Nr. 7 / November 1997

















Gästebuch


(Der wahre Horror ist) Die Banalität des Alltags

Der Comiczeichner als Reporter. Comics taugen nicht nur zum Erzählen fantastischer Abenteuer, sondern eignen sich ebenso gut zum Verarbeiten tatsächlicher Ereignisse. Ein Beispiel: Joe Saccos Reportage „Palestine".

Von Christian Gasser

Reporter – Ein Traumberuf für Comicfiguren. Als Re-porter ist man immer unterwegs und kann überall hin. Man hat Zugang zu exklusiven Informationen und gerät in aufregende Situationen, und das war schon immer der Stoff für spannende Abenteuer. Viele Comic-helden, allen voran natürlich Tintin, üben diesen Beruf aus – auf den Gedanken, daß auch mal ein Comiczeichner als Reporter in die weite Welt ziehen und seine Reportage aufzeichnen könnte, ist aber bisher kaum jemand gekommen.

Eine Ausnahme ist Joe Sacco: „Ich zeichne Comics, seit ich ein Kind bin, doch habe ich nie im Ernst eine Karriere als Comiczeichner in Betracht gezogen", erinnert er sich. „Dann habe ich Journalismus studiert und mich zweieinhalb Jahre lang in der Redaktion einer Zeitschrift für Notare gelangweilt. Heute versuche ich einfach, mein Interesse für Journalismus mit meiner Liebe zu den Comics zu verbinden." Das tat er mit seinen Recherchen zum Konflikt im Nahen Osten, die er zur zweibändigen Comic-Reportage „Palestine" verdichtete.

cartoon.gif (21291 Byte)Vor „Palestine" kannte die Comicszene Joe Sacco – ein Malteser, der in den USA aufgewachsen ist – dank seiner Comicserie „Yahoo" als einen Erzähler von virtuoser Vielseitigkeit, der die Tournee einer Rockband mit derselben Stilsicherheit schilderte, wie er die Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg seiner maltesischen Mutter heraufbeschwörte. „Eigentlich verknüpfte ich schon damals Autobiografisches mit Journalistischem", meint er, und was auch immer er erzählte, er überzeugte dank seiner Fähigkeit, persönlichen Stil mit journalistischer Genauigkeit zu verknüpfen. Das schloß weder Humor noch Selbstironie aus: Die Darstellung des Golfkrieges aus seiner Perspektive des CNN-hörigen „War Junkie" gehört zu den brillantesten Auseinandersetzungen mit dem Krieg als Medienereignis.

Im Dezember 1991 beschloß Joe Sacco, seine Abhängigkeit von den Medien zu überwinden und sich von der Situation im Nahen Osten ein eigenes Bild zu machen. „Ich wählte Palästina als Thema aus, weil mich dieser Konflikt persönlich berührt. Ich bin unter dem Einfluß der pro-israelitischen amerikanischen Medien aufgewachsen, und nur langsam wurde mir be-wußt, daß diese nicht die ganze Wahrheit vermitteln." Er hielt sich zwei Monate lang in den besetzten Gebieten und im Gaza-Streifen auf und fragte Hunderte von Menschen über ihr Leben seit dem Beginn der Intifada aus. „Ich nahm ganz bewußt die Perspektive der Palästinenser ein, weil ihre Geschichte, wie gesagt, in den USA bisher kaum erzählt worden ist – die Palästinenser werden meistens als Terroristen, manchmal als Opfer, aber nie als Volk und als Menschen dargestellt. Genau letzteres war meine Absicht. Ich wollte sie nicht nur als Opfer zeigen, denn Opfer werden rasch zu Engeln – mich interessierten jedoch die Menschen."

Im Gegensatz zu den Comichelden mit dem Beruf: Re-porter, denen der Leser von Band zu Band durch die atemlosesten Abenteuer hinterherjagen muß, ohne sie je vor einer Schreibmaschine ausruhen zu sehen, hat Joe Sacco seine Interviews, seine persönlichen Eindrücke und die Hintergrundinformationen über die Geschichte von Palästina und Israel zur 280 Seiten starken Comicreportage „Palestine" verarbeitet. Natürlich werden Leute, die den Comic ausschließlich als triviale Unterhaltung betrachten, über Saccos Unterfangen, ein so ernsthaftes Thema ausgerechnet in dieser Form aufzugreifen, vorwurfsvoll oder herablassend die Stirn runzeln – wer aber die Entwicklung der Comics in den letzten Jahrzehnten mitverfolgt hat, weiß, daß es kein Thema gibt, das diese Ausdrucksform nicht auf eine verantwortungsbewußte und adäquate Weise umsetzen kann. Dennoch gäbe es, findet Joe Sacco, „noch immer zu wenig engagierte Comics, und zu wenig Comicautoren gehen journalistische und künstlerische Risiken ein. Es gibt noch so viele Möglichkeiten, mit dieser Ausdrucksform Sinnvolles zu schaffen."

Im Fall von „Palestine" ist es sogar überraschend, wie gut sich Comics für eine journalistische Arbeit eignen. Als Comiczeichner, erklärt Sacco, habe er anderen Medienleuten gegenüber Vorteile gehabt: „Ich fiel weniger auf als ein Fotograf, vor dessen Linse die Menschen manchmal schauspielern. Ich konnte mich diskreter im Hintergrund halten. Dazu kam, daß die Palästinenser Cartoons lieben, und das verlieh mir imitten der anderen Journalisten eine Art Sonderstatus." Andere Vorteile der Comics sind inhaltlicher und ästhetischer Natur: Im Gegensatz zum Fotojournalisten, der meistens mit relativ wenig Bildern auskommen muß und deshalb möglichst aufsehenerregende Szenen benötigt, kann sich der Comiczeichner den Luxus leisten, die kleinen Geschichten des Alltags aufzuspüren, und erzielt dieselbe Wirkung mit ganz anderen, wirklichkeitsgetreuen Mitteln. „Ein totes Kind in den Armen seiner Mutter", sagt Sacco, „mag ein aussagestarkes Sujet sein – aber es kann nicht alles zeigen, es unterschlägt vieles, was auch geschieht. Der Comiczeichner hingegen kann eine Situation mit einer beliebigen Anzahl von Bildern anders ausleuchten und vermitteln." Die Kraft der Bilderfolgen macht Sacco in seinen Schilderungen der Flüchtlingslager im Gaza-Streifen auf eine besonders beklemmende und spürbare Weise vor. „Ich wäre unfähig gewesen, und es hätte auch nur wenig Sinn gemacht, die schrecklichen Lebensbedingungen in Worte zu fassen. Deswegen habe ich mich auf visuelle Mittel konzentriert und habe, wo-hin der Leser auch blickt, Schlamm gezeichnet. Überall knöcheltiefen Schlamm und offene Kanalisationen und tote Ratten und Schlamm, überall Schlamm....So leben diese Menschen. Als Leser wirst du diesem Morast ausgesetzt und kannst ihn, ohne daß ich ihn groß erwähnen muß, unmöglich verdrängen."

Außerdem verzichtet Joe Sacco, indem er sich selber und seine Fragen, Zweifel, Ängste und Unsicherheiten ins Bild stellt, auf die allwissende Position des neutralen Berichterstatters. Wir sehen, wie er überall mit süßem Tee bewirtet wird, bis er ihn nicht mehr riechen kann, wie es ihm bei den – allerdings seltenen – antisemitischen Äußerungen seiner Gesprächspartner unwohl wird, wie gastfreundlich er in armseligen Be-hausungen aufgenommen (und mit süßem Tee) bewirtet wird. – „Genau das versuchte ich bewußt zu vermitteln: Das alltägliche Leben, all die ganz gewöhnlichen Sa-chen, die wir normalerweise in den Medien nicht mitbekommen."

Der wahre Horror ist die Banalität des Alltags im Krieg, und es sind die Wiederholungen, die die Eindringlichkeit von Saccos Reportage ausmachen – wie normal es ist, daß ein Familienmitglied im Gefängnis sitzt, wie normal die Folter ist, der tägliche Überlebenskampf, die ständige Angst vor Willkür und Repressionen, die materielle Unsicherheit. – „Du hörst immer wieder dieselbe Geschichte, und immer steht noch jemand dabei, der dann anfügt: Ja, genau das widerfuhr auch mir. Und der dann eine weitere, ganz ähnliche Geschichte erzählt. Es ist immer wieder dieselbe Geschichte, doch sagen gerade diese Wiederholungen viel über die Situation aus."

Eine Situation, die die Palästinenser mit einer Mischung aus Fatalismus und Wut kommentieren. An die Verheißungen des damals keimenden Friedensprozesses schien niemand glauben zu wollen, und trotz der Entwicklungen in den letzten Jahren hat Saccos „Palestine" leider kaum an Aktualität eingebüßt.

Unermüdlich wie eine Comicfigur hat sich Joe Sacco bereits in seine nächste Reportage gestürzt: Zwischen September 1995 und Februar 1996 recherchierte er in Sarajevo und Gorazde. „Es ist nicht so, daß ich nun von Krisenherd zu Kriegsschauplatz jetten werde. Ich ging nicht zum Vergnügen nach Palästina und nach Bosnien – um ehrlich zu sein, stand ich auf diesen Reisen immer wieder große Ängste aus – sondern aus politischen Gründen. Solange ich die Möglichkeit habe, solche Projekte zu verwirklichen, fühle ich mich verpflichtet, es zu tun – zu meiner andere großen Liebe, zum Humor, kann ich dann zurückkehren, wenn ich seßhafter geworden bin...."

Joe Sacco: „Palestine" (2 Bände, je 146 Seiten);

„War Junkie" (alle: Fantagraphics Books, je ca. 30 Mark). Bislang ist leider noch keine deutsche Übersetzung erschienen.

Letzte Änderungen: 28.12.2001
Produziert von
Peter Pötsch