Nr. 7 / November 1997

















Gästebuch


Die kleine Jazz-Ecke

Von Axel Bußmer

(ab) Und nun ein kleiner Überblick über hörenswerte neue Jazz-CDs, die sich mehr oder weniger abseits der ausgelatschten Mainstream-Pfade bewegen. Obwohl es teilweise schwierig ist, an die Teile heranzukommen, lohnt sich die Mühe.

Beginnen wir mit "Mythos" (Bos. Rec., Raderthalerstr. 27, 50968 Köln) von Stephan-Max Wirth. Der junge Tenorsaxophonist nahm sich mit seinem Quartett einige alte deutsche Schlager vor...Nun ja, "Gassenhauer" wäre vielleicht treffender. Schließlich stammen die Stücke, unter anderem "Kann denn Liebe Sünde sein", "Ich brech die Herzen der stolzesten Frauen" und die schon oft nachgespielte "Moritat von Mackie Messer", aus den Zwanzigern und frühen Dreißigern und wurden von renommierten Komponisten wie Kurt Weill und Friedrich Holländer geschrieben. Und obwohl die Melodien niemals aus dem kollektiven Gedächtnis verschwunden sind, hat man sie in den vergangenen Jahren kampflos unzähligen Dixie-Bands sowie Max Raabe und seinem Palastorchester überlassen. Wirth dagegen, spielt die Melodien nicht stumpf nach, sondern behandelt sie wie Jazz-Standards. Das musikalische Material dient lediglich als Ausgangsmaterial für vielfältige Improvisationen. Teilweise sind die Bearbeitungen so frei, daß der Zu-sammenhang zu den Originalkompositionen kaum noch vorhanden ist. Darin ähnelt er Dieter Ilg und seinen "Folk Songs".

Gehen wir nach Südamerika. Der chilenische Bassist Enrique Diaz veröffentlichte mit "Sin Tiempo" (Acoustic Music Records) ein neues, überzeugendes Werk. Der klassisch ausgebildete Musiker lebt seit knapp zehn Jahren in Deutschland und einige seiner Mitstreiter sind, was bei Jazzmusikern nicht gerade unüblich ist, auch Emigranten: Charlie Mariano (sax), Markus Stockhausen (tr), Mike Herting (p), Michael Küttner (dr). Namen, die nicht nur eingefleischten Jazzhörern bekannt sein sollten. Auf der CD von Diaz verschmilzt in langen Melodiebögen euro-päisch geprägte E-Musik mit chilenischen Rhythmen und gelungenen Improvisationen. Leider sind ab und an auch banale Passagen zu hören, in denen sich die einzelnen Musiker zu deutlich auf einer Idee ausruhen. Auch die Arrangements hätten teilweise etwas weniger konventionell sein könne: so wie in Diaz frühem Werk "Tocando la tierra" (JazzHausMusik).

Weniger eine Spurensuche denn eine Begegnung zweier artverwandter Ensembles ist "News of Roi Ubu" (Pata Music, Eiserweg 14 a, 51503 Rösrath), die neue CD von Norbert Steins Pata Musik und der in Lyon beheimateten "Association à la Recherche d’une Folklore Imaginaire", kurz AFRI. Beide Ensembles suchen nach Verbindungen zwischen freiem und auskomponiertem Spiel, welches gleichermaßen von der zeitgenössischen Neuen Musik und archaischen Melodien beeinflußt ist. So klingen die Melodien oft gleichzeitig fremd und doch vertraut. Aber der ganze intellektuelle Überbau steht und fällt natürlich mit den beteiligten Musikern. Bei dem aktuellen Projekt von Norbert Stein waren dies unter anderem so bekannte musikalische Grenzgänger wie Michael Riessler (cl, sax), Horst Grabosch (tp), Albrecht Maurer (viol), Christoph Haberer (dr, elec), und Frank Köllges (dr, synth). Mit jenen, die alle Erfahrungen in den unterschiedlichsten musikalischen Genres haben und der nötigen Offenheit für eine spontane Begegnung mit anderen kreativen Geistern, gelang hier ein weiteres atemberaubendes Kapitel zeitgenössischer Musik.

Weniger zeitgenössisch, sondern vielmehr zeitlos ist "Sweet Paradox" (Jazzline/Alex Merck Musik), die zweite CD von Pianist Christoph Stiefel. Zusammen mit Bassist Michael Benita und Schlagzeuger Peter Erskine, der auch auf Stiefels erstem Album "Ancient Longing" mitspielte, spielt Stiefel lyrischen Jazz mit vielen geschmacksicheren Anklängen an die europäische Klassik, ohne ins geschmäcklerische zu gleiten. Dafür sind die Stilmelange zu überraschend, die Melodien zu vertrackt und das Zusammenspiel viel zu spannungsgeladen. Für Stiefel ist sein zweites Werk unter eigenem Namen ein gewaltiger Schritt nach vorne zu einer eigenen Karriere.

Ungleich rhythmusbetonter geht Pianist Marcus Schinkel (er studierte am Konservatorium im holländischen Arnheim und spielte im Bundesjazzorchester von Peter Herbolzheimer und bei der Susan Weinert Band mit) bei seiner Trio-CD "The first of a million tones" (Acoustic Music Records) vor. Bei fünf Stücken verstärken Trompeter Eric Vloeimans und Saxophonist Peter Weniger die Gruppe. Oft erinnern sie in ihrem kraftvollen, rhythmusbetonten Zusammenspiel an Herbie Hancock in seiner Funkphase, aber ohne Keyboards und E-Baß.

Trio Nummer Drei unterscheidet sich in dreierlei von den vorherigen: 1. es hat kein Piano; 2. es sind Musiker aus drei Ländern; 3. es ist eine Wiederveröffentlichung. Und insgesamt ist "Azul" (Traumton) von Bassist Carlos Bica das vielschichtigste Werk: Klangmalereien, Balladen, portugiesische Melodiefragmente, Tango, Blues, Funk und Rock sind unter anderem enthalten. Aber dies ist auch nicht verwunderlich, wenn Bica mit Musiker wie den deutschen Gitarristen Frank Möbus (u. a. Der rote Bereich, Kenny Wheeler, Kevin Coyne, Keith Tippett) und dem US-amerikanischen Schlagzeuger Jim Black (u. a. Tim Berne, Dave Douglas, Django Bates) zusammenarbeitet. Und die portugiesischen Kritiker - dort erschien das Werk vergangenes Jahr bei PolyGram Portugal - geizten dementsprechend auch nicht mit Lob.

Einen höchst rätselhaften Titel hat das neue Werk des Tenor- und Sopransaxophonisten Tony Lakatos. Denn was die schweißtreibenden Bop-Passagen, Balladen, Standards und der modale Jazz, gespielt mit dem Rhythmusgefühl der ausgehenden Neunziger mit der "Generation X" (Jazzline/Alex Merck Musik), so der Titel der CD, mit dem gleichnamigen Jugendphänomen zu tun haben mö-gen, wissen die Götter. Eingespielt wurde diese Session am 7. Mai diesen Jahres in New York mit Trompeter Randy Brecker, Pianist Dave Kikoski, Bassist Marc Abrams und Miles-Davis-Drummer Al Foster. Doch trotz der großen Namen entstand kein langweiliges Startreffen, sondern eine Begegnung aneinander interessierter Musiker. Da wäre es schade, wenn es bei diesem einmaligen Zusammentreffen bleiben sollte.

Ein einmaliges Zusammentreffen ist das Günter Weiss Quartett (Chaos, Markgröminger Str. 46, 71634 Ludwigsburg) nicht. Seit Jahren schon spielen Gitarrist Günter Weiss, Tenorsaxophonist Ewald Hügle, Bassistin Karoline Höfler und Schlagzeuger Norbert Pfammatter zusammen. Doch der große Durchbruch blieb den vier Jazzern bislang versagt. Dabei spielen sie eigenständigen modernen, avantgardistischen Jazz, der gleichermaßen vom Jazz wie von der zeitgenössischen E-Musik borgt und dennoch immer höchst eingängig und schon fast traditionell wirkt. Erst bei genauem zuhören entfaltet sich die ganze Vielfalt der Kompositionen. Dieses Quartett muß Vergleiche mit der Speerspitze der New Yorker Avantgarde, der Knitting Factory Posse, in keinster Weise fürchten. Für mich eine der CDs des Jahres.

"Interni Pensieri - Stimme, Synthesizer, Sampling und Erinnerungen an ‘Lettera amorosa’ von Claudio Monteverdi" (Intakt/RecRec) steht auf dem Cover der CD von Dorothea Schürch, Michel Seigner und Ernst Thoma. Beim Hören entsteht dann ein wahrer Hörfilm. Zu hören ist, wie Sängerin Dorothea Schürch mit und über die von Claudio Achillini geschriebenen und von Monteverdi vertonten Liebesbriefe improvisiert. Thoma und Seigner bearbeiten ihren Gesang nach und fügen weitere Tonspuren vom Geräusch einer über das Papier kratzenden Feder, Wassergeplätscher bis hin zu den Klängen einer schrägen Zirkuskapelle hinzu. Das etwas spröde Werk fordert dabei, obwohl es Liebesbriefe sind, eher den Kopf als den Bauch des Hörenden heraus. Aber diesen verführt es mühelos.

Abschließend sei noch auf zwei Aufnahmen hingewiesen, die das Feld des Jazz und des Freien Jazz zugunsten der Freien Improvisation verlassen. Das Simultanquartett (Detlof Drees, p, Günter Heinz, tb, Klaus Koch, b, Andreas Nordheim, cor) erkundet auf "Speech" (For4Ears/RecRec) im Anschluß an John Cage mit den Mitteln der Freien Improvisation die Stille, wahrgenommen als verdichteter Klangraum, der gleichzeitig von vier Musikern erkundet wird. Das Ergebnis sind intensive Klanggemälde, die den Hörer mit sanfter Gewalt in das Hier und Jetzt zurückholen. Die Spannung zwischen Gleichzeitigem und Ungleichzeitigem, zwischen Statik und Veränderung und die Verweigerung jeglicher Anpassung an herkömmliche Klangideale schärft das Gehör. Angenehm und entspannend ist diese Musik nicht. Aber das will sie auch nicht sein.

Erinnern Sie sich an Samuel Huntington und seine These vom Kampf der Kulturen? Der Professor meint, die künftigen Kriege fänden zwischen Kulturen statt und wir Menschen hätten immer noch keine bessere Freizeitbeschäftigung, als uns gegenseitig die Birne zu Matsch zu hauen. Außerdem sind die Kulturen - Spengler läßt grüßen - natürlich vollkommen verschieden. Natürlich ist das Buch ein großer, viel zu stark beachteter Quatsch. Aufnahmen wie "Dream Catcher" (Acoustic Music Records) von Isato Nakagawa zeigen dies ohrenfällig und widerlegen die Thesen leichter als tausende universitärer Repliken. Nicht nur spielt sich der japanische Akustikgitarrist mühelos in diesem Solowerk in das Herz des Hörers. Nein, auch seine Melodien klingen für westliche Ohren unglaublich westlich, um nicht zu sagen irisch. Diese verbindet er mit dezenten Anklängen an die japanische Musiktradition. "Weltmusik" und "völkerverbindene Klänge" fallen dem Rezensenten als allseits gefällige Floskeln dazu ein. Aber klingen sie nicht schon viel zu abgeschmackt, fast wie eine Beschimpfung, um knappe 42 Minuten gefühlvolles Akustik-Gitarrenspiel zu bezeichnen?

Letzte Änderungen: 28.12.2001
Produziert von
Peter Pötsch