(Der wahre Horror ist) Die Banalität des
Alltags
Der Comiczeichner als Reporter. Comics taugen nicht nur
zum Erzählen fantastischer Abenteuer, sondern eignen sich ebenso gut zum Verarbeiten
tatsächlicher Ereignisse. Ein Beispiel: Joe Saccos Reportage „Palestine".
Von Christian Gasser
Reporter – Ein Traumberuf für Comicfiguren. Als
Re-porter ist man immer unterwegs und kann überall hin. Man hat Zugang zu exklusiven
Informationen und gerät in aufregende Situationen, und das war schon immer der Stoff für
spannende Abenteuer. Viele Comic-helden, allen voran natürlich Tintin, üben diesen Beruf
aus – auf den Gedanken, daß auch mal ein Comiczeichner als Reporter in die weite
Welt ziehen und seine Reportage aufzeichnen könnte, ist aber bisher kaum jemand gekommen.
Eine Ausnahme ist Joe Sacco: „Ich zeichne Comics, seit
ich ein Kind bin, doch habe ich nie im Ernst eine Karriere als Comiczeichner in Betracht
gezogen", erinnert er sich. „Dann habe ich Journalismus studiert und mich
zweieinhalb Jahre lang in der Redaktion einer Zeitschrift für Notare gelangweilt. Heute
versuche ich einfach, mein Interesse für Journalismus mit meiner Liebe zu den Comics zu
verbinden." Das tat er mit seinen Recherchen zum Konflikt im Nahen Osten, die er zur
zweibändigen Comic-Reportage „Palestine" verdichtete.
Vor „Palestine" kannte die
Comicszene Joe Sacco – ein Malteser, der in den USA aufgewachsen ist – dank
seiner Comicserie „Yahoo" als einen Erzähler von virtuoser Vielseitigkeit, der
die Tournee einer Rockband mit derselben Stilsicherheit schilderte, wie er die
Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg seiner maltesischen Mutter heraufbeschwörte.
„Eigentlich verknüpfte ich schon damals Autobiografisches mit
Journalistischem", meint er, und was auch immer er erzählte, er überzeugte dank
seiner Fähigkeit, persönlichen Stil mit journalistischer Genauigkeit zu verknüpfen. Das
schloß weder Humor noch Selbstironie aus: Die Darstellung des Golfkrieges aus seiner
Perspektive des CNN-hörigen „War Junkie" gehört zu den brillantesten
Auseinandersetzungen mit dem Krieg als Medienereignis.
Im Dezember 1991 beschloß Joe Sacco, seine Abhängigkeit
von den Medien zu überwinden und sich von der Situation im Nahen Osten ein eigenes Bild
zu machen. „Ich wählte Palästina als Thema aus, weil mich dieser Konflikt
persönlich berührt. Ich bin unter dem Einfluß der pro-israelitischen amerikanischen
Medien aufgewachsen, und nur langsam wurde mir be-wußt, daß diese nicht die ganze
Wahrheit vermitteln." Er hielt sich zwei Monate lang in den besetzten Gebieten und im
Gaza-Streifen auf und fragte Hunderte von Menschen über ihr Leben seit dem Beginn der
Intifada aus. „Ich nahm ganz bewußt die Perspektive der Palästinenser ein, weil
ihre Geschichte, wie gesagt, in den USA bisher kaum erzählt worden ist – die
Palästinenser werden meistens als Terroristen, manchmal als Opfer, aber nie als Volk und
als Menschen dargestellt. Genau letzteres war meine Absicht. Ich wollte sie nicht nur als
Opfer zeigen, denn Opfer werden rasch zu Engeln – mich interessierten jedoch die
Menschen."
Im Gegensatz zu den Comichelden mit dem Beruf: Re-porter,
denen der Leser von Band zu Band durch die atemlosesten Abenteuer hinterherjagen muß,
ohne sie je vor einer Schreibmaschine ausruhen zu sehen, hat Joe Sacco seine Interviews,
seine persönlichen Eindrücke und die Hintergrundinformationen über die Geschichte von
Palästina und Israel zur 280 Seiten starken Comicreportage „Palestine"
verarbeitet. Natürlich werden Leute, die den Comic ausschließlich als triviale
Unterhaltung betrachten, über Saccos Unterfangen, ein so ernsthaftes Thema ausgerechnet
in dieser Form aufzugreifen, vorwurfsvoll oder herablassend die Stirn runzeln – wer
aber die Entwicklung der Comics in den letzten Jahrzehnten mitverfolgt hat, weiß, daß es
kein Thema gibt, das diese Ausdrucksform nicht auf eine verantwortungsbewußte und
adäquate Weise umsetzen kann. Dennoch gäbe es, findet Joe Sacco, „noch immer zu
wenig engagierte Comics, und zu wenig Comicautoren gehen journalistische und
künstlerische Risiken ein. Es gibt noch so viele Möglichkeiten, mit dieser Ausdrucksform
Sinnvolles zu schaffen."
Im Fall von „Palestine" ist es sogar
überraschend, wie gut sich Comics für eine journalistische Arbeit eignen. Als
Comiczeichner, erklärt Sacco, habe er anderen Medienleuten gegenüber Vorteile gehabt:
„Ich fiel weniger auf als ein Fotograf, vor dessen Linse die Menschen manchmal
schauspielern. Ich konnte mich diskreter im Hintergrund halten. Dazu kam, daß die
Palästinenser Cartoons lieben, und das verlieh mir imitten der anderen Journalisten eine
Art Sonderstatus." Andere Vorteile der Comics sind inhaltlicher und ästhetischer
Natur: Im Gegensatz zum Fotojournalisten, der meistens mit relativ wenig Bildern auskommen
muß und deshalb möglichst aufsehenerregende Szenen benötigt, kann sich der
Comiczeichner den Luxus leisten, die kleinen Geschichten des Alltags aufzuspüren, und
erzielt dieselbe Wirkung mit ganz anderen, wirklichkeitsgetreuen Mitteln. „Ein totes
Kind in den Armen seiner Mutter", sagt Sacco, „mag ein aussagestarkes Sujet sein
– aber es kann nicht alles zeigen, es unterschlägt vieles, was auch geschieht. Der
Comiczeichner hingegen kann eine Situation mit einer beliebigen Anzahl von Bildern anders
ausleuchten und vermitteln." Die Kraft der Bilderfolgen macht Sacco in seinen
Schilderungen der Flüchtlingslager im Gaza-Streifen auf eine besonders beklemmende und
spürbare Weise vor. „Ich wäre unfähig gewesen, und es hätte auch nur wenig Sinn
gemacht, die schrecklichen Lebensbedingungen in Worte zu fassen. Deswegen habe ich mich
auf visuelle Mittel konzentriert und habe, wo-hin der Leser auch blickt, Schlamm
gezeichnet. Überall knöcheltiefen Schlamm und offene Kanalisationen und tote Ratten und
Schlamm, überall Schlamm....So leben diese Menschen. Als Leser wirst du diesem Morast
ausgesetzt und kannst ihn, ohne daß ich ihn groß erwähnen muß, unmöglich
verdrängen."
Außerdem verzichtet Joe Sacco, indem er sich selber und
seine Fragen, Zweifel, Ängste und Unsicherheiten ins Bild stellt, auf die allwissende
Position des neutralen Berichterstatters. Wir sehen, wie er überall mit süßem Tee
bewirtet wird, bis er ihn nicht mehr riechen kann, wie es ihm bei den – allerdings
seltenen – antisemitischen Äußerungen seiner Gesprächspartner unwohl wird, wie
gastfreundlich er in armseligen Be-hausungen aufgenommen (und mit süßem Tee) bewirtet
wird. – „Genau das versuchte ich bewußt zu vermitteln: Das alltägliche Leben,
all die ganz gewöhnlichen Sa-chen, die wir normalerweise in den Medien nicht
mitbekommen."
Der wahre Horror ist die Banalität des Alltags im Krieg,
und es sind die Wiederholungen, die die Eindringlichkeit von Saccos Reportage ausmachen
– wie normal es ist, daß ein Familienmitglied im Gefängnis sitzt, wie normal die
Folter ist, der tägliche Überlebenskampf, die ständige Angst vor Willkür und
Repressionen, die materielle Unsicherheit. – „Du hörst immer wieder dieselbe
Geschichte, und immer steht noch jemand dabei, der dann anfügt: Ja, genau das widerfuhr
auch mir. Und der dann eine weitere, ganz ähnliche Geschichte erzählt. Es ist immer
wieder dieselbe Geschichte, doch sagen gerade diese Wiederholungen viel über die
Situation aus."
Eine Situation, die die Palästinenser mit einer Mischung
aus Fatalismus und Wut kommentieren. An die Verheißungen des damals keimenden
Friedensprozesses schien niemand glauben zu wollen, und trotz der Entwicklungen in den
letzten Jahren hat Saccos „Palestine" leider kaum an Aktualität eingebüßt.
Unermüdlich wie eine Comicfigur hat sich Joe Sacco bereits
in seine nächste Reportage gestürzt: Zwischen September 1995 und Februar 1996
recherchierte er in Sarajevo und Gorazde. „Es ist nicht so, daß ich nun von
Krisenherd zu Kriegsschauplatz jetten werde. Ich ging nicht zum Vergnügen nach Palästina
und nach Bosnien – um ehrlich zu sein, stand ich auf diesen Reisen immer wieder
große Ängste aus – sondern aus politischen Gründen. Solange ich die Möglichkeit
habe, solche Projekte zu verwirklichen, fühle ich mich verpflichtet, es zu tun – zu
meiner andere großen Liebe, zum Humor, kann ich dann zurückkehren, wenn ich seßhafter
geworden bin...."
Joe Sacco: „Palestine" (2 Bände, je 146 Seiten);
„War Junkie" (alle: Fantagraphics Books, je ca.
30 Mark). Bislang ist leider noch keine deutsche Übersetzung erschienen. |