Monsieur Jean
oder: Der Verlust seiner Jugend
Rund um Monsieur
Jean, einen Schriftsteller Mitte 30, erzählt das französische Comic-Autoren-Zeichner-Tandem
Philippe Dupuy und Charles Berberian persönliche und lebensnahe
Geschichten.
von
Christian Gasser
Ob er nicht
endlich eine Freundin gefunden habe, eine richtige, eine fürs Leben?
- Diese Frage
ist der Preis, den Monsieur Jean für Mutters Kochkünste bezahlen
muß. Er beantwortet sie je-weils mit mürrischem Schweigen, der Vater
versucht, die Stimmung mit einem lockeren Spruch - Jean müsse seine
Jugend halt noch so richtig auskosten - zu entspannen und wird prompt
von der Mutter gemaßregelt: Er sei es doch, der sich so sehnlich
Enkelkinder wünsche …
"Wir haben
Monsieur Jean geschaffen, um persönliche Geschichten erzählen zu
können", sagt Philippe Dupuy, "Anekdoten, die uns selber
oder unseren Freunden widerfahren sind." Monsieur Jean ist
mittlerweile Mitte dreißig, Junggeselle, und schlägt sich als nicht
gerade von Schreibwut besessener Autor und Übersetzer durch. Er
läßt sich durchs Leben treiben und bemüht sich, möglichst wenig
an die Zukunft zu denken - er will sich nicht eingestehen, daß die
Tage seiner Jugend gezählt sind. "Er macht mit einigen Jahren
Verspätung dieselben Erfahrungen wie wir. Als wir in ‘Les Nuits
les plus blanches’ seinen 30. Geburtstag erzählten, hatten
wir den unseren bereits hinter uns."
Philippe Dupuy und Charles Berberian sind nur ein paar Jahre älter
als Monsieur Jean und wohnen wie er in Paris, doch im Gegensatz
zu ihm leben sie in festen Beziehungen - "nun haben wir Kinder,
und er hat noch keine, be-merkt aber, daß viele seiner Freunde Kinder
haben" - und sind als Zeichner-Autoren-Duo eher fleißig.
Dank der modernen Eleganz ihres Ligne-Claire-Stils sind sie gefragte
Illustratoren, und mit ihren Siebdrucken, Skizzenbüchern ("New
York Carnets") und Ausstellungen machen sie ihre graphische
und thematische Bandbreite sichtbar.
Ihre große Liebe gilt aber nach wie vor der "Bande Dessinée",
den Comics, und im Mittelpunkt ihrer kleinen Welt steht Monsieur
Jean, mit dem sie die Bewegung der französischen Comic-Szene hin
zu persönlichen Stoffen angekündigt und begleitet haben: Das erste
Album "Monsieur Jean, l’Amour, la Concierge" erschien
1991, also kurz bevor die unabhängige Künstlergruppe L’Association
die Szene mit autobiographischen Bildergeschichten aufzumischen
begann. "Wir stehen", so Dupuy, "irgendwo dazwischen"
- zwischen der Garde der etablierten Autoren und der jüngeren Generation
- "und wir genießen diese Situation."
Es sind ungemein
berührende, intime Geschichten, die Dupuy/Berberian um Monsieur
Jean spinnen, doch trotz der ähnlichen Silhouette und der schwarzen
Haare ist Monsieur Jean nicht Charles Berberian, und trotz vergleichbarer
Statur und verwandter Gesichtszüge sollte man Philippe Dupuy nicht
mit Jeans Freund Jacques verwechseln. "Es gibt immer einen
Bruch zwischen ihm und uns - wir er-zählen keine wirklich autobiographischen
Geschichten, und wir vermischen Erlebtes und Beobachtetes frei mit
Erfundenem, damit am Schluß die Geschichten gut funktionieren."
Scheinbar mühelos
verzaubern sie die alltäglichen Anekdoten und nächtlichen Begegnungen
des kulturellen Großtadtlebens in Chansons, deren da und dort durchschimmernde
Blues-Harmonien in erster Linie nicht wahre Schwermut ausdrücken,
sondern als ästhetisierende Sound-tracks von Billy-Holiday-Platten
kommen. Das Leben, wie es wirklich ist. Nicht die alles verzehrenden
Leidenschaften aus dem Kino, sondern die emotionalen Zwischentöne,
das Jonglieren mit großen Gefühlen und kleinen Lebenslügen prägen
das Erwachsenwerden dieser Comic-Figur. "Im ersten Album",
erzählt Berberian, "ist Monsieur Jean eine Art ewiger Teenager,
der gedankenlos in den Tag hineinlebt. Die einzelnen Episoden haben
keinen Zusammenhang. Dann aber wird er sich langsam bewußt, daß
er älter wird; die einzelnen Anekdoten werden dichter und universaler,
sie beschäftigen sich mit seinem Innenleben und hängen zusammen."
Im dritten Band
"Les Femmes et les Enfants d’abord", der 1994 erschien
(und wie die ganze Reihe un-verständlicherweise bis heute keinen
deutschen Verlag ge-funden hat), wird Monsieur Jean immer wieder
vom selben Alptraum heimgesucht: Eine Frauen-Armee greift mit unlauteren
Mitteln eine von unzähligen Jean-Inkarnationen verteidigte Burg
an - die Frauen bombardieren die stolze Feste mit Säuglingen. Völlig
überfordert wehren sich die wackeren Ritter, so gut sie können,
und deshalb ist Jean nicht wirklich betrübt, als sein eruptives
Techtelmechtel mit Manureva ebenso abrupt endet, wie es begonnen
hat (sie hatte ja auch einen zu doofen Musikgeschmack). In diesem
Album haben Dupuy und Berberian die einzelnen Episoden - Jeans Probleme
mit dem Mietvertrag, einem depressiven Nachbarn, der Concierge,
dem Schreiben und seinem Freund Felix, der sich mit Eugène, dem
Sohn seiner Ex-Freundin, bei ihm einnistet - zu einer albenlangen
Geschichte verdichtet, die in den Wochenendausflug aufs Land mit
Jacques und Véro mündet, wo er unverhofft seiner Jugendliebe Cathy
begegnet. Das Album schließt mit der leidigen Frage seiner Mutter,
Jean hüllt sich in Schweigen - er mag nicht eingestehen, daß der
blinde König Jean aus seinem Alptraum kurz zuvor befohlen hat, die
Zugbrücke niederzufahren, um Cathy Einlaß in sein Herz zu gewähren
…
Der Stil von Dupuy und Berberian ist von ebenso betörender wie moderner
Eleganz. Sie bemühen sich zwar nicht, ihre Vorliebe für die zeitlos
gealterten Dinge der letzten Jahrzehnte, Möbel und Musik beispielsweise,
zu verheimlichen, doch geben sie, im Gegensatz zu den meisten Ligne-Claire-Zeichnern
nach Hergé, nie der Versuchung no-stalgischer Verklärung nach. Wie
Monsieur Jean leben sie im Paris der neunziger Jahre, und ihr Strich
fängt das Lebensgefühl und das Ambiente von städtischen Mitdreißigern
ein. "Wir zeichnen, um zu erzählen", erklärt Berberian.
"Deshalb verändert sich unser Stil von Album zu Album: Anfänglich
erlebte Monsieur Jean leichte und heitere Anekdoten, doch als seine
Persönlichkeit reifer wurde, schlug sich das in unseren Bildern
nieder." Dupuy: "Monsieur Jean wird ja älter, und
mit ihm entwickelt sich auch unser Stil. Mit unseren Zeichnungen
wollen wir Geschichten erzählen, und der Stil muß in ihrem Dienst
stehen."
Von der Arbeitsweise,
alles gemeinsam zu ma-chen, sind Dupuy/Berberian nur einmal abgewichen
- im "Journal d’un Album". In diesem Tagebuch schildert
jeder der beiden Anekdoten und Ereignisse rund um die Entstehung
von "Les Femmes et les Enfants d’abord." Dieses kleinformatige,
aber dicke schwarzweiße Buch, das bei der Association erschienen
ist, wirft, so Dupuy, "ein neues Licht auf Monsieur Jean ,
und der Leser kann die Beziehungen zwischen uns und unserer Figur
entdecken." Dabei entpuppt sich Berberian als hinreißend selbstironischer
Chronist seiner Unzulänglichkeiten, während Dupuy seine Lebens-
und Beziehungskrise mit schwarzem, bisweilen bitterem Humor verbrämt.
Wer erwartet
hat, Monsieur Jean würde möglichst rasch mit Cathy zusammenziehen,
wird in "Vivons heureux sans en avoir l’air", dem
neusten Album, vorläufig enttäuscht - aus Angst vor den Konsequenzen
einer echten Beziehung ringt Monsieur Jean um seine Unabhängigkeit
als Junggeselle. "Die Phase, in der man beschließt, mit je-mandem
zusammenzuleben", sagt Berberian mit der Miene dessen, der
weiß, wovon er spricht, "steckt voller Komik. Man zögert und
zweifelt, man befürchtet, einen Riesenfehler zu begehen, und wegen
seines unentschlossenen Charakters erlebt Monsieur Jean diesen Moment
auf eine sehr extreme Art und Weise. Er muß erst lernen, sich einem
an-deren Menschen gegenüber zu verpflichten. Auf den Spaß, dieses
emotionale Hin und Her zu schildern, wollten wir nicht verzichten."
Cathy hat genug von Jeans Zaudern. Sie zieht die Konsequenzen und
nimmt einen Job in New York an. So habe er Zeit, teilt sie
ihm in ihrem Lieblingslokal, einem Japaner, bei Sashimi und Chirachi
mit, sich zu überlegen, was er wirklich will. Einerseits ist Jean
durchaus niedergeschlagen und auch eifersüchtig, andererseits aber
gar nicht so unglücklich. Endlich, glaubt er, wird er die Muße finden,
seinen neuen Roman zu vollenden. Weit gefehlt: Der arbeitslose Felix
und sein Stiefsohn hausen noch immer in seiner Wohnung, und es ist
Jean, der sich mehrheitlich um Eugène kümmern muß; Jacques und Véro
sind im Begriff, sich trotz (oder wegen) ihrer Zwillinge zu trennen;
die Concierge erpreßt ihn mit einer Unterschriftensammlung …
- und spätestens während der (bereits zweiten) Hochzeit zweier Schulkameraden,
an der die anfänglich nostalgischen Schwärmereien bald sauer und
bitter werden, dämmert Jean, daß er wohl im Begriff ist, einen Riesenfehler
zu machen. Charles Berberian und Philippe Dupuy sind begnadete Be-obachter,
sie schaffen es, Stimmungen und Gefühle und selbst Hintergedanken
mit wenigen Strichen heraufzubeschwören und die vielen kleinen Alltagsszenen
zur großen, wahren Geschichte eines Mitdreißigers zu verweben, der
glücklicherweise noch rechtzeitig einsieht, daß sein Festklammern
an seine längst verflossene Jugend lächerlich ist - und nach New
York fliegt.
"Das Witzigste
ist aber", lacht Dupuy, "daß Charles und ich Monsieur
Jean gegenüber dasselbe Hin und Her durchgemacht haben. Wir haben
endlos gezögert und gezweifelt - aus Angst, er würde sich, falls
er sich für Cathy entschließt, zu sehr verändern." - Berberian:
"Andererseits hätten es unsere Freundinnen uns übelgenommen,
wenn sich Jean gegen die Beziehung mit Cathy entschieden hätte …"
- Dupuy: "Das Verhältnis von Realität und Fiktion ist in diesem
Fall sehr kompliziert. ‘Was ist denn los, Philippe,’ hätte
meine Freundin bestimmt gefragt, ‘bereust Du es etwa, mit mir
zusammenzusein?’"
BIBLIOGRAPHIE
"Monsieur
Jean, l’Amour, la Concierge" (1991), "Les Nuits les
plus blanches" (1992), "Les Femmes et les Enfants d’abord"
(1994), "Vivons Heureux sans en avoir l’air" (1998)
- alle Humanoides Associés, Genf. "Journal d’un album"
(Association, Paris). "New York Carnets"
- Cornélius, Paris. |