Nr. 9 / Dezember 1998

















Gästebuch


Be Bop, chileni und quietschende Schuhescher Punk

Der Chilene Alvaro Peña-Rojas

Von Thomas Bohnet

"Drinking my own sperm" habe ich vor 27 Jahren geschrieben. Damals hatte ich noch mehr davon. Außerdem bin ich heute ja Vegetarier." Den Humor hat Alvaro Peña-Rojas auch mit 55 nicht verloren, wie diese Ansage bei einem Konzert im kleinen K 9 Foyer in seiner Wahlheimat Konstanz zeigt.

Künstlermodell Außenseiter, Abteilung genialer Dillettant. Alvaro, der "Chilene mit der singenden Nase", ist ein typischer Vertreter des musikalischen Outsidertums. Das traf 1980 zu, als dem im europäischen Exil lebenden Südamerikaner in der legendären Rowohlt-Buchreihe "Rock-Session" (Vol 4) ein eigenes Kapitel gewidmet worden ist und das trifft auch heute noch zu.

Vor einem Jahr ist, fast genau zwanzig Jahre nach der Erstveröffentlichung, das Album "Drinking my own sperm" erstmals auf CD erschienen. Ein Fan des Chilenen mit dem deutschen Paß aus dem schwäbischen Ravensburg hat 500 Stück pressen lassen. Alvaro selbst hatte sich bislang beharrlich geweigert, alte Aufnahmen wiederzuveröffentlichen. "Für mich ist das, als ob Du eine Leiche ausgräbst", erzählt der Musiker mit dem Wuschelkopf und den stechenden, wachen Augen. Daß er bei "Drinking my own sperm" eine Ausnahme gemacht hat, lag an seiner chronischen Geldnot. "Zu der Zeit war ich gerade wieder in Chile und hatte dort kein Geld", sagt er entschuldigend. Zudem sei er krank gewesen, habe an einer hartnäckigen Grippe gelitten und nicht einmal das Geld für Medikamente gehabt. Also habe er dem Fan eben das Mastertape des Albums ausgeliehen, dafür 500 Mark und 100 CDs bekommen.

Der kastrierte Papagei

Heute wieder gehört, hat "Drinking my own sperm" nichts von seiner Faszination und Kraft verloren. Das Album ist ein spannender Soundbastard aus Post-Punk, Dilettanten-Pop und südamerikanischer Folklore in für die späten Siebziger typischer schräger Form. Karg, spartanisch instrumentiert, vom Gefühl her eher traurig gehalten. Alvaro, der sich autodidaktisch das Klavier spielen beigebracht hat, an Piano, Anden-Flöte und Bass, eine Freundin am Mikro, ein Freund an Schlagzeug und und Percussion. Charakteristisch ist Alvaros nasaler Gesang, der ihm den Beinanmen "Der Chilene mit der singenden Nase eingebracht hat", eine krächzende Stimme, hart an der Nerv-Grenze, was einen englischen Journalisten des "Melody Maker" einst zu der Bermkung hinreissen ließ, das klänge nach "kastriertem Papagei" - was Alvaro immer wieder amüsiert erzählt. Überhaupt hat ihn die englische Fachpresse seit damals in ihr Herz geschlossen. Jede noch so kleine Single oder jedes Tape, das duch die 80er hindurch auf Alvaros eigenem Label, dem winzigen "Squeaky Shoes Records", in Konstanz erscheint, wird in den "Week-lies" besprochen.

1998 ist Alvaro wieder aus Chile nach Konstanz zu-rückgekehrt. Einigermaßen desillusioniert, hat er seiner alten Heimat nun endgültig den Rücken gekehrt. Nachdem er Anfang der siebziger Jahre nach Pinochets Putsch ins Londoner Exil gegangen war, kehrte er 1989 erstmals wieder nach Chile zurück. Auf der "Suche nach meiner Heimat", wie er erzählt. Nachdem er nun aber neun Jahre zwischen Chile und Deutschland hin- und hergereist ist, weiß er, daß "diese Heimat nur in meinem Kopf existiert, eine schöne romantische Erinnerung ist." Chile habe ihn enttäuscht, sagt er. "Ich habe mit meiner Familie gebrochen, viele meiner Freunde sind gestorben". Und auch als Musiker hat er dort keine Chance. "Nach 17 Jahren Diktatur ist der Publikumsgeschmack doch sehr konservativ, sehr konventionell", sagt er, der Geist Pinochets sei immer noch stark, wie auch die jüngsten Versuche, den 83jährigen Ex-Diktator ("die giftige, alte Kröte", so die Schweizer WoZ) für seine Verbrechen zur Rechenschaft zu ziehen, bislang kläglich gescheitert sind. Heute gebe es in Chile kaum Auftrittsmöglichkeiten, gerade mal vier Konzerte habe er 1997 gegeben, sagt Alvaro. Fast unter Ausschluß der Öffentlichkeit, fügt er lachend hinzu. Nun lebt Alvaro wieder in Konstanz, dort wo er fast zwanzig Jahre lang zuhause war.

BeBop für verrückte Leute

Geboren 1943 in Valparaiso wächst Alvaro Peña-Rojas wohlbehütet in einem gutbürgerlichen Haushalt auf. Der Vater ist Zahnarzt, die Mutter führt ein strenges Regiment. Vor allem sie ist dagegen, daß der Filius Musiker wird. "Für meine Mutter waren alle Musiker Bohemians, Musik hatte immer mit Drogen und Alkohol zu tun", erzählt Alvaro amüsiert. Er solle lieber etwas anständiges lernen, am besten beim Militiär, bei der Marine Karriere machen. Stattdessen schlägt sich Alvaro nach dem Gynmnasium in der Werbebranche durch, wird Vertreter und dann Werbetexter. "Ich war schon immer ein funny man", sagt Alvaro in seinem gebrochenen Deutsch. In den sechziger Jahren schreibt er Jingles und Werbesprüche, arbeitet mit den größten Agenturen für Südamerika zusammen. Parallell dazu entdeckt Alvaro aber auch die Musik. Den Rock ‘n’ Roll mit Bill Haley und später Jazz, John Coltrane. "BeBop war damals auch in Chile etwas für verrückte Leute", sagt er. 1959 hat Alvaro seinen ersten Auftritt mit der Band "The Dandys", Rock ‘n’ Roll im Bill-Haley-Stil. Die Gruppen "The Challengers" und "The Boomerangs", mit denen Alvaro als Saxofonist drei Singles aufnimmt, folgen.

Mit Joe Strummer im besetzten Haus

1970 reist Alvaro aus Abenteuerlust nach London, wo er später für die Regierung des Sozialisten Salvador Allende arbeitet: Alvaro geht zur chilenischen Botschaft und weil er gut englisch kann, stellen sie ihn dort gleich an: "Ehrenamtlich", wie er sagt, als Freiwilliger. 1973 nach dem Putsch der Militärs und dem Tod Allendes wird Alvaro zum politischen Flüchtling. Auch als sein Vater stirbt und Alvaro einen Sohn bekommt, kann er nicht nach Chile zurück. Er bleibt in London. In der englischen Metropole schlägt er sich mit Jobs durch, arbeitet in der Werbung, hat Putzjobs oder fährt als "ice cream man" durch die Straßen. Es folgt der Ausstieg aus dem bürgerlichen Leben. Über einen Bekannten kommt Alvaro mit der Londoner Squatt-Szene, der Hausbesetzerszene, in Kontakt. "In einem Haus in der Walterton Road 101 waren Leute, mit denen ich dann zusammen Musik gemacht habe", erinnert er sich. "Wir spielten einfach drauflos und sind dann auch einige Male aufgetreten", sagt er. Zum Beispiel im Vorprogram der Van der Graf Generator. "Ein besonders schlechter Auftritt", fügt er lachend hinzu, "die Kritik sagte über uns, diese Band kann nur nach oben kommen, denn weiter nach unten geht es nicht." Bei den "101ers", so der Name der Gruppe, spielt auch ein Typ namens Woody Mellor Gitarre. "Der klimperte jeden Tag auf seiner Gitarre in der Küche herum", erinnert sich Alvaro. "Nachdem wir die 101ers aufgelöst haben, hat er später den Künstlernamen Joe Strummer angenommen und mit seiner eigenen Band, den Clash, Musik gemacht. Der Rest ist Punkgeschichte."

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Alvaro und Jens Volk beim Konzert im K9, Konstanz.

Foto: Thomas Bohnet


Alvaro selbst nimmt Ende 1977 für 700 Pfund "Drinking my own sperm" auf, ein Album für das er, nicht zuletzt auch des Titels wegen, keine Plattenfirma findet. Auch in Deutschland nicht. Ein Alternativ-Betrieb wie "Pläne" weigert sich, die Platte herauszubringen. Also erscheint das Album auf Alvaros eigenem Label, "Squeaky Shoes Records". Die "squeaky shoes", quietschenden Schuhe, haben seinem Onkel gehört, erzählt er, einem Original, dessen Schuhe immer gequietscht haben und der damals sagte, das käme daher, daß sie noch nicht ganz bezahlt seien.

Alvaros langweiliger Montag

Ende der Siebziger wird Alvaro von einem Bekannten in die deutsche Kleinstadt Konstanz eingeladen. Dort trifft der Chilene Hilde Schneider, seine spätere dritte Frau. Die Frau, "die mein Leben gerettet hat", sagt er. Nach längerem Hin- und her zieht er in eine WG nach Konstanz. Auch dort engagiert sich Alvaro in der lokalen Musikszene. Legendär ist seine Veranstaltungsreihe "Langweiliger Montag" in einem besetzten Haus, dem ehemaligen Fernmeldeamt in der Stadtmitte von Konstanz. Für ein paar Mark Eintritt gibt’s dort 1981 jeden Montag eine Mischung aus Konzert und Lese-Performance. Zusammen mit zwei Musikern bestreitet Alvaro das Musikprogramm. Zwischendurch lesen Hobby-Schreiber aus ihren Werken. Ob nun der stadtbekannte Alternativ-Schuster in seiner Arbeitskleidung vor dem Schusterwerkzeug sitzt und flammende Appelle gegen das Wettrüsten hält oder andere verhinderte Dichter skurrile Innerlichketispoeme vortragen werden. Obwohl in der Szene aktiv, bleibt Alvaro in der badischen Kleinstadt der immer etwas seltsame Sonderling. Bis auf einige getreue Fans wird er nicht ernst genommen und auch die lokale Jazz- und Funkszene nimmt Alvaro nicht so richtig wahr. Dabei entstehen durch die achtziger Jahre hindurch einige recht interessante LPs, Singles und Cassetten. Ob nun die Alben "Repetition Kills", "Mums milk not powder" oder das dritte Album "The Working Class", das Diedrich Diederichsen in der inzwischen verblichenen Zeitschrift "Sounds" 1981 regelrecht abfeiert. Die Cassette "Four Sad Songs" oder die Cassingle, also die Cassetten-Single, "Strong as a bull", Alvaros nicht unwitziges vegetarisches Manifest: "If you want to be strong as a bull, don’t eat the bull." - Mit seiner Ablehnung von Fleisch, Alkohol, Nikotin und allen anderen Drogen ist Alvaro auch ein, wenngleich auch weniger verbissener, Vertreter der "Straight-edge-Bewegung" unter Musikern. "Die Realität ist mir Droge genug", sagt Alvaro, "Drogen sind keine Voraussetzung für Kreativität" und "Man kann auch mit Orangensaft kreativ sein". Statements geradewegs für diverse Kampagnen der neuen rot-grünen Regierung?

Perfektion ist langweilig

In Konstanz nimmt Alvaro 1988 auch die Deutsche Staatsbürgerschaft an. "Das war einfacher", sagt er, "bis dahin war ich ja staatenlos, was in England kein Problem war, in Deutschland schon." Jedesmal wenn er ins Ausland zu Konzerten gereist ist - und Konstanz liegt an der Schweizer Grenze - gab’s jedenfalls Probleme.

Später kandidiert Alvaro auch einmal auf der Liste der Konstanzer Grünen für den Kreistag. Ins Regionalparlament schafft er’s zwar nicht, doch erzielt er auf dem hinteren Listenplatz ein achtbares Ergebnis. In den letzten Jahren werden die Tonträger, die Veröffentlichungen rarer. 1990 erscheint mit "The Squeak" eine witzige kleine Single, mit der Alvaro vergeblich versucht, einen neuen Tanz, den Squeak, zu etablieren. 1993 zum fünfzigsten Geburtstag dann "I’m not so young anymore" und ein Jahr später die Split-Single "Men don’t cry they sing" mit dem japanischen Musiker Toshi. Die Rückseite der Single, "Perfection is boring" gibt so etwas wie das Credo des Chilenen wider. Perfektion ist langweilig, ein fast anarchronistischer Spruch, der geradewegs aus den frühen Achtzigern stammen könnte. Damals als in Berlin die "genialen Diletantten" umgehen, MusikerInnen wie Gudrun Gut, Blixa Bargeld und ein alter Bekannter von Alvaro, der aus Konstanz stammende Wahl-Berliner Frieder Butzmann, die Musikszene durcheinanderwirbeln.

Vor ein paar Jahren hat der Sänger und Pianist, der immer mit weißen Handschuhen auftritt ("da sieht man nicht, wie ich mich verspiele"), ein neues Programm zusammengestellt. Unter dem kokett despektierlichen Titel "Südamerikanische Schnulzen" hat er, wie ein Musikarchäologe alte "boleros", lateinamerikanische Schlager aus den Jahren 1920 bis 1950 ausgegraben und neu bearbeitet. Schlager, die er mit seiner gewohnt krächzenden, immer ein wenig daneben liegenden Stimme singt. Ein klasse Programm, denn kaum einer interpretiert so herrlich schräg und doch voller Herzblut den alten Klassiker "Besame mucho", kaum einer bringt González Malbráns Drama "Vanidad" so überzeugend und trotzdem augenzwinkernd über die Bühne.

Inzwischen hat Alvaro auch wieder einige neue Songs geschrieben und gemeinsam mit seinem jungen Be-gleitmusiker, dem Bassisten Jens Volk, reist er auch hin und wieder zu Konzerten durch die Gegend. Wenn ihn, den musikalischen Außenseiter, mutige Konzertveranstalter buchen.
 

Diskografie:

1965 Los Challengers (feat. Alvaro), Single/Chile only
1967 Los Bumerangs (feat. Alvaro), Single/Chile only
1977 Drinking my own sperm, LP
1978 Mums milk not powder, LP
1979 The Working Class, LP
1981 Four Sad Songs, Tape
1982 Repetition Kills, LP
1985 Mariposa, Single
1987 The Clip, Video
1987 Strong as a bull, Tape
1988 Is the garment ready?, LP
1990 The Squeak, Single
1993 50 years Alvaro, Single
1994 Perfection is boring, Single
1994 Südamerikanische Schnulzen, LP
1996 Alvaro live in Berlin, EP
1997 Drinking my own sperm, CD (Re-Release)
Alvaro im Internet:
http://www.singing-nose.com/
Wer Alvaro kontakten möchte:
Squeaky Shoes Records, Zähringerplatz 4,
78464 Konstanz (Fax. 07531-22009).

Letzte Änderungen: 24.08.2006
Produziert von
Peter Pötsch