Be Bop, chileni
und quietschende Schuhescher Punk
Der Chilene
Alvaro Peña-Rojas
Von
Thomas Bohnet
"Drinking
my own sperm" habe ich vor 27 Jahren geschrieben. Damals hatte
ich noch mehr davon. Außerdem bin ich heute ja Vegetarier."
Den Humor hat Alvaro Peña-Rojas auch mit 55 nicht verloren, wie
diese Ansage bei einem Konzert im kleinen K 9 Foyer in seiner Wahlheimat
Konstanz zeigt. 
Künstlermodell
Außenseiter, Abteilung genialer Dillettant. Alvaro, der "Chilene
mit der singenden Nase", ist ein typischer Vertreter des musikalischen
Outsidertums. Das traf 1980 zu, als dem im europäischen Exil lebenden
Südamerikaner in der legendären Rowohlt-Buchreihe "Rock-Session"
(Vol 4) ein eigenes Kapitel gewidmet worden ist und das trifft auch
heute noch zu.
Vor einem Jahr
ist, fast genau zwanzig Jahre nach der Erstveröffentlichung, das
Album "Drinking my own sperm" erstmals auf CD erschienen.
Ein Fan des Chilenen mit dem deutschen Paß aus dem schwäbischen
Ravensburg hat 500 Stück pressen lassen. Alvaro selbst hatte sich
bislang beharrlich geweigert, alte Aufnahmen wiederzuveröffentlichen.
"Für mich ist das, als ob Du eine Leiche ausgräbst", erzählt
der Musiker mit dem Wuschelkopf und den stechenden, wachen Augen.
Daß er bei "Drinking my own sperm" eine Ausnahme gemacht
hat, lag an seiner chronischen Geldnot. "Zu der Zeit war ich
gerade wieder in Chile und hatte dort kein Geld", sagt er entschuldigend.
Zudem sei er krank gewesen, habe an einer hartnäckigen Grippe gelitten
und nicht einmal das Geld für Medikamente gehabt. Also habe er dem
Fan eben das Mastertape des Albums ausgeliehen, dafür 500 Mark und
100 CDs bekommen.
Der kastrierte
Papagei
Heute wieder
gehört, hat "Drinking my own sperm" nichts von seiner
Faszination und Kraft verloren. Das Album ist ein spannender Soundbastard
aus Post-Punk, Dilettanten-Pop und südamerikanischer Folklore in
für die späten Siebziger typischer schräger Form. Karg, spartanisch
instrumentiert, vom Gefühl her eher traurig gehalten. Alvaro, der
sich autodidaktisch das Klavier spielen beigebracht hat, an Piano,
Anden-Flöte und Bass, eine Freundin am Mikro, ein Freund an Schlagzeug
und und Percussion. Charakteristisch ist Alvaros nasaler Gesang,
der ihm den Beinanmen "Der Chilene mit der singenden Nase eingebracht
hat", eine krächzende Stimme, hart an der Nerv-Grenze, was
einen englischen Journalisten des "Melody Maker" einst
zu der Bermkung hinreissen ließ, das klänge nach "kastriertem
Papagei" - was Alvaro immer wieder amüsiert erzählt. Überhaupt
hat ihn die englische Fachpresse seit damals in ihr Herz geschlossen.
Jede noch so kleine Single oder jedes Tape, das duch die 80er hindurch
auf Alvaros eigenem Label, dem winzigen "Squeaky Shoes Records",
in Konstanz erscheint, wird in den "Week-lies" besprochen.
1998
ist Alvaro wieder aus Chile nach Konstanz zu-rückgekehrt. Einigermaßen
desillusioniert, hat er seiner alten Heimat nun endgültig den Rücken
gekehrt. Nachdem er Anfang der siebziger Jahre nach Pinochets Putsch
ins Londoner Exil gegangen war, kehrte er 1989 erstmals wieder nach
Chile zurück. Auf der "Suche nach meiner Heimat", wie
er erzählt. Nachdem er nun aber neun Jahre zwischen Chile und Deutschland
hin- und hergereist ist, weiß er, daß "diese Heimat nur in
meinem Kopf existiert, eine schöne romantische Erinnerung ist."
Chile habe ihn enttäuscht, sagt er. "Ich habe mit meiner Familie
gebrochen, viele meiner Freunde sind gestorben". Und auch als
Musiker hat er dort keine Chance. "Nach 17 Jahren Diktatur
ist der Publikumsgeschmack doch sehr konservativ, sehr konventionell",
sagt er, der Geist Pinochets sei immer noch stark, wie auch die
jüngsten Versuche, den 83jährigen Ex-Diktator ("die giftige,
alte Kröte", so die Schweizer WoZ) für seine Verbrechen zur
Rechenschaft zu ziehen, bislang kläglich gescheitert sind. Heute
gebe es in Chile kaum Auftrittsmöglichkeiten, gerade mal vier Konzerte
habe er 1997 gegeben, sagt Alvaro. Fast unter Ausschluß der Öffentlichkeit,
fügt er lachend hinzu. Nun lebt Alvaro wieder in Konstanz, dort
wo er fast zwanzig Jahre lang zuhause war.
BeBop für verrückte
Leute
Geboren 1943
in Valparaiso wächst Alvaro Peña-Rojas wohlbehütet in einem gutbürgerlichen
Haushalt auf. Der Vater ist Zahnarzt, die Mutter führt ein strenges
Regiment. Vor allem sie ist dagegen, daß der Filius Musiker wird.
"Für meine Mutter waren alle Musiker Bohemians, Musik hatte
immer mit Drogen und Alkohol zu tun", erzählt Alvaro amüsiert.
Er solle lieber etwas anständiges lernen, am besten beim Militiär,
bei der Marine Karriere machen. Stattdessen schlägt sich Alvaro
nach dem Gynmnasium in der Werbebranche durch, wird Vertreter und
dann Werbetexter. "Ich war schon immer ein funny man",
sagt Alvaro in seinem gebrochenen Deutsch. In den sechziger Jahren
schreibt er Jingles und Werbesprüche, arbeitet mit den größten Agenturen
für Südamerika zusammen. Parallell dazu entdeckt Alvaro aber auch
die Musik. Den Rock ‘n’ Roll mit Bill Haley und später
Jazz, John Coltrane. "BeBop war damals auch in Chile etwas
für verrückte Leute", sagt er. 1959 hat Alvaro seinen ersten
Auftritt mit der Band "The Dandys", Rock ‘n’
Roll im Bill-Haley-Stil. Die Gruppen "The Challengers"
und "The Boomerangs", mit denen Alvaro als Saxofonist
drei Singles aufnimmt, folgen.
Mit Joe Strummer
im besetzten Haus
1970 reist Alvaro
aus Abenteuerlust nach London, wo er später für die Regierung des
Sozialisten Salvador Allende arbeitet: Alvaro geht zur chilenischen
Botschaft und weil er gut englisch kann, stellen sie ihn dort gleich
an: "Ehrenamtlich", wie er sagt, als Freiwilliger. 1973
nach dem Putsch der Militärs und dem Tod Allendes wird Alvaro zum
politischen Flüchtling. Auch als sein Vater stirbt und Alvaro einen
Sohn bekommt, kann er nicht nach Chile zurück. Er bleibt in London.
In der englischen Metropole schlägt er sich mit Jobs durch, arbeitet
in der Werbung, hat Putzjobs oder fährt als "ice cream man"
durch die Straßen. Es folgt der Ausstieg aus dem bürgerlichen Leben.
Über einen Bekannten kommt Alvaro mit der Londoner Squatt-Szene,
der Hausbesetzerszene, in Kontakt. "In einem Haus in der Walterton
Road 101 waren Leute, mit denen ich dann zusammen Musik gemacht
habe", erinnert er sich. "Wir spielten einfach drauflos
und sind dann auch einige Male aufgetreten", sagt er. Zum Beispiel
im Vorprogram der Van der Graf Generator. "Ein besonders schlechter
Auftritt", fügt er lachend hinzu, "die Kritik sagte über
uns, diese Band kann nur nach oben kommen, denn weiter nach unten
geht es nicht." Bei den "101ers", so der Name der
Gruppe, spielt auch ein Typ namens Woody Mellor Gitarre. "Der
klimperte jeden Tag auf seiner Gitarre in der Küche herum",
erinnert sich Alvaro. "Nachdem wir die 101ers aufgelöst haben,
hat er später den Künstlernamen Joe Strummer angenommen und mit
seiner eigenen Band, den Clash, Musik gemacht. Der Rest ist Punkgeschichte."

Alvaro
und Jens Volk beim Konzert im K9, Konstanz.
Foto:
Thomas Bohnet
Alvaro selbst nimmt Ende 1977 für 700 Pfund "Drinking my own
sperm" auf, ein Album für das er, nicht zuletzt auch des Titels
wegen, keine Plattenfirma findet. Auch in Deutschland nicht. Ein
Alternativ-Betrieb wie "Pläne" weigert sich, die Platte
herauszubringen. Also erscheint das Album auf Alvaros eigenem Label,
"Squeaky Shoes Records". Die "squeaky shoes",
quietschenden Schuhe, haben seinem Onkel gehört, erzählt er, einem
Original, dessen Schuhe immer gequietscht haben und der damals sagte,
das käme daher, daß sie noch nicht ganz bezahlt seien.
Alvaros langweiliger
Montag
Ende der Siebziger
wird Alvaro von einem Bekannten in die deutsche Kleinstadt Konstanz
eingeladen. Dort trifft der Chilene Hilde Schneider, seine spätere
dritte Frau. Die Frau, "die mein Leben gerettet hat",
sagt er. Nach längerem Hin- und her zieht er in eine WG nach Konstanz.
Auch dort engagiert sich Alvaro in der lokalen Musikszene. Legendär
ist seine Veranstaltungsreihe "Langweiliger Montag" in
einem besetzten Haus, dem ehemaligen Fernmeldeamt in der Stadtmitte
von Konstanz. Für ein paar Mark Eintritt gibt’s dort 1981 jeden
Montag eine Mischung aus Konzert und Lese-Performance. Zusammen
mit zwei Musikern bestreitet Alvaro das Musikprogramm. Zwischendurch
lesen Hobby-Schreiber aus ihren Werken. Ob nun der stadtbekannte
Alternativ-Schuster in seiner Arbeitskleidung vor dem Schusterwerkzeug
sitzt und flammende Appelle gegen das Wettrüsten hält oder andere
verhinderte Dichter skurrile Innerlichketispoeme vortragen werden.
Obwohl in der Szene aktiv, bleibt Alvaro in der badischen Kleinstadt
der immer etwas seltsame Sonderling. Bis auf einige getreue Fans
wird er nicht ernst genommen und auch die lokale Jazz- und Funkszene
nimmt Alvaro nicht so richtig wahr. Dabei entstehen durch die achtziger
Jahre hindurch einige recht interessante LPs, Singles und Cassetten.
Ob nun die Alben "Repetition Kills", "Mums milk not
powder" oder das dritte Album "The Working Class",
das Diedrich Diederichsen in der inzwischen verblichenen Zeitschrift
"Sounds" 1981 regelrecht abfeiert. Die Cassette "Four
Sad Songs" oder die Cassingle, also die Cassetten-Single, "Strong
as a bull", Alvaros nicht unwitziges vegetarisches Manifest:
"If you want to be strong as a bull, don’t eat the bull."
- Mit seiner Ablehnung von Fleisch, Alkohol, Nikotin und allen anderen
Drogen ist Alvaro auch ein, wenngleich auch weniger verbissener,
Vertreter der "Straight-edge-Bewegung" unter Musikern.
"Die Realität ist mir Droge genug", sagt Alvaro, "Drogen
sind keine Voraussetzung für Kreativität" und "Man kann
auch mit Orangensaft kreativ sein". Statements geradewegs für
diverse Kampagnen der neuen rot-grünen Regierung?
Perfektion
ist langweilig
In Konstanz
nimmt Alvaro 1988 auch die Deutsche Staatsbürgerschaft an. "Das
war einfacher", sagt er, "bis dahin war ich ja staatenlos,
was in England kein Problem war, in Deutschland schon." Jedesmal
wenn er ins Ausland zu Konzerten gereist ist - und Konstanz liegt
an der Schweizer Grenze - gab’s jedenfalls Probleme.
Später kandidiert
Alvaro auch einmal auf der Liste der Konstanzer Grünen für den Kreistag.
Ins Regionalparlament schafft er’s zwar nicht, doch erzielt
er auf dem hinteren Listenplatz ein achtbares Ergebnis. In den letzten
Jahren werden die Tonträger, die Veröffentlichungen rarer. 1990
erscheint mit "The Squeak" eine witzige kleine Single,
mit der Alvaro vergeblich versucht, einen neuen Tanz, den Squeak,
zu etablieren. 1993 zum fünfzigsten Geburtstag dann "I’m
not so young anymore" und ein Jahr später die Split-Single
"Men don’t cry they sing" mit dem japanischen Musiker
Toshi. Die Rückseite der Single, "Perfection is boring"
gibt so etwas wie das Credo des Chilenen wider. Perfektion ist langweilig,
ein fast anarchronistischer Spruch, der geradewegs aus den frühen
Achtzigern stammen könnte. Damals als in Berlin die "genialen
Diletantten" umgehen, MusikerInnen wie Gudrun Gut, Blixa Bargeld
und ein alter Bekannter von Alvaro, der aus Konstanz stammende Wahl-Berliner
Frieder Butzmann, die Musikszene durcheinanderwirbeln.
Vor ein paar
Jahren hat der Sänger und Pianist, der immer mit weißen Handschuhen
auftritt ("da sieht man nicht, wie ich mich verspiele"),
ein neues Programm zusammengestellt. Unter dem kokett despektierlichen
Titel "Südamerikanische Schnulzen" hat er, wie ein Musikarchäologe
alte "boleros", lateinamerikanische Schlager aus den Jahren
1920 bis 1950 ausgegraben und neu bearbeitet. Schlager, die er mit
seiner gewohnt krächzenden, immer ein wenig daneben liegenden Stimme
singt. Ein klasse Programm, denn kaum einer interpretiert so herrlich
schräg und doch voller Herzblut den alten Klassiker "Besame
mucho", kaum einer bringt González Malbráns Drama "Vanidad"
so überzeugend und trotzdem augenzwinkernd über die Bühne.
Inzwischen hat
Alvaro auch wieder einige neue Songs geschrieben und gemeinsam mit
seinem jungen Be-gleitmusiker, dem Bassisten Jens Volk, reist er
auch hin und wieder zu Konzerten durch die Gegend. Wenn ihn, den
musikalischen Außenseiter, mutige Konzertveranstalter buchen.
Diskografie:
1965 Los Challengers
(feat. Alvaro), Single/Chile only
1967 Los Bumerangs (feat. Alvaro), Single/Chile only
1977 Drinking my own sperm, LP
1978 Mums milk not powder, LP
1979 The Working Class, LP
1981 Four Sad Songs, Tape
1982 Repetition Kills, LP
1985 Mariposa, Single
1987 The Clip, Video
1987 Strong as a bull, Tape
1988 Is the garment ready?, LP
1990 The Squeak, Single
1993 50 years Alvaro, Single
1994 Perfection is boring, Single
1994 Südamerikanische Schnulzen, LP
1996 Alvaro live in Berlin, EP
1997 Drinking my own sperm, CD (Re-Release)
Alvaro im Internet:
http://www.singing-nose.com/
Wer Alvaro kontakten möchte:
Squeaky Shoes Records, Zähringerplatz 4,
78464 Konstanz (Fax. 07531-22009). |