Nr. 9 / Dezember 1998

















Gästebuch


Bücher

Thomas Meinecke
Tomboy
[Suhrkamp, 252 Seiten]

[tb] Nach dem wirklich großartigen Roman "The Church Of John F.Kennedy" nun also das, so sagt man im "Musik-Biz", "schwere zweite Album", respektive Buch des Thomas Meinecke, den Pop-Fans ansonsten vielleicht als einen der Fünf der wunderbaren FSK (siehe auch die Plattenkritik von deren neuestem Album "Tel Aviv" auf den Plattenseiten) kennen. "The Church..." machte mir großes Ver-gnügen zu lesen, bei "Tomboy", mußte ich mich dagegen über weite Strecken eher durchquälen. Was wohl auch am Thema liegen mag. All die Diskussionen um "gender troubles", um "Geschlechterverhältnisse", Polaritäten & Co. finde ich persönlich so spannend nicht. "Not my cup of tea" würde Kollege Hablizel sagen. Sei’s drum, faszinierend ist wieder einmal, wie der Autor hier alles miteinander vermischt, ohne daß das in blanken Eklektizismus ausartet, und dabei von leichter Hand Michael Foucault mit Courtney Love zusammenbringt, die Krautrock-Combo Faust mit Mark Twain, das legendäre Sozialistische Patientenkollektiv (SPK) mit House Music, "urinale Segregation" mit der Geschichte der BASF. Das ist mitunter recht vergnüglich und auch spannend zu lesen, gelegentlich dann aber auch, wie gesagt, etwas zähflüssig.

In "Tomboy" (der Term bezeichnet ein Mädchen, das sich gegen die Rollenklischees wie ein Junge benimmt) geht es um die deutsch-amerikanische Studentin Vivian Atkinson, die sich in ihrer Magisterarbeit u.a. mit der Feministin Judith Butler beschäfigt und deren bizarren Freundeskreis, in dem sich u.a. ein feministischer Arzthelfer (Männer, die sich selber als Feminist bezeichnen, fand ich schon immer unheimlich), eine bisexuelle Tennispielerin, eine feministische Doktorandin und deren "phallische Verlobte" Angela (einst Angelo) mit Hang zum Katholizismus tummeln. Mal mehr, mal weniger munter entwickelt sich hier ein Reigen rund um die angesprochenen Gender-Themenkreise und auch um deutlich Profaneres wie die alten Fragen: wer mit wem und wenn nicht, warum?

Joachim Christian Huth (Hg.)
Das Lindenstraßen-Universum
Band 1: Alle Geschichten
Band 2: Daten, Fakten, Hintergründe
(VGS-Verlag, DM 39,80 u. DM 29,80)

[tb] Ich bekenne, daß ich süchtig bin! Als Seher der ersten Stunde habe ich bis heute keine 10 Sendungen der "Lindenstraße" verpaßt und wo andere Erstseher längst ausgestiegen sind, bleibe ich immer noch dabei. Mehrmals haben wir in LEESON geklagt, daß es keinen adäquaten Nachfolger für das legendäre und inzwischen schon längst vergriffene Lindenstraßen-Buch von Martin Keß aus dem Jahre 1989 gibt: Nach 200 Sendungen gab`s dort schöne Porträts und einen Episodenführer unserer Leib- und Magenserie. Nach eher mißglückten späteren Buch-Versuchen liegt nun endlich ein zufriedenstellendes zweibändiges Werk vor. Während der erste Band ein ausführlicher Episode Guide ist, in dem alle 682 Folgen bis Weihnachten 1998 mit kurzen Inhaltsangaben aufgeführt werden, kommt der zweite Band als gut gemachtes Lexikon rund um die 1985 gestartete Serie daher. Von A wie Abel, Inge (= Dr. Eva-Maria Sperling) bis Z wie "Zorro" Pichelsteiner werden hier die Schauspieler und Serienfiguren mit kurzer Serien-Biografie vorgestellt. Wobei auch kleine Nebenfiguren wie der Rosenverkäufer Zeki Kurtalan oder der Fascho Hilmar Eggers ("Herrchen" von "Hermann dem Zwoten") nicht vergessen werden. Von A wie Abschiebung oder Ausländerfeindlichkeit bis Z wie Zölibat werden aber auch die Themenkomplex, Problemkreise, die in der Serie bislang vorkamen, angerissen. Abgerundet wird dieses für alte und neue Fans unverzichtbare Gesamtpaket durch ein Poster (auch hier knüpft man an das oben erwähnte erste Buch an), das Klarheit ins Beziehungsgeflecht der Lindensträßler bringt. Tolle Sache!

Michel Houellebecq
Les particules élémentaires
[Flammarion, 394 Seiten, 105 FF]

Michel Houellebecq
Extension du domaine de la lutte
[Editions J’ai lu, 156 Seiten, 20 FF]

[mz] In Frankreich ist der 1958 geborene Michel Houellebecq momentan in aller Munde. Grund: Sein zweiter Roman "Les particules élémentaires" ["Die Elementarteilchen"] spaltet die intellektuellen Zirkel in Paris und führt zugleich die Bestsellerliste an. Die Literaturzeitschrift Perpendiculaire, in deren Redaktion auch Houellebecq sitzt, schloß ihn aus der Redaktion aus und warf ihm rechtes Gedankengut vor. Als Konsequenz trennte sich Flammarion, der Verlag von Houellebecq, von der ebenfalls hauseigenen Literaturzeitschrift Perpendiculaire. Als sei das alles noch nicht genug, fühlt sich nun auch noch ein esoterisch angehauchter Campingplatz, den Houellebecq in seinem Roman parodiert, auf den Schlips getreten und fordert gar mit gerichtlichen Mittel das Werk verbieten zu lassen, da Houellebecq Fiktion und Realität vermischen würde.

Ein Blick in das Werk selbst, läßt diesen ganzen Intellektuellenstreit zur Farce werden. "Les particules élémentaires" ist eine negative Utopie, eine Zukunftsvision, die zwar, wenn man so will, die Entartung des Westens und den Verfall der Werte thematisiert (also der neuen Rechte nahestehende Themen), ohne aber eine eindeutige Konsequenz daraus zu ziehen. Es ist eine Satire, die sich eher unter dem Postmannschen Credo "Wir amüsieren uns zu Tode" fassen läßt, als unter irgendwelchen, wie auch immer gearteten Ideologien. Dem "Menschen" ist dieses Buch gewidmet, erzählt wird es von einem Klon.

Houellebecq entwirft ein Modell des Entweder/Oder, erzählt die Geschichte von zwei Halbbrüdern in der "zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts". Während der eine (Bruno) ein rein lustorientiertes Dasein führt, widmet der andere (Michel) sein Leben der Wissenschaft, der Biologie und Eugenik. Beide scheitern. "Les particules élémentaires" ist die Geschichte des "okzidentalen Selbstmordes", zugleich aber auch eine Kulturgeschichte, in der die Sixties auf die Neunziger treffen, Charles Manson auf esoterische Selbsterfahrungswochenenden und Swingerclubs.

Bereits Houellebecqs Erstlingswerk "Extension de la domaine de lutte" ["Ausweitung des Kampfgebiets"], das 1994 von Maurice Nadeau veröffentlicht worden ist, und das in den folgenden Jahren zu einem Kultbuch avancierte, findet im Scheitern des Protagonisten, im Angesicht der Natur, sein Finale: "Der Eindruck der Trennung ist vollkommen; ich bin von nun an ein Gefangener in mir selbst. Sie wird nicht stattfinden die erhabene Fusion; das Lebensziel ist verfehlt. Es ist zwei Uhr Nachmittags."
"Extension" erzählt von dem trostlosen Dasein eines Informatikers, vom alltäglichen Horror, von Arbeitskollegen und Ritualen am Kaffeeautomaten, von abendlichen Feiern, Schulterklopfereien und schlecht gerahmter "Kunst" im Büro des Vorgesetzten, von all den Gräßlichkeiten die die Arbeitswelt bestimmen können.

Weder "Extension" noch die "particules élémentaires" liegen bislang auf deutsch vor. Bleibt abzuwarten, wie die deutsche Kritik auf die beiden Werke reagieren wird, denn vielleicht hat der ganze französischen Intellektuellenstreit in nichts anderem seinen Ursprung als in einem Geflecht aus verletzten Eitelkeiten und Neid. Auch dies wäre nicht das erste Mal.

ANNETTE KILZER/STEFAN ROGALL
Das filmische Universum von Joel u. Ethan Coen
[Schüren Presseverlag, 191 Seiten]

PETER KÖRTE/GEORG SEESSLEN
Joel & Ethan Coen
[Dieter Bertz Verlag, 287 Seiten]

[mz] Da gibt es jahrelang kein deutschsprachiges Werk zu den Filmen der Coen Brüder und nun erscheinen mehr oder weniger zeitgleich zwei Bü-cher. Eines im Bertz Verlag [Peter Körte/ Georg Seeßlen - Joel und Ethan Coen] und eines im Schüren Presseverlag.

Beide Bücher stellen die Filmographie, Essays zu den einzelnen Filmen ins Zentrum und warten mit einem Gespräch anläßlich des neusten Filmes "The Big Lebowski" auf. Grundlegend unterscheiden sich die beiden Bücher in ihrer Herangehensweise. Körte und Seeßlen gehen theoretischer vor, bieten neben der Auseinandersetzung mit den einzelnen Filmen und dem Gespräch eine theoretische Bestimmung des Oeuvres an ("Spiel. Regel. Verletzung. Auf Spurensuche in Coen Country"). Ein bißchen populistischer, im Grund-ansatz etwas weniger tiefgehend, ist das Werk von Annette Kilzer und Stefan Rogall, die zwar auch theoretisches zu bieten haben ("Reisen durch Raum und Zeit - Die Bildkompositionen der Coen-Brüder") ansonsten aber anekdotenhafter vorgehen. Unter der Überschrift "Klinische Leiden-schaft oder warum die Coen-Brüder mehr sind als verspielte Stilisten" versucht Rogall den Vorwurf der Künstlichkeit und Kälte, der immer wie-der im Zusammenhang mit den Filmen der Coen-Brüder auftaucht, zu entkräften. Er will stattdessen die Filme der Brüder als die Werke von zwei "lei-denschaftlichen Filmemachern" verstanden wis-sen, die sich schlicht und ergreifend der Senti-mentalität des amerikanischen Mainstream- Kinos verwehren. Deutlich weniger überzeugend ist Rogalls Versuch die vielfältigen Zitate und Genrequerverweise, die ein wesentliches Element des filmischen Universums der Coen-Brüder sind, lediglich als Beiwerk des narrativen Vorgangs zu verstehen. "The Big Lebowski" zum Beispiel, das jüngste Werk, entfaltet seinen Reiz eigentlich erst ausgehend von einem filmischen und kulturellen Hintergrundswissen. In diesem Sinne ist "The Big Lebowski" ein wahrlich postmoderner Film, der im Spiel der Referenzen zu sich selbst gelangt.

Die Frage welches der beiden Bücher denn nun zu empfehlen sei, muß jeder für sich selbst entscheiden: Wem nach einer theoretisch geprägteren Auslegung der Filme der Coen-Brüder verlangt, dem sei das Buch von Körte/Seeßlen wärmstens empfohlen, wer stattdessen filmtheoretisch weniger gebildet ist und schlicht eine umfassende Einführung in das Werk möchte, der ist mit Stefan Rogall und Annette Kilzer gut beraten.

MONOCHROM #8-10

[lind] Was lesen eigentlich Magazinmacher? Eigent-lich eine doofe Frage, die an das noch doofere Paradox vom Friseur im Alpendorf erinnert (alle Männer, die sich nicht selbst rasieren, gehen zum Friseur), wäre da nicht als breitester aller anzunehmenden Konsense, ‘monochrom’, aus Stockerau fast bei Wien, auszu-machen. Hey, dieses Zine schreibt I.R.O.N.I.E. wieder groß (groß scheint angesichts einer Quellekatalog-dicken dreifach-Nummer ohnehin das beherrschende Adjektiv, oder, wie es die Heraugeber nennen, ‘erbärm-lich fett’). ‘mono’ berichtet über Theorie, Tantren-Sex, Bewußtseinsmaschinen, Serienkiller und einiges mehr - you asked for it, people! Nur schade, daß dieses Teil, ‘gebenedeit unter den illustrierten’ so selten er-scheint, und an Unregelmäßigkeit der Erscheinungsweise sogar das vorliegende Organ um Längen übertrifft - derweil müssen wir uns halt mir SPEX, De:Bug, Wired, Wire und dem anderen Muff über Wasser halten. Zum Schluß noch mein liebster ‘mono’-Praxistip: ‘falls probleme mit dem gewicht dieses druckwerks auftauchen sollten, empfehlen wir die fertigung eines henkels, etwa aus salzteig’ bestellen! und zwar unter info@monochrom.at oder natürlich mit der Schnecken-post bei der ‘wunderbaren Allesaufeinmalzusammenadresse’:
Dr. Karl-Wallek-Str. 12, A-2000 Stockerau, Österreich.

MARTIN HEIDEGGER
.. liest Hölderlins "Erde und Himmel"
Der Satz der Identität   [Neske/Klett-Cotta]

[fs] Ein Meister aus Deutschland spricht wieder, und das nach knapp 40 Jahren. Dies längst vergriffenen Dokumente des eher schweigsamen (gegenüber P. Celan), dafür aber potenziert natürlichen ("das Geviert") Heidegger, der seine Wurzeln zum Schwäbisch-Ländlichen nie ernsthaft in Frage stellte, hierher eher seine Kraft und Nahrung für die Tiefe seines Denkens bezog, widmet sich nun (nach-)denkend - hier liegt auch das philosophische Gewicht, die Frage nach dem Denken erneut zu stellen, Fragen und Denken auseinander abzuleiten, innigst aufeinander zu beziehen - einer naturalistischen Frage, die ihre Inkarnation in Friedrich Höl-derlin fand. "Laßt mich vor, ich kann das Schicksal ertragen", so das emphatische Credo Hölderlins. Solcher Enthusiasmus, die Geschicke der Erde und des Himmel so selbst in die Hand zu nehmen, trifft mit einer sachlich-analytischen Nüchterheit Heideggerscher Sprache, ständig auf der Suche nach der eigenen geschichtlichen Identität, zusammen, pro-voziert allein schon diese paradoxe Verbindung eine Faszina-tion, der man sich kaum entziehen kann. Auch "Der Satz der Identität", ein Nachdenken über die Stellung und Bedeutung der Technik in der modern-zivilisierten Welt, die auch seit diesem denkwürdigen Sommertag 1957 in den kühlen Ge-mäuern der Uni Freiburg kaum an Bedeutung eingebüßt hat, ist ein ausgefeiltes und überlegt vorgetragenes Stück Sprache, die sich, so O-Ton Heidegger, im Zuge der Auseinandersetzung "entbergen" muß; und dies stellt auf Anhieb zwar ein eher unverständlich-vages als nachvollziehbares Unternehmen dar, bis es sich dann in vieldiskutierter (der "braune" Meister) und eigentümlicher Weise, hier auf CD, selbst zu Wort meldet, das Denken sich selbst auf den Weg macht.  Faszinierend und erhellend zugleich.

Letzte Änderungen: 24.08.2006
Produziert von
Peter Pötsch