Die kleine Jazz-Ecke
Von Axel Bußmer
(ab) Und nun ein kleiner Überblick über hörenswerte neue
Jazz-CDs, die sich mehr oder weniger abseits der ausgelatschten Mainstream-Pfade bewegen.
Obwohl es teilweise schwierig ist, an die Teile heranzukommen, lohnt sich die Mühe.
Beginnen wir mit "Mythos" (Bos. Rec.,
Raderthalerstr. 27, 50968 Köln) von Stephan-Max Wirth. Der junge Tenorsaxophonist
nahm sich mit seinem Quartett einige alte deutsche Schlager vor...Nun ja,
"Gassenhauer" wäre vielleicht treffender. Schließlich stammen die Stücke,
unter anderem "Kann denn Liebe Sünde sein", "Ich brech die Herzen der
stolzesten Frauen" und die schon oft nachgespielte "Moritat von Mackie
Messer", aus den Zwanzigern und frühen Dreißigern und wurden von renommierten
Komponisten wie Kurt Weill und Friedrich Holländer geschrieben. Und obwohl die Melodien
niemals aus dem kollektiven Gedächtnis verschwunden sind, hat man sie in den vergangenen
Jahren kampflos unzähligen Dixie-Bands sowie Max Raabe und seinem Palastorchester
überlassen. Wirth dagegen, spielt die Melodien nicht stumpf nach, sondern behandelt sie
wie Jazz-Standards. Das musikalische Material dient lediglich als Ausgangsmaterial für
vielfältige Improvisationen. Teilweise sind die Bearbeitungen so frei, daß der
Zu-sammenhang zu den Originalkompositionen kaum noch vorhanden ist. Darin ähnelt er
Dieter Ilg und seinen "Folk Songs".
Gehen wir nach Südamerika. Der chilenische Bassist Enrique
Diaz veröffentlichte mit "Sin Tiempo" (Acoustic Music Records) ein neues,
überzeugendes Werk. Der klassisch ausgebildete Musiker lebt seit knapp zehn Jahren in
Deutschland und einige seiner Mitstreiter sind, was bei Jazzmusikern nicht gerade
unüblich ist, auch Emigranten: Charlie Mariano (sax), Markus Stockhausen (tr), Mike
Herting (p), Michael Küttner (dr). Namen, die nicht nur eingefleischten Jazzhörern
bekannt sein sollten. Auf der CD von Diaz verschmilzt in langen Melodiebögen euro-päisch
geprägte E-Musik mit chilenischen Rhythmen und gelungenen Improvisationen. Leider sind ab
und an auch banale Passagen zu hören, in denen sich die einzelnen Musiker zu deutlich auf
einer Idee ausruhen. Auch die Arrangements hätten teilweise etwas weniger konventionell
sein könne: so wie in Diaz frühem Werk "Tocando la tierra" (JazzHausMusik).
Weniger eine Spurensuche denn eine Begegnung zweier
artverwandter Ensembles ist "News of Roi Ubu" (Pata Music, Eiserweg 14 a, 51503
Rösrath), die neue CD von Norbert Steins Pata Musik und der in Lyon beheimateten
"Association à la Recherche d’une Folklore Imaginaire", kurz AFRI. Beide
Ensembles suchen nach Verbindungen zwischen freiem und auskomponiertem Spiel, welches
gleichermaßen von der zeitgenössischen Neuen Musik und archaischen Melodien beeinflußt
ist. So klingen die Melodien oft gleichzeitig fremd und doch vertraut. Aber der ganze
intellektuelle Überbau steht und fällt natürlich mit den beteiligten Musikern. Bei dem
aktuellen Projekt von Norbert Stein waren dies unter anderem so bekannte musikalische
Grenzgänger wie Michael Riessler (cl, sax), Horst Grabosch (tp), Albrecht Maurer (viol),
Christoph Haberer (dr, elec), und Frank Köllges (dr, synth). Mit jenen, die alle
Erfahrungen in den unterschiedlichsten musikalischen Genres haben und der nötigen
Offenheit für eine spontane Begegnung mit anderen kreativen Geistern, gelang hier ein
weiteres atemberaubendes Kapitel zeitgenössischer Musik.
Weniger zeitgenössisch, sondern vielmehr zeitlos ist
"Sweet Paradox" (Jazzline/Alex Merck Musik), die zweite CD von Pianist Christoph
Stiefel. Zusammen mit Bassist Michael Benita und Schlagzeuger Peter Erskine, der auch
auf Stiefels erstem Album "Ancient Longing" mitspielte, spielt Stiefel lyrischen
Jazz mit vielen geschmacksicheren Anklängen an die europäische Klassik, ohne ins
geschmäcklerische zu gleiten. Dafür sind die Stilmelange zu überraschend, die Melodien
zu vertrackt und das Zusammenspiel viel zu spannungsgeladen. Für Stiefel ist sein zweites
Werk unter eigenem Namen ein gewaltiger Schritt nach vorne zu einer eigenen Karriere.
Ungleich rhythmusbetonter geht Pianist Marcus Schinkel
(er studierte am Konservatorium im holländischen Arnheim und spielte im
Bundesjazzorchester von Peter Herbolzheimer und bei der Susan Weinert Band mit) bei seiner
Trio-CD "The first of a million tones" (Acoustic Music Records) vor. Bei fünf
Stücken verstärken Trompeter Eric Vloeimans und Saxophonist Peter Weniger die Gruppe.
Oft erinnern sie in ihrem kraftvollen, rhythmusbetonten Zusammenspiel an Herbie Hancock in
seiner Funkphase, aber ohne Keyboards und E-Baß.
Trio Nummer Drei unterscheidet sich in dreierlei von den
vorherigen: 1. es hat kein Piano; 2. es sind Musiker aus drei Ländern; 3. es ist eine
Wiederveröffentlichung. Und insgesamt ist "Azul" (Traumton) von Bassist Carlos
Bica das vielschichtigste Werk: Klangmalereien, Balladen, portugiesische
Melodiefragmente, Tango, Blues, Funk und Rock sind unter anderem enthalten. Aber dies ist
auch nicht verwunderlich, wenn Bica mit Musiker wie den deutschen Gitarristen Frank Möbus
(u. a. Der rote Bereich, Kenny Wheeler, Kevin Coyne, Keith Tippett) und dem
US-amerikanischen Schlagzeuger Jim Black (u. a. Tim Berne, Dave Douglas, Django Bates)
zusammenarbeitet. Und die portugiesischen Kritiker - dort erschien das Werk vergangenes
Jahr bei PolyGram Portugal - geizten dementsprechend auch nicht mit Lob.
Einen höchst rätselhaften Titel hat das neue Werk des
Tenor- und Sopransaxophonisten Tony Lakatos. Denn was die schweißtreibenden
Bop-Passagen, Balladen, Standards und der modale Jazz, gespielt mit dem Rhythmusgefühl
der ausgehenden Neunziger mit der "Generation X" (Jazzline/Alex Merck Musik), so
der Titel der CD, mit dem gleichnamigen Jugendphänomen zu tun haben mö-gen, wissen die
Götter. Eingespielt wurde diese Session am 7. Mai diesen Jahres in New York mit Trompeter
Randy Brecker, Pianist Dave Kikoski, Bassist Marc Abrams und Miles-Davis-Drummer Al
Foster. Doch trotz der großen Namen entstand kein langweiliges Startreffen, sondern eine
Begegnung aneinander interessierter Musiker. Da wäre es schade, wenn es bei diesem
einmaligen Zusammentreffen bleiben sollte.
Ein einmaliges Zusammentreffen ist das Günter Weiss
Quartett (Chaos, Markgröminger Str. 46, 71634 Ludwigsburg) nicht. Seit Jahren schon
spielen Gitarrist Günter Weiss, Tenorsaxophonist Ewald Hügle, Bassistin Karoline Höfler
und Schlagzeuger Norbert Pfammatter zusammen. Doch der große Durchbruch blieb den vier
Jazzern bislang versagt. Dabei spielen sie eigenständigen modernen, avantgardistischen
Jazz, der gleichermaßen vom Jazz wie von der zeitgenössischen E-Musik borgt und dennoch
immer höchst eingängig und schon fast traditionell wirkt. Erst bei genauem zuhören
entfaltet sich die ganze Vielfalt der Kompositionen. Dieses Quartett muß Vergleiche mit
der Speerspitze der New Yorker Avantgarde, der Knitting Factory Posse, in keinster Weise
fürchten. Für mich eine der CDs des Jahres.
"Interni Pensieri - Stimme, Synthesizer, Sampling und
Erinnerungen an ‘Lettera amorosa’ von Claudio Monteverdi" (Intakt/RecRec)
steht auf dem Cover der CD von Dorothea Schürch, Michel Seigner und Ernst
Thoma. Beim Hören entsteht dann ein wahrer Hörfilm. Zu hören ist, wie Sängerin
Dorothea Schürch mit und über die von Claudio Achillini geschriebenen und von Monteverdi
vertonten Liebesbriefe improvisiert. Thoma und Seigner bearbeiten ihren Gesang nach und
fügen weitere Tonspuren vom Geräusch einer über das Papier kratzenden Feder,
Wassergeplätscher bis hin zu den Klängen einer schrägen Zirkuskapelle hinzu. Das etwas
spröde Werk fordert dabei, obwohl es Liebesbriefe sind, eher den Kopf als den Bauch des
Hörenden heraus. Aber diesen verführt es mühelos.
Abschließend sei noch auf zwei Aufnahmen hingewiesen, die
das Feld des Jazz und des Freien Jazz zugunsten der Freien Improvisation verlassen. Das Simultanquartett
(Detlof Drees, p, Günter Heinz, tb, Klaus Koch, b, Andreas Nordheim, cor) erkundet
auf "Speech" (For4Ears/RecRec) im Anschluß an John Cage mit den Mitteln der
Freien Improvisation die Stille, wahrgenommen als verdichteter Klangraum, der gleichzeitig
von vier Musikern erkundet wird. Das Ergebnis sind intensive Klanggemälde, die den Hörer
mit sanfter Gewalt in das Hier und Jetzt zurückholen. Die Spannung zwischen
Gleichzeitigem und Ungleichzeitigem, zwischen Statik und Veränderung und die Verweigerung
jeglicher Anpassung an herkömmliche Klangideale schärft das Gehör. Angenehm und
entspannend ist diese Musik nicht. Aber das will sie auch nicht sein.
Erinnern Sie sich an Samuel Huntington und seine These vom
Kampf der Kulturen? Der Professor meint, die künftigen Kriege fänden zwischen Kulturen
statt und wir Menschen hätten immer noch keine bessere Freizeitbeschäftigung, als uns
gegenseitig die Birne zu Matsch zu hauen. Außerdem sind die Kulturen - Spengler läßt
grüßen - natürlich vollkommen verschieden. Natürlich ist das Buch ein großer, viel zu
stark beachteter Quatsch. Aufnahmen wie "Dream Catcher" (Acoustic Music Records)
von Isato Nakagawa zeigen dies ohrenfällig und widerlegen die Thesen leichter als
tausende universitärer Repliken. Nicht nur spielt sich der japanische Akustikgitarrist
mühelos in diesem Solowerk in das Herz des Hörers. Nein, auch seine Melodien klingen
für westliche Ohren unglaublich westlich, um nicht zu sagen irisch. Diese verbindet er
mit dezenten Anklängen an die japanische Musiktradition. "Weltmusik" und
"völkerverbindene Klänge" fallen dem Rezensenten als allseits gefällige
Floskeln dazu ein. Aber klingen sie nicht schon viel zu abgeschmackt, fast wie eine
Beschimpfung, um knappe 42 Minuten gefühlvolles Akustik-Gitarrenspiel zu bezeichnen? |