Nr. 9 / Dezember 1998

















Gästebuch


Monsieur Jean oder: Der Verlust seiner Jugend

Rund um Monsieur Jean, einen Schriftsteller Mitte 30, erzählt das französische Comic-Autoren-Zeichner-Tandem Philippe Dupuy und Charles Berberian persönliche und lebensnahe Geschichten.

von Christian Gasser

Ob er nicht endlich eine Freundin gefunden habe, eine richtige, eine fürs Leben?

- Diese Frage ist der Preis, den Monsieur Jean für Mutters Kochkünste bezahlen muß. Er beantwortet sie je-weils mit mürrischem Schweigen, der Vater versucht, die Stimmung mit einem lockeren Spruch - Jean müsse seine Jugend halt noch so richtig auskosten - zu entspannen und wird prompt von der Mutter gemaßregelt: Er sei es doch, der sich so sehnlich Enkelkinder wünsche …

"Wir haben Monsieur Jean geschaffen, um persönliche Geschichten erzählen zu können", sagt Philippe Dupuy, "Anekdoten, die uns selber oder unseren Freunden widerfahren sind." Monsieur Jean ist mittlerweile Mitte dreißig, Junggeselle, und schlägt sich als nicht gerade von Schreibwut besessener Autor und Übersetzer durch. Er läßt sich durchs Leben treiben und bemüht sich, möglichst wenig an die Zukunft zu denken - er will sich nicht eingestehen, daß die Tage seiner Jugend gezählt sind. "Er macht mit einigen Jahren Verspätung dieselben Erfahrungen wie wir. Als wir in ‘Les Nuits les plus blanches’ seinen 30. Geburtstag erzählten, hatten wir den unseren bereits hinter uns."
Philippe Dupuy und Charles Berberian sind nur ein paar Jahre älter als Monsieur Jean und wohnen wie er in Paris, doch im Gegensatz zu ihm leben sie in festen Beziehungen - "nun haben wir Kinder, und er hat noch keine, be-merkt aber, daß viele seiner Freunde Kinder haben" -  und sind als Zeichner-Autoren-Duo eher fleißig. Dank der modernen Eleganz ihres Ligne-Claire-Stils sind sie gefragte Illustratoren, und mit ihren Siebdrucken, Skizzenbüchern ("New York Carnets") und Ausstellungen machen sie ihre graphische und thematische Bandbreite sichtbar.
Ihre große Liebe gilt aber nach wie vor der "Bande Dessinée", den Comics, und im Mittelpunkt ihrer kleinen Welt steht Monsieur Jean, mit dem sie die Bewegung der französischen Comic-Szene hin zu persönlichen Stoffen angekündigt und begleitet haben: Das erste Album "Monsieur Jean, l’Amour, la Concierge" erschien 1991, also kurz bevor die unabhängige Künstlergruppe L’Association die Szene mit autobiographischen Bildergeschichten aufzumischen begann. "Wir stehen", so Dupuy, "irgendwo dazwischen" - zwischen der Garde der etablierten Autoren und der jüngeren Generation - "und wir genießen diese Situation."

Es sind ungemein berührende, intime Geschichten, die Dupuy/Berberian um Monsieur Jean spinnen, doch trotz der ähnlichen Silhouette und der schwarzen Haare ist Monsieur Jean nicht Charles Berberian, und trotz vergleichbarer Statur und verwandter Gesichtszüge sollte man Philippe Dupuy nicht mit Jeans Freund Jacques verwechseln. "Es gibt immer einen Bruch zwischen ihm und uns - wir er-zählen keine wirklich autobiographischen Geschichten, und wir vermischen Erlebtes und Beobachtetes frei mit Erfundenem, damit am Schluß die Geschichten gut funktionieren."

Scheinbar mühelos verzaubern sie die alltäglichen Anekdoten und nächtlichen Begegnungen des kulturellen Großtadtlebens in Chansons, deren da und dort durchschimmernde Blues-Harmonien in erster Linie nicht wahre Schwermut ausdrücken, sondern als ästhetisierende Sound-tracks von Billy-Holiday-Platten kommen. Das Leben, wie es wirklich ist. Nicht die alles verzehrenden Leidenschaften aus dem Kino, sondern die emotionalen Zwischentöne, das Jonglieren mit großen Gefühlen und kleinen Lebenslügen prägen das Erwachsenwerden dieser Comic-Figur. "Im ersten Album", erzählt Berberian, "ist Monsieur Jean eine Art ewiger Teenager, der gedankenlos in den Tag hineinlebt. Die einzelnen Episoden haben keinen Zusammenhang. Dann aber wird er sich langsam bewußt, daß er älter wird; die einzelnen Anekdoten werden dichter und universaler, sie beschäftigen sich mit seinem Innenleben und hängen zusammen."

Im dritten Band "Les Femmes et les Enfants d’abord", der 1994 erschien (und wie die ganze Reihe un-verständlicherweise bis heute keinen deutschen Verlag ge-funden hat), wird Monsieur Jean immer wieder vom selben Alptraum heimgesucht: Eine Frauen-Armee greift mit unlauteren Mitteln eine von unzähligen Jean-Inkarnationen verteidigte Burg an - die Frauen bombardieren die stolze Feste mit Säuglingen. Völlig überfordert wehren sich die wackeren Ritter, so gut sie können, und deshalb ist Jean nicht wirklich betrübt, als sein eruptives Techtelmechtel mit Manureva ebenso abrupt endet, wie es begonnen hat (sie hatte ja auch einen zu doofen Musikgeschmack). In diesem Album haben Dupuy und Berberian die einzelnen Episoden - Jeans Probleme mit dem Mietvertrag, einem depressiven Nachbarn, der Concierge, dem Schreiben und seinem Freund Felix, der sich mit Eugène, dem Sohn seiner Ex-Freundin, bei ihm einnistet - zu einer albenlangen Geschichte verdichtet, die in den Wochenendausflug aufs Land mit Jacques und Véro mündet, wo er unverhofft seiner Jugendliebe Cathy begegnet. Das Album schließt mit der leidigen Frage seiner Mutter, Jean hüllt sich in Schweigen - er mag nicht eingestehen, daß der blinde König Jean aus seinem Alptraum kurz zuvor befohlen hat, die Zugbrücke niederzufahren, um Cathy Einlaß in sein Herz zu gewähren … houll.jpg (15938 Byte)
Der Stil von Dupuy und Berberian ist von ebenso betörender wie moderner Eleganz. Sie bemühen sich zwar nicht, ihre Vorliebe für die zeitlos gealterten Dinge der letzten Jahrzehnte, Möbel und Musik beispielsweise, zu verheimlichen, doch geben sie, im Gegensatz zu den meisten Ligne-Claire-Zeichnern nach Hergé, nie der Versuchung no-stalgischer Verklärung nach. Wie Monsieur Jean leben sie im Paris der neunziger Jahre, und ihr Strich fängt das Lebensgefühl und das Ambiente von städtischen Mitdreißigern ein. "Wir zeichnen, um zu erzählen", erklärt Berberian. "Deshalb verändert sich unser Stil von Album zu Album: Anfänglich erlebte Monsieur Jean leichte und heitere Anekdoten, doch als seine Persönlichkeit reifer wurde, schlug sich das in unseren Bildern nieder."  Dupuy: "Monsieur Jean wird ja älter, und mit ihm entwickelt sich auch unser Stil. Mit unseren Zeichnungen wollen wir Geschichten erzählen, und der Stil muß in ihrem Dienst stehen."

Von der Arbeitsweise, alles gemeinsam zu ma-chen, sind Dupuy/Berberian nur einmal abgewichen - im "Journal d’un Album". In diesem Tagebuch schildert jeder der beiden Anekdoten und Ereignisse rund um die Entstehung von "Les Femmes et les Enfants d’abord." Dieses kleinformatige, aber dicke schwarzweiße Buch, das bei der Association erschienen ist, wirft, so Dupuy, "ein neues Licht auf Monsieur Jean , und der Leser kann die Beziehungen zwischen uns und unserer Figur entdecken." Dabei entpuppt sich Berberian als hinreißend selbstironischer Chronist seiner Unzulänglichkeiten, während Dupuy seine Lebens- und Beziehungskrise mit schwarzem, bisweilen bitterem Humor verbrämt.

Wer erwartet hat, Monsieur Jean würde möglichst rasch mit Cathy zusammenziehen, wird in "Vivons heureux sans en avoir l’air", dem neusten Album, vorläufig enttäuscht - aus Angst vor den Konsequenzen einer echten Beziehung ringt Monsieur Jean um seine Unabhängigkeit als Junggeselle. "Die Phase, in der man beschließt, mit je-mandem zusammenzuleben", sagt Berberian mit der Miene dessen, der weiß, wovon er spricht, "steckt voller Komik. Man zögert und zweifelt, man befürchtet, einen Riesenfehler zu begehen, und wegen seines unentschlossenen Charakters erlebt Monsieur Jean diesen Moment auf eine sehr extreme Art und Weise. Er muß erst lernen, sich einem an-deren Menschen gegenüber zu verpflichten. Auf den Spaß, dieses emotionale Hin und Her zu schildern, wollten wir nicht verzichten."
Cathy hat genug von Jeans Zaudern. Sie zieht die Konsequenzen und nimmt einen Job in New York an. So habe er  Zeit, teilt sie ihm in ihrem Lieblingslokal, einem Japaner, bei Sashimi und Chirachi mit, sich zu überlegen, was er wirklich will. Einerseits ist Jean durchaus niedergeschlagen und auch eifersüchtig, andererseits aber gar nicht so unglücklich. Endlich, glaubt er, wird er die Muße finden, seinen neuen Roman zu vollenden. Weit gefehlt: Der arbeitslose Felix und sein Stiefsohn hausen noch immer in seiner Wohnung, und es ist Jean, der sich mehrheitlich um Eugène kümmern muß; Jacques und Véro sind im Begriff, sich trotz (oder wegen) ihrer Zwillinge zu trennen; die Concierge erpreßt ihn mit einer Unterschriftensammlung … - und spätestens während der (bereits zweiten) Hochzeit zweier Schulkameraden, an der die anfänglich nostalgischen Schwärmereien bald sauer und bitter werden, dämmert Jean, daß er wohl im Begriff ist, einen Riesenfehler zu machen. Charles Berberian und Philippe Dupuy sind begnadete Be-obachter, sie schaffen es, Stimmungen und Gefühle und selbst Hintergedanken mit wenigen Strichen heraufzubeschwören und die vielen kleinen Alltagsszenen zur großen, wahren Geschichte eines Mitdreißigers zu verweben, der glücklicherweise noch rechtzeitig einsieht, daß sein Festklammern an seine längst verflossene Jugend lächerlich ist - und nach New York fliegt.

"Das Witzigste ist aber", lacht Dupuy, "daß Charles und ich Monsieur Jean gegenüber dasselbe Hin und Her durchgemacht haben. Wir haben endlos gezögert und gezweifelt - aus Angst, er würde sich, falls er sich für Cathy entschließt, zu sehr verändern." - Berberian: "Andererseits hätten es unsere Freundinnen uns übelgenommen, wenn sich Jean gegen die Beziehung mit Cathy entschieden hätte …" - Dupuy: "Das Verhältnis von Realität und Fiktion ist in diesem Fall sehr kompliziert. ‘Was ist denn los, Philippe,’ hätte meine Freundin bestimmt gefragt, ‘bereust Du es etwa, mit mir zusammenzusein?’"
 

BIBLIOGRAPHIE

"Monsieur Jean, l’Amour, la Concierge" (1991), "Les Nuits les plus blanches" (1992), "Les Femmes et les Enfants d’abord" (1994), "Vivons Heureux sans en avoir l’air" (1998) - alle Humanoides Associés, Genf. "Journal d’un album" (Association, Paris). "New York Carnets"
- Cornélius, Paris.

Letzte Änderungen: 24.08.2006
Produziert von
Peter Pötsch