Die kleine Jazz-Ecke
Von Axel Bußmer
(ab) Joe Zawinul – „World Tour"
Live-CD (Escapade)
Fusion, verstanden als das Verschmelzen unterschiedlicher
Stile (so war’s Anfang der Siebziger mal gemeint), kredenzt auch der ehemalige
„Oregon"-Percussionist und John McLaughlin-Partner Trilok Gurtu. Heute
wird’s meist Worldjazz genannt. Auf seiner neuesten CD „Kathak" (Escapade)
verknüpft der indische Perkussionist gewohnt souverän Rhythmen und Melodien aus seiner
Heimat mit jazzigen Klängen. Gleichzeitig ist die CD, im Vergleich zu früheren
Aufnahmen, sehr eingängig. Dies liegt hauptsächlich an der zugrunde liegenden Idee,
Stücke für den Kathak (ein urbaner, hochentwickelter Tanzstil aus dem Norden Indiens) zu
schreiben. Hier zeigt Bassist Kai Eckhart de Camargo, auch ein alter McLaughlin-Partner
und beim „Vibe Tribe" natürlich wie so oft chronisch unterfordert, einiges von
seinem Können (Kleiner Tip am Rande: Das Zusammenspiel McLaughlin/Eckhart/Gurtu ist
kongenial auf „Live at the Royal Albert Hall" [JMT] und, allerdings nur auf zwei
Stücken, „Que alegria" [Verve] dokumentiert).
Nette Fusion-Musik mit Ethno- und Funkeinschlag, gespielt
von einem Haufen exzellenter Musiker (Bill Evans, Mitchel Forman, Kai Eckhardt de Camargo,
undsoweiter) gibt es vom „Vibe Tribe", der Gruppe des Gitarristen Richard
S. (eigentlich Schumacher) auf ihrem Zweitling „Foreign affairs" (Lipstick
Records), der nahtlos an den groovenden Vorgänger anknüpft.
Belanglosen Popjazz kredenzt „Metro"-Gitarrist Chuck
Loeb auf „The moon, the stars and the setting sun" (Lipstick). Da auf seinen
Konzerten allerdings viele junge Menschen gesichtet wurden, verkauft sich das akustische
Junk-Food sicherlich wie Sau. Schließlich ist auch die akustische Belanglosigkeit Kenny
G. für einige ein ganz großer Jazzer.
And now to something completely different!
Direkt ins kommerzielle Ghetto steuert das „Zentralquartett"
mit ihrem neuestem - (kurze Bedenkpause) - Meisterwerk „Careless love"
(Intakt). Die vier DDR-Free-Jazzer Conrad Bauer (tb), Ulrich Gumpert (p), Ernst-Ludwig
Petrowsky (sax, cl, fl) und Günter Sommer (dr, perc), inzwischen in Konstanz lebend,
reagieren mit ihrer Musik auf die Freuden des Kapitalismus mit vielen derangierten
Märschen, Free-Eruptionen und schrägen Bluesstücken. „Careless love" ist
schon jetzt eine der CD’s des Jahres 1998 und der kongeniale Kommentar zur
bundesrepublikanischen Wirklichkeit: dreckig, schmutzig, eklig und – bei genauerem
Hören – von bestechender Schönheit. Kurz: Platte des Jahres!
Everybodys Darling Jim O’Rourke kann, wie sein
Output und die zahlreichen Meldungen in den einschlägigen Zeitschriften zeigen, über
Arbeitsmangel keineswegs klagen. „Weighting" (For4Ears), eingespielt mit
Percussionist Günter Müller ist ein weiters Schmuckstück in seiner Diskographie.
Mit ihren überwiegend ruhigen Improvisationen schließen die beiden an ihre erste auf CD
dokumentierte Impro-Begegnung „Slow Motion" (ebenfalls For4Ears) nahtlos an.
Elektrische Poesie halt.
Obwohl die Grundidee von „Earth Bound - Composition
for Voice, Percussion and Electronics" (For4Ears) von Hermann Bühler sehr
abstrakt und in ihrer Ausführung sehr elektronisch ist, stehen eindeutig die Stimme von
Bonnie Barnett und das ruhige, kontemplative Percussionsspiel von Fredy Studer im
Mittelpunkt. Genaugenommen ist die leicht meditative Soundarchitektur „Earth
Bound" ein 35-minütiges Feature für Studer, der mit wenigen Tönen einen maximalen
Effekt erzielt.
Nicht sonderlich abstrakt, überhaupt nicht elektronisch,
aber sehr abwechslungsreich und, im Vergleich zu anderen Aufnahmen der Saxophonistin Co
Streiff, sehr eingängig ist „Am Berg" (Unit Records). Doch das verwundert auch
nicht weiter. Schließlich spielte ihre ‘Ethno-Schrott’-Band Kadash hier
nicht eine weitere Avantgarde-Jazz-CD ein, sondern untermalte einen Text des befreundeten
Lyrikers Roland Heer. Er verarbeitete mit dem Text „bergfahrt – ein dramatisches
gedicht", welches er für die CD überarbeitete, den Tod seines Freundes Kaspar.
Kadash untermalte den zwischen Banalität, Absurdität, Groteske, Filmzitat und
Sprachgewalt oszilliernden Text mit nicht minder beeindruckenden Klängen. Hier wird der
Tod zu einem einzigen delyrischen B-Pcture mit billigen Posen, großen Gesten, Tod, Blut,
Alpendramatik und einer special appereance von Reinhold Messner als „das Licht".
Allerdings, wer jetzt an das schon etwas ältere „Watzmann"-Drama von Wolfgang
Ambros (auch da ging’s um Berge und den Tod) denkt und begeistert zugreifen will,
sollte vielleicht doch die Finger von „Kadash am Berg" lassen. Schließlich ist
die CD dagegen ein einziger avantgardistischer Horrortrip.
Vipraphonist Florian Poser legte nach seinem
letztjährigen gelungenem Brazilian Experience mit „Pacific Tales" (Acoustic
Music Records) endlich wieder – nach fast einem halben Jahrzehnt – eine CD mit
seiner regulären Gruppe (u. a. mit Saxophonist Martin Classen und
„Dreiklang"-Bassist Martin Wind) vor. Posers höchst unterhaltsame Tales
erinnern teilweise an die überaus erfolgreichen Blue Note-Funkjazz-Aufnahmen aus den
Sechzigern. Aber auch Anklänge an den ECM-Jazz, Gary Burtons formidable Fusion-Bands aus
den Siebzigern, etwas Latin, Gospel und Blues sind vorhanden.
Der junge deutsche Schlagzeuger Jochen Rückert
(Jahrgang 1975 und, bis er die CD hörte, „Dreiklang"-Mitglied) mischt
inzwischen die New Yorker Jazzszene auf. Daneben spielt er in Jungle-Projekten und bei der
NYC-Punkband „Hoss" mit. Also definitiv ein Guter, der hohe Ansprüche an sich
stellt. Deshalb ist sein Debüt „Introduction" (Jazzline/Alex Merck Music) auch
keines der stupiden Drummer-will-auch-einmal-Bandleader-sein-Alben. Schließlich überlies
Rückert das Komponieren anderen. Beispielsweise John Coltrane, Sonny Rollins, Dave
Brubeck und Cole Porter. Auch lud er einige der interessantesten jungen Jazzer ins Studio
ein: unter anderem Saxophonist Chris Potter und die Gitarristen Kurt Rosenwinkle und Ben
Monder. Zusammen spielen sie allerfeinsten Modern Jazz, der die Errungenschaften des Free
und Punk Jazz bewußt integriert und einem kräftigen Schlag hin zur Avantgarde hat.
Auch die „Septer Bourbons", die früher
noch „Septer Bourbons Incredible Four" hießen und seit Januar 1993 ohne
Besetzungswechsel existieren (was in Jazzjahren eine Ewigkeit ist!), spielen auf ihrer
neuen CD „The Smile of the Honeycakehorse" (Jazzline/Alex Merck Musik) freier
und selbstbewußter als auf ihrem im Selbstverlag erschienenem Erstling „Fishing for
compliments". Es ist druckvoll gespielter zeitgenössischer Jazz, der sich nicht
scheut eingängige Themen zwischen skandinavisch-folkloristischen und städtischen Idiomen
kunstvoll zu verzieren. Dabei steht das Ensemblespiel gegenüber solistischen Aktivitäten
eindeutig im Vordergrund.
Moderner Bigband-Jazz der Extraklasse präsentiert Pianist Joachim
Raffel, Schüler von Bob Brookmeyer, auf seiner neuesten CD „Another Blue"
(Acoustic Music Records). Dabei borgen die oft sehr bildhaften Themen sowohl vom Free- wie
vom Latin-Jazz.
Der 1938 geborene Sopranist Perry Robinson
veröffentlicht mit seinem Quartett (Simon Nabatov, p, acc, Ed Schuller, b, Ernst Bier,
dr) mit „Angelology" (Timescrape Jazz) eine tadelose Modern Jazz-CD, die weitab
von musikalischen Revolutionen ist. Aber wer hätte so etwas auch von einem Mann, der auf
seiner neuesten Veröffentlichung auf von ihm geschriebene Kompositionen aus den Jahren
1962 und 1963 zurückgreift, fester Teil der damaligen Avantgarde war und in den
vergangenen Jahren unter anderem mit Ray Anderson, Carla Bley, Archie Shepp und Allen
Ginsberg spielte, ernsthaft erwartet? Jedenfalls hört man die Spielfreude des seit über
einem Jahrzehnt zusammenspielenden Quartetts alter Hasen und genießt die Ausflüge in
Bop, Free und Klezmer-Gefilde. „Angelology" ist nicht mehr und nicht weniger als
eine höchst gelungene und abwechslungsreiche unprätentiöse Lehrstunde im dichten,
zeitgenössischen Quartettspiel. Tja, the tradition continues... |