Klassik
George Antheil
Bad Boys´s Piano Music (1919-1932)
[col legno Musikproduktion]
[fs] „Ich spürte die Pistole unter dem linken Arm und
spielte weiter. Ich hatte Skandale in Deutsch-land erlebt, aber dies hier versprach
wirklich et-was Ordentliches zu werden." Das Expressivo des enfant terrible Antheil
schwankt zwischen Präzision und Raserei, zwi schen Feingefühl und einer Art inneren
Unruhe, die sich gegen die her -kömmliche Ordnung aufbäumt, plötzlich gerade-zu
sinnlich einem nur scheinbaren Ruhepunkt entgegenspielt, um im nächsten Augenblick durch
rhythmische Zäsuren und Ausdruckswechsel in die reale Brutalität der Diskontinui-tät
zurückzustoßen. Elemen tare rhythmische Ereignisse rücken in den Vordergrund, die durch
ek statische Repetitionen und beunruhigende Takt- und Schwerpunktwechsel gezeichnet sind,
denen ein naiv-kindlicher Destruktionstrieb beigemischt scheint: Ein Geniestreich, gleich
der her ausragenden Leistung Benedikt Koehlens (Piano), der sich erfolgreich um eine
authentische Darstellung dieses „stile barbaro" bemüht.
Jörg Birkenkötter
Spiel/Abbruch u.a.
[Schott-Wergo]
[fs] „Spiel/Abbruch", der eigentliche
Höhepunkt des Werkausschnitts, ist das Prinzip des Kontrasts, das zwischen über den Raum
verteilten Instrumenten und gesampelten Klängen (auch im Werk beteiligter Instrumente)
als Live-Elektronik via Tonband insziniert wird. Dieser Kontrast verschärft sich noch,
wenn diese zwei Klangqualitäten miteinander ringen, sich gegenseitig beschneiden und
Klangattacken provozieren: „ständig sich unterbrechende Prozesse", die das
Spiel von Nähe und Ferne spielen und in „... zur Nähe - voran"
statische Situationen produzierende, die quasi als Ruhestationen auf dem Weg der
Selbstfindung der Instrumente zwischen Individualität und Kollektivität liegen. Der
Aspekt des Ausbrechens, Verselbständigens und ständig-sich-Erneuerns bildet die
Grundform, die hier einen kontinuierlichen Gestaltungsprozeß in Gang setzt. Daß dieses
Prinzip eine rätselhafte Klangsinnlichkeit mit permanent theatralisch-dramatischer Kraft
schafft, ist Birkenkötters Geheimnis, das gelüftet werden möchte, aber auch
(mindestens) eine „Wiederholte Annäherung" erfordert.
José Ramon Encinar
Mise en Scène
[col legno Musikproduktion]
[fs] Was hier von Encinar virtuos in Szene ge-setzt wird,
ist das ekstatische „Statuen-Thema" der Turangalila-Synphonie (Messiaen), das
rhythmisch destruiert und in einem neuen Kontext eingebettet die Form einer
fragmentarischen Variation animmt, die durch die räumlich-gespaltene Beweglichkeit des
Orchesters noch verstärkt wird. Die Bewegung, die diese Poetik des Zitats ziert, ist
fließend, wenn sie nicht durch das Stakkato der thema-charakteristischen Blechbläser
aufgebrochen wird, um dann der dominanten und fiebrig-beschwörenden Soloklarinette wieder
das Zepter der Führung durchs Werk zu übergeben; es eröffnet darüberhinaus einen
Einblick in die werkimmanente Gestaltung des musikalischen Horizonts und ist schon allein
aus diesem Grund ein hörenswerter Mosaikstein mehr in einem Klassikpuzzle, das ständig
neue Bausteine produziert.
Conlon Nancarrow
Studies for Player Piano
[Schott-Wergo]
[fs] Nancarrow übersetzt in seinen „studies for
player piano" die Mechanik des industriellen Fortschritts, der ein neues Gefühl
von Zeiteinteilung in die Köpfe hineinhämmert, in die unbeirrbare Lochspur, in
wechselnde und gleichzeitig auftre tende unterschiedliche Metren und Tempi. Der
entscheidende Vorteil des mechanischen Klaviers liegt nämlich in seiner Fähigkeit, mit
unglaublicher Präzision und Schnelligkeit praktisch jede rhythmische und zeitliche
Relation herzustellen, die auf einer Rolle markierbar ist. So entsteht eine fast reine
poly phone Perzeption. Umso erstaunlicher ist es, daß die fünf (von 48) „studies"
kohärente Harmoniken entwickeln, die sich an frühe Jazzrhythmen orientieren, der
improvisatorische Virtuosität eines Art Tatum vergleichbar. Höhepunkt ist study Nr.
48, die aus dem ganzen akkumulierten Fundus der persönlichen Kompositionstechnik
schöpft, um eine geradezu unheimliche Verbindung von Kraft und Zartheit, von Klangfülle
und Transparenz zu schaffen. Phantastisch!
Horatu Radulescu
Clepsydra/Astray
[Edition RZ]
[fs] Vergleichbar den Klangkompositionen seines Landsmannes
Dumitrescu arangiert Radulesco eine lebendige Klangmaterie, ein „sound plasma",
das zwischen „spektraler" Komposition/ Energie und klanglicher live-Modulation
os-zilliert, um dann im Unterbewußtsein in einer fast magishen oder halluzinatorischen
Trance zu verschmelzen. Ob mit erfinderischer Saiten- oder Saxophonbearbeitung erzielt,
ist zwar ein innovatorisches Indiz, bedeutender jedoch ist das Ergebnis: Das geradezu
meditativ-transzendente Hörerlebnis (und dies auf LP !!).
Christian Wolff
Stones
[Ed. Wandelweiser Records/
Timescraper Music]
[fs] „Mache Klänge mit Steinen, entlocke Steinen
Klänge, unter Verwendung verschiedener Größen und Sorten (und Farben); zum größten
Teil Einzelklänge; manchmal in schnel-len Folgen. Zum größten Teil durch
Aneinanderstoßen von Steinen, aber auch Steine auf anderen Oberflächen (z.B. innerhalb
einer Trommel) oder anders als durch Aneinanderstoßen (z.B. gestrichen oder verstärkt).
Zerbreche nichts", so die organisatorische An-weisung Wolffs (hier) an das
Wandelweiser Komponisten Ensemble, aus der heraus ein monumentales Werk ersteht. Es ist
schon selt sam, wenn man eine CD einlegt, sich an F.M. Einheits Geräuschattacken erinnert
fühlt, von einer Stille umgeben, die den Hörer das Eingelegthaben der CD völlig
vergessen läßt, bis ein plötzliches steinerndes Geräusch die entspannte Aufmerksamkeit
wieder auf sich zieht. „Stones" ist ein excellent-originäres Werk, des
sen „Partitur" einen Zustand möglicher Ereignisse beschreibt, nicht einen
Prozeß, in dem sich etwas entwickelt und somit in einer steten Offenheit verharrt.
Alfred Zimmerlin
Quintett & Clavierstücke
[Ed. Wandelweiser Records/Timescraper Music]
[fs] Die Stücke zeugen hier von einer steten
Auseinandersetzung des Komponisten mit Gestaltung und Form, mit Klang und einem subtilen
mikrotonal organisierten Auflösungsprozess, der eine „verstimmtes" Gefühl der
Fremde oder Orientierungslosigkeit provoziert. Das „Quintett" bildet den
dogmatischen Höhepunkt dieser CD: Zu Beginn herrscht eine polyphone Pluralität, bis sich
dann die Einzelinstrumente, quasi um sich selbst kreisend, aus dem Kontext herauswinden
und das ganze Gebilde in ein schon fast meditativ zu nennendes Drehen überführen. In
diesem Zustand erklingt der von einem anderen Raum aus aufgenommene Anfang des Stückes,
der den Zirkel „schließt", ihn aber auch in einen neuen Raum transportiert und
von hier aus die Frage nach der Spannung zwischen Autonomie und ihrer Auflösung im
Zusammen neu stellt.
Ob dies Werk nun einen Abschluß bildet oder nicht, so
erweist sich Zimmerlin doch als originärer Experimentator, dessen Würdigung hier außer
Frage steht (Prädikat: äußerst wertvoll). |