Nr. 7 / November 1997

















Gästebuch


Klassik

George Antheil

Bad Boys´s Piano Music (1919-1932)

[col legno Musikproduktion]

[fs] „Ich spürte die Pistole unter dem linken Arm und spielte weiter. Ich hatte Skandale in Deutsch-land erlebt, aber dies hier versprach wirklich et-was Ordentliches zu werden." Das Expressivo des enfant terrible Antheil schwankt zwischen Präzision und Raserei, zwi schen Feingefühl und einer Art inneren Unruhe, die sich gegen die her -kömmliche Ordnung aufbäumt, plötzlich gerade-zu sinnlich einem nur scheinbaren Ruhepunkt entgegenspielt, um im nächsten Augenblick durch rhythmische Zäsuren und Ausdruckswechsel in die reale Brutalität der Diskontinui-tät zurückzustoßen. Elemen tare rhythmische Ereignisse rücken in den Vordergrund, die durch ek statische Repetitionen und beunruhigende Takt- und Schwerpunktwechsel gezeichnet sind, denen ein naiv-kindlicher Destruktionstrieb beigemischt scheint: Ein Geniestreich, gleich der her ausragenden Leistung Benedikt Koehlens (Piano), der sich erfolgreich um eine authentische Darstellung dieses „stile barbaro" bemüht.

Jörg Birkenkötter

Spiel/Abbruch u.a.

[Schott-Wergo]

[fs] „Spiel/Abbruch", der eigentliche Höhepunkt des Werkausschnitts, ist das Prinzip des Kontrasts, das zwischen über den Raum verteilten Instrumenten und gesampelten Klängen (auch im Werk beteiligter Instrumente) als Live-Elektronik via Tonband insziniert wird. Dieser Kontrast verschärft sich noch, wenn diese zwei Klangqualitäten miteinander ringen, sich gegenseitig beschneiden und Klangattacken provozieren: „ständig sich unterbrechende Prozesse", die das Spiel von Nähe und Ferne spielen und in „... zur Nähe - voran" statische Situationen produzierende, die quasi als Ruhestationen auf dem Weg der Selbstfindung der Instrumente zwischen Individualität und Kollektivität liegen. Der Aspekt des Ausbrechens, Verselbständigens und ständig-sich-Erneuerns bildet die Grundform, die hier einen kontinuierlichen Gestaltungsprozeß in Gang setzt. Daß dieses Prinzip eine rätselhafte Klangsinnlichkeit mit permanent theatralisch-dramatischer Kraft schafft, ist Birkenkötters Geheimnis, das gelüftet werden möchte, aber auch (mindestens) eine „Wiederholte Annäherung" erfordert.

José Ramon Encinar

Mise en Scène

[col legno Musikproduktion]

[fs] Was hier von Encinar virtuos in Szene ge-setzt wird, ist das ekstatische „Statuen-Thema" der Turangalila-Synphonie (Messiaen), das rhythmisch destruiert und in einem neuen Kontext eingebettet die Form einer fragmentarischen Variation animmt, die durch die räumlich-gespaltene Beweglichkeit des Orchesters noch verstärkt wird. Die Bewegung, die diese Poetik des Zitats ziert, ist fließend, wenn sie nicht durch das Stakkato der thema-charakteristischen Blechbläser aufgebrochen wird, um dann der dominanten und fiebrig-beschwörenden Soloklarinette wieder das Zepter der Führung durchs Werk zu übergeben; es eröffnet darüberhinaus einen Einblick in die werkimmanente Gestaltung des musikalischen Horizonts und ist schon allein aus diesem Grund ein hörenswerter Mosaikstein mehr in einem Klassikpuzzle, das ständig neue Bausteine produziert.

Conlon Nancarrow

Studies for Player Piano

[Schott-Wergo]

[fs] Nancarrow übersetzt in seinen „studies for player piano" die Mechanik des industriellen Fortschritts, der ein neues Gefühl von Zeiteinteilung in die Köpfe hineinhämmert, in die unbeirrbare Lochspur, in wechselnde und gleichzeitig auftre tende unterschiedliche Metren und Tempi. Der entscheidende Vorteil des mechanischen Klaviers liegt nämlich in seiner Fähigkeit, mit unglaublicher Präzision und Schnelligkeit praktisch jede rhythmische und zeitliche Relation herzustellen, die auf einer Rolle markierbar ist. So entsteht eine fast reine poly phone Perzeption. Umso erstaunlicher ist es, daß die fünf (von 48) „studies" kohärente Harmoniken entwickeln, die sich an frühe Jazzrhythmen orientieren, der improvisatorische Virtuosität eines Art Tatum vergleichbar. Höhepunkt ist study Nr. 48, die aus dem ganzen akkumulierten Fundus der persönlichen Kompositionstechnik schöpft, um eine geradezu unheimliche Verbindung von Kraft und Zartheit, von Klangfülle und Transparenz zu schaffen. Phantastisch!

Horatu Radulescu

Clepsydra/Astray

[Edition RZ]

[fs] Vergleichbar den Klangkompositionen seines Landsmannes Dumitrescu arangiert Radulesco eine lebendige Klangmaterie, ein „sound plasma", das zwischen „spektraler" Komposition/ Energie und klanglicher live-Modulation os-zilliert, um dann im Unterbewußtsein in einer fast magishen oder halluzinatorischen Trance zu verschmelzen. Ob mit erfinderischer Saiten- oder Saxophonbearbeitung erzielt, ist zwar ein innovatorisches Indiz, bedeutender jedoch ist das Ergebnis: Das geradezu meditativ-transzendente Hörerlebnis (und dies auf LP !!).

Christian Wolff

Stones

[Ed. Wandelweiser Records/

Timescraper Music]

[fs] „Mache Klänge mit Steinen, entlocke Steinen Klänge, unter Verwendung verschiedener Größen und Sorten (und Farben); zum größten Teil Einzelklänge; manchmal in schnel-len Folgen. Zum größten Teil durch Aneinanderstoßen von Steinen, aber auch Steine auf anderen Oberflächen (z.B. innerhalb einer Trommel) oder anders als durch Aneinanderstoßen (z.B. gestrichen oder verstärkt). Zerbreche nichts", so die organisatorische An-weisung Wolffs (hier) an das Wandelweiser Komponisten Ensemble, aus der heraus ein monumentales Werk ersteht. Es ist schon selt sam, wenn man eine CD einlegt, sich an F.M. Einheits Geräuschattacken erinnert fühlt, von einer Stille umgeben, die den Hörer das Eingelegthaben der CD völlig vergessen läßt, bis ein plötzliches steinerndes Geräusch die entspannte Aufmerksamkeit wieder auf sich zieht. „Stones" ist ein excellent-originäres Werk, des sen „Partitur" einen Zustand möglicher Ereignisse beschreibt, nicht einen Prozeß, in dem sich etwas entwickelt und somit in einer steten Offenheit verharrt.

Alfred Zimmerlin

Quintett & Clavierstücke

[Ed. Wandelweiser Records/Timescraper Music]

[fs] Die Stücke zeugen hier von einer steten Auseinandersetzung des Komponisten mit Gestaltung und Form, mit Klang und einem subtilen mikrotonal organisierten Auflösungsprozess, der eine „verstimmtes" Gefühl der Fremde oder Orientierungslosigkeit provoziert. Das „Quintett" bildet den dogmatischen Höhepunkt dieser CD: Zu Beginn herrscht eine polyphone Pluralität, bis sich dann die Einzelinstrumente, quasi um sich selbst kreisend, aus dem Kontext herauswinden und das ganze Gebilde in ein schon fast meditativ zu nennendes Drehen überführen. In diesem Zustand erklingt der von einem anderen Raum aus aufgenommene Anfang des Stückes, der den Zirkel „schließt", ihn aber auch in einen neuen Raum transportiert und von hier aus die Frage nach der Spannung zwischen Autonomie und ihrer Auflösung im Zusammen neu stellt.

Ob dies Werk nun einen Abschluß bildet oder nicht, so erweist sich Zimmerlin doch als originärer Experimentator, dessen Würdigung hier außer Frage steht (Prädikat: äußerst wertvoll).

Letzte Änderungen: 28.12.2001
Produziert von
Peter Pötsch