The View across the border
LEESON sprach mit dem Schweizer Komponisten Alfred
Zimmerlin
von Florian Schreiner
Ein Blick nach außen, in die Natur, wie man so
schön sagt, zu wel-cher Jahreszeit auch immer, ein belebter Horizont mit einem Bach, eine
Promenade vielleicht, eine Lagerhalle oder ein Stein, bevölkert von Lebendigem, was Raum
und Zeit halt so zu bieten hat, alles eng verknüpft miteinander und mit der eigenen
Geschichte sowieso. Dieser Blick weicht ab von romantischen Schwärmereien, die ihre
Unschuld schon vor geraumer Zeit verloren haben. Üb-rig bleibt das abstrakte sowie
flüchtige Zusammenspiel heterogener Elemente, auf das Alfred Zimmerlin hier seine Sicht
öffnet.
Leeson: Wo lokalisierst Du dich selbst im Prozeß der Neuen
Musik, oder anders gefragt, wie sieht der Gedanke aus, der hinter deinen Kompositionen
steht?
AZ: Ich versuche mir einen Weg durch den Raum zu bahnen, um
nach hinten zu kommen, und da ist eine Glasscheibe, die mir einen Blick in einen anderen
Raum gibt. An den Punkt möchte ich kommen, wo der Blick in den anderen Raum möglich ist,
wo irgendwie mit der Zeit etwas passiert, und die Zeit stillsteht.
Leeson: Ordnungsprozesse, die das heterogene Rauschen
strukturieren?
AZ: Wie die Landschaft eine heterogene Angelegenheit ist,
ein Gesamtbild, das seine Geschichte hat, wie jedes dieser einzelnen Dinge, versuche ich
eigentlich, Dinge zusammenzubringen, die vermeintlich nicht zusammengehören,
nebeneinander zu stellen, und einfach mal zu schauen, was mit den Dingen passiert.
Ordnungen zu finden, die intuitiv funktionieren, die dann sofort wieder relativiert werden
und zusammenbrechen. Und trotzdem bilden die unterschiedlichen Systeme oder Gestalten, die
sich gleichzeitig ihren Weg bahnen, ein Ganzes.
Leeson: Diese stete Vermittlung von Heterogenität und
Autonomie, ein wohlbekanntes und sicher auch persönliches Anliegen, aber eines, das ernst
genommen werden will, genauso wie die Auswahl der vielfältigen Mittel, die den Weg bahnen
helfen sollen, und das schließt den Zufall als Werkzeug keineswegs aus.
AZ: Da hab ich mir teilweise vom Computer Vorschläge
machen lassen, und da kamen Vorschläge raus, mit denen hab ich dann weitergearbeitet. Das
sind Vorschläge im Rahmen eines Zufallsgenerators.
Leeson: Tritt da nicht der Komponist hinter das Werk
zurück, entzieht sich der Verantwortung?
AZ: Ich selbst habe den Zufall gestaltet, habe ihn
programmiert, und die Stücke von Cage zum Beispiel haben einen Stil, man er-kennt sie, so
wie er den Zufall angewendet hat, und das macht den Charakter der Stücke aus.
Leeson: Sie verwenden als weiteres Element auch die Stille,
sie haben ja auch ihre Verbundenheit zu Cage, Feldman, Brown und Tenney geäußert.
AZ: Das ist ein bestimmtes Material, um musikalische
Gestalten, komplexe Klangebilde zu erhalten, ein fortissimo ebenfalls, die stehen wie der
Zufall gleichberechtigt nebeneinander.
Leeson: Ist hierdurch nicht auch die Linearität oder
Narrativität, die den Stil so moderner Schriftsteller wie Bernhard oder Joyce
kennzeichnen, in Frage gestellt?
AZ: Das Narrative fällt weg, also es gibt keine narrative
Dramaturgie, und das ist schon auch ein Punkt, der mich bei Cage sehr in-teressiert, wobei
ich dann unterschwellig wie Feldman oder Ten-ney das Narrative wieder reinbringe, lokal,
mit dieser Heterogeni- tät, wie beim Landschaftsbild. Ich spiele gern mit dem Narrativen,
wie auch Wolfgang Rihm, der viel narrative Musik schreibt, und der ist nicht weniger
avantgardistisch als Helmut Lachenmann, ein sehr wichtiger Komponist, das sind eigentlich
narrative Stücke.
Leeson: Wie steht es mit Deinem Anspruch als Komponist und
dessen Stellung in der Gesellschaft?
AZ: Ich komponiere nicht für mich allein, ich möchte mit
der Öffentlichkeit kommunizieren, etwas mitteilen, den Blick in den anderen Raum, und
gleichzeitig die Unmöglichkeit, durch die Glasscheibe durchzuschauen. (...) Die Position
des Komponisten in der Gesellschaft ist eigentlich marginal. Auch wenn 0,01% der
Radio-hörer ein Stück Neuer Musik hören, so bedeutet das aber, daß sie zweimal die
(Zürcher) Tonhalle füllen, und das sind nicht wenige, sogar mehr, als Mozart je in
seinem Leben erreicht hat.
Leeson: Zumal es auch Darmstadt, Salzburg, Donaueschingen,
Dresden und viele andere Institutionen der Verbreitung gibt, die jährlich solche
Möglichkeiten bieten.
AZ: Donaueschingen blüht ja, ist ja immer ausverkauft.
Leeson: Vielleicht noch eine Bemerkung zum Verstehen und
Rezipieren Neuer Musik, da hier die klassischen Ordnungsschemata offensichtlich versagen.
AZ: Ein Rezept kann ich nicht geben, aber die Gewohnheit
spielt eine große Rolle. Ordnungen, ohne die funktioniert der Mensch nicht. Es geht nicht
darum, vorproduzierte Gefühle zu verkaufen, sondern innovativ mit Ordnungen zu brechen
und neue zu etablieren. Auch Mozart, Bach und Beethoven brachen zu ihrer Zeit mit
Ordnungen und Normen. Beim Schlager ist es doch so, daß man etwas wiederholt, daß es zum
Ohrwurm wird, und dann lieben sie es, wenn es ein Ohrwurm ist, dann kaufen sie es, je
öfter sie es hören, desto gefälliger ist es. Das sind vermittelte oder standardisierte
Gefühle, die dann abrufbar werden, und nach dem Muster versucht die klangliche Industrie
eigentlich auch zu funktionieren, oder die Kuschelklassikreihe, Altes als Neues zu
verkaufen, wie die "Vierjahreszeiten", das geht auch in die Richtung, Produkte
einer Industrie, die ihre Aura längst verloren haben. Grausig.
So aussichtlos scheint die heutige Situation dann doch
nicht zu sein, auch wenn ein Komponist wie A. Zimmerlin nicht nur von
Auftragskompositionen, sondern auch vom "Berufshören" aktueller Werke lebt. Was
nun das Verstehen von Neuer Musik betrifft, so gibt es sicherlich nur das eine Rezept, die
Bereitschaft sich mit neuen Ordnungsprozessen, mit einer Offenheit anzufreunden, mit einer
Sprache, die wie jede andere gelernt sein will.
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