beim zehnjährigen Jubiläum von JMT wurden Caines Mahler-Bearbeitungen erfolgreich aufgeführt. In den folgenden Monaten wurden sie überarbeitet und schließlich mit der Creme de la Creme New Yorker Avantgarde-Musiker aufgenommen. Dies waren neben Pianist Caine, unter anderem, Schlagzeuger Joey Baron, Klarinettist Don Byron, Trompeter Dave Douglas, Arto Lindsay als Sänger und DJ Olive. Spritzig und ideenreich benutzt das vierzehnköpfige Ensemble elf Kompositionen von Gustav Mahler als Ausgangspunkt für eine zeitgenössische Interpretation. "Urlicht" bewegt sich gelungen und abwechslungsreich in dem brodelnden multkulturellen Eintopf Manhattans und schlägt Brücken zwischen Klassik, Jazz und Avantgarde. Gnadenlos und mit viel Witz wird die Musik des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts durch den Cyberspace in das nächste Jahrhundert geschleudert, zerstört und neu zusammengesetzt.

Letzte Änderungen: 28.12.2001
Produziert von
Peter Pötsch