Nr. 9 / Dezember 1998

















Gästebuch


Die virtuelle Leichtigkeit der Kontaktaufnahme - Let’s start a new life im "Cycosmos"

von Florian Schreiner

Viel bedarf es nicht, um "connected" zu sein, um sich auf eine virtuelle Reise zu begeben, sich durch die Netzwerke des Wissens zu schlagen und das Fenster zu einer anderen Welt zu öffnen, selbst interaktiv zu werden. Keine beschwörende Formel, kein Zauberspruch, ein einfacher Schlüssel reicht aus: http://www.cycosmos.com.

cycosmo.jpg (8340 Byte)Ein männliches Wesen, mit blauen Augen und dunkelbraunem Haar erscheint und stellt sich vor: Hy, my name is e-cyas, i am a virtual human being, visit me in my cycosmos, recreate yourself!
Eine Einladung wozu und wohin?  In ein neues soziales Netzwerk körperloser Kommunikation und Interaktion, Liebe und Geborgenheit, die die be-kannten Grenzen interaktiver Spieltätigkeit sprengt? Die spielerischen Charaktertypen waren schließlich weitgehend vorgegeben, die dann per gewandter Beherrschung zur Identifikationsgrundlage generieren konnten. Was nun, wenn man sich selbst kopiert und sein virtuelles Abbild in ein neuartiges soziales Feld entläßt, das omnipräsent ist?
Es sind dann nicht mehr die allerlei bunten Knuddeleier, pelzummantelten Furbies, Fin-Fins und sonstigen Creatures, die man sozialisieren kann und die die Bühnen häuslicher Idyllen bevölkern. Es sind die virtuellen Existenzen, sogenannte Avatare (= Kunst-menschen) jenseits des Bildschirms, die ihr Recht aufs Dasein einfordern und die Grenze von Realität und Virtualität überschreiten. Reality goes virtual, virtualty becomes real!

Die erste prophetische Wegmarke immerhin datiert auf das Jahr 1996, als DK-96, das erste "digital kid" in einem kleinen idyllischen Randbezirk Tokyos, fernab des hektischen Großstadtbetriebes, unter einem funkelnden hard-ware-Himmel, das Licht einer ganz besonderen Welt erblickte. Sie ist 162 cm groß, hat den Scorpion zum Sternzeichen und Blutgruppe A, liebt schwarz/weiß, "Toy Story", den smarten Christian Slater und ist auch sonst sehr nett anzusehen.  Schon zeitig entwickelt die frühreife "Kyoko Date" ambitionierte Träume, die sie jüngst ins Tonstudio, auf Konzertbühnen Japans, nach Washington, eigentlich virtuell überallhin katapultierte, wo man einen Computer besaß und ihn auch bedienen konnte. Beileibe kein von Bits und Bytes belebtes Einzelphänomen mehr. Auch die Ärzte hatten in ihrem Video "Männer sind Schweine" mit einem an femininen Reizen reichlich beglückten Avatar, der auch U2 auf ihrer jüngsten Tournee virtuell begleitete, zu ringen, mit Lara Croft aus Tomb Raider, einem der auflagenstärksten Fluchtpunkte des Multimediabetriebs.

Doch um Flucht geht es gar nicht, so zumindest versichert Bernd Kolb als führender Kopf der Hamburger I-D Gruppe, die den "Cycosmos" kreierte und schon West, Swatch, Sony und andere Unternehmen medial bediente, kürzlich in einer Presseerklärung. Vielmehr auf den Wanderungen durch die verschiedenen Wirklichkeiten auf dem Sprung ins Informationszeitalter jedermann/-frau die Möglichkeit zu bieten, sich selbst zu entwerfen, sich "neu zu definieren, ein neues virtuelles Leben zu beginnen und sich digital mit anderen virtuellen Existenzen zu vernetzen". Wie soll das gehen?

Erst kreiert der "Cycosmonaut" seinen eigenen Avatar, sein virtuelles Abbild, das ihn später im Cycosmos visualisieren wird. Er gibt sein Geschlecht, seinen Nickname und die optischen Accessoires entlang dem vorgegebenen Idealtypus ein. Im zweiten Schritt seine Vorlieben, Präferenzen. Er er-stellt somit sein fiktives oder reales Charaktereogramm und erhält dann seine zweite Identität, eine offizielle Identity-Card plus Zugangscode. Daß diese neugewonnene Freiheit des "Cycosmonauten", wenn er den Kosmos betritt, nicht in völlige Orientierungslosigkeit stürzt, dafür hat die ID-Gruppe auch gesorgt:

Dreh- und Angelpunkt dieses "sozialen Be-triebssystems" auf der Suche nach dem virtuellen Objekt der Begierde im "Cycosmos" ist "E-Cyas" (Electronic Cybernetic Artifical Superstar), eine hu-manoide Suchmaschine und universeller Ansprechpartner, konzeptionell dem ZDF-Webface "Cornelia" (http://www.virtual-friends.de) ähnlich, der entgegen wiederholter Dementis optisch-idealisiert doch stark an seinen Geburtshelfer Kolb erinnert und die soziale Brücke zwischen den "ge-meinsamen Interessen und Hobbies der Nutzer" schlagen helfen soll. Kuppler, Ansprechpartner und Orientierungszentrum in einem: Man gibt für die Suche die (beliebig zahlreichen) gewünschten Interessen oder sonstigen persönlichen Parameter ein, um vielleicht auch eine eigene (gay-, snowbord-, Tarantino- oder X-Files-) "community" zu gründen, schiebt sich zweidimensional durch die verschiedenen Foren, verabredet sich dann auf eine "Chat-Party" zum kleinen Flirt oder verspricht sich virtuelle Ewigkeit im "Wedding-Center". cycosmos.jpg (7861 Byte)

Als Produkt der dritten Generation (nach Kyoko und Lara) ist dieser erste (deutsche) männliche Avatar mit seinem jungen Jahr auch erstaunlich selbstbewußt, liebt außergewöhnliche Menschen wie sich selbst und ruft programmgemäß jedem Be-sucher entgegen: Start a new life behind your computer screen, let´s all get virtual to become real, en-joy the total freedom!

Freiheit wovon? Unmittelbar drängt sich diese Frage auf: Freiheit von Verantwortung, Verpflichtung, von  eindeutiger, wahrhafter und globaler Kommunikation, deren Quersumme ein virtuelles Gefühl von Gemeinschaftlichkeit vermittelt? Oder eher von den mühevolllen Umwerbungstechniken zwischen-menschlicher Kontaktaufnahme? Nein! sagt Herr Kolb: Ziel ist "eine größere kommunikative Bewegungsfreiheit, die zu mehr sozialen Kontakten führt und sicher nicht zu stärkerer Isolation", und es bleibt selbstverständlich jedem selbst das Maß und Wie überlassen, sein virtuelles Alter-Ego zu modellieren, sich in diesem Parallel-Universum zu bewegen, es zu seiner dritten Natur zu gestalten. Daß dies ein handliches Unternehmen verspricht, bezeugen nicht allein die mannigfaltigen Zugangsweisen zum Kosmos: Computer, Fax, SMS oder Pagers, auch die explodierenden Verkaufsstatistiken des Mobilnetzes sprechen eine deutliche Sprache.

Solche neuen "dialoggestützten Betriebssystem-Oberflächen" sind nötig, "alles wird einfacher und gleichzeitig intelligent lernend und damit individuell auf die Eigenschaften der jeweiligen Benutzer zugeschnitten"; HAL 9000 oder disputierwillige Bomben lassen grüßen.
Oder vielleicht ein Fenster zur Welt, von "Otaku", wie J.-J. Beineix seine dokumentarische Reise nach Japan und seinen ewig-jungen weiblichen Idolen zum Sammeln, Anfassen und ... (1993) betitelte?

Der Cycosmos entwirft den Blick in eine freie? und noch unbefleckte? Welt, die weder analog noch virtuell, wohl eher irgendwo dazwischen liegt; frei vom Zufall und anderen Unpäßlichkeiten, die entläßt das Betriebssystem aus ihrer Pflicht. Statt dessen ein gigantisches Netzwerk von Sendern und Suchern, die ihr Umfeld dezent teleaktiv nach kompatiblen Material hin abscannen und ihrerseits von Marketingbranchen ins Visier genommen werden. Schließlich finanziert sich das Projekt der ID-Gruppe in Kooperation mit der Fleed-Gruppe (100%ige Tochter von Gruner & Jahr) oder VW zukünftig über ge-zielte Foren-Werbung: Ein unüberschaubares Betätigungsfeld für potentielles Produktmanagement, wovon man bei  KIRA DAY´s Dauerwerbesendung ("Spot ON!" auf Sat1) immerhin eine leise Vorahnung gewinnen kann. .

Wie dem auch sei, nach dem ersten Server-Herzinfarkt auf der CeBit Home in einer wahr-haft mystischen, alle Vergleiche boykottierenden Atmosphäre und einer nunmehr einmonatigen Kräftigungsphase steht das System seit Oktober für die mit der Eröffnung registrierten 80.000 Cycosmonauten (Tendenz steigend) und alle, die es werden wollen, wieder zur Verfügung.

Nebenbei: Der Plattenvertrag mit EMI Elektrola, der Sprung für "E-Cyas" und für zukünftige Avatare auf die öffentliche Bühne ist auch schon unter Dach und Fach, mit einem etwas zu poppig geratenem Stück, dessen Titel aber für sich spricht: "Are you real?".
[Interview-Infos unter: http://www.heise.de/tp/deutsch/inhalt/co/2367/1.html ]

Letzte Änderungen: 24.08.2006
Produziert von
Peter Pötsch