Nr. 9 / Dezember 1998

















Gästebuch


Zwischen Schönheit und Grausamkeit der Bilder

Neue Experimental-Filme und -Videos

Von Johannes C. Tritschler

Auch wenn es nach wie vor kaum Abspielstätten gibt, die es wagen, ihr Publikum mit den faszinierenden oder aufwühlenden Bildern und Inhalten experimenteller Filme und Videos zu konfrontieren, ist die Experimentierfreudigkeit avantgardistischer Medienschaffender ungebrochen. Ihre Öffentlichkeit finden sie zumeist nur auf Festivals wie dem European Media Art Festival Osnabrück, der VIPER in Luzern oder den Internationalen Kurzfilmtagen von Oberhausen - Festivals, die auch ungewöhnlichen und nicht immer leicht konsumierbaren Werken ein Forum bieten. Einige der aktuellen Produktionen sollen hier vorgestellt werden.

Schöne Bilder

virtue.jpg (18915 Byte)In ihrer Schönheit bis zum bewußten Kitsch übersteigerte Bilder präsentiert der Belgier Bavo Defurne in "Matroos (Sailor)". Es ist eine kleine Schwulengeschichte um einen Teenager, der von seinem Freund, einem Seemann, von exotischen Ländern und dem gemeinsamen Sternenhimmel träumt. Sehnsüchte und Befürchtungen tauchen auf, während der Freund auf Großer Fahrt ist. Die Ikonographie schwuler Mythen erinnert an Vorläufer wie Jean Genet, der den klassischen schwulen Seemannsroman, "Querelle", geschrieben hat und der von Rainer Werner Fassbinder für das Kommerzkino verfilmt worden ist, oder an den amerikanischen Undergroundfilmer Kenneth Anger, dessen "Fireworks" (1947) ebenfalls die Welt der Matrosen als Folie nutzte. "Matroos" bietet zwar keine neuen Sichtweisen, doch sind seine Bilder mit solcher Opulenz gestaltet, daß sie in ihrer übertriebenen Kitschigkeit einen ganz eigenen, träumerischen Reiz entfalten. Damit lehnen sich die Filmbilder an die Bildinszenierungen des Künstlerpaares Pierre et Gilles an. Gerade im Vergleich mit deren Arbeiten hätte man sich von Defurne jedoch gewünscht, daß er seine Inszenierung und seine Bilder noch einen Tick mehr übersteigert hätte, um das zwiespältige Vergnügen am Kitsch wirklich auf die Spitze zu treiben.

Alte Bilder

Kitsch ist für viele ein Synonym für den klassischen Hollywood-Film - und spätestens seit "Titanic" nicht nur für das alte Holly-wood. Dieses knöpft sich der Österreicher Martin Arnold in seinem Found-Footage-Film "Alone. Life Wastes Andy Hardy" vor. Andy Hardy war die Hauptfigur einer überaus erfolgreichen Familienserie der Jahre 1937 bis 1947, in der Mickey Rooney den überschwenglichen Teenager verkörperte. Arnold benutzt kurze, ursprünglich nur wenige Sekunden lange Ausschnitte aus diesem Serial und seziert diese. Durch Verlangsamung, Wiederholung und Rhythmisierung der Einzelbilder entwickelt sich aus dem alten Bildmaterial eine neue Szene. Diese hat nicht nur einen ganz eigenen formalästhetischen Reiz, sondern öffnet auch den Blick für zunächst nur unterschwellig vorhandene Inhalte. So legt z.B. die in Vibration versetzte Hand des Sohnes auf der Schulter seiner Mutter plötzlich ödipales Begehren offen, das in der herzigen Heile-Welt-Atmosphäre zu vermuten, aber nicht zu sehen war. Wie grandios Martin Arnold sein "gefundenes" Material beherrscht, beweist er auch damit, daß er den Originalton miteinbezieht. Dies ist keineswegs selbstverständlich, wird die Neugestaltung doch umso komplizierter, wenn Bild und Ton berücksichtigt werden müssen. Bei Arnold wird der Gesang von Judy Garland - ein weiterer Hollywood-Kinderstar, der in der Hardy-Family-Serie frühe Erfolge feierte - ebenso gnadenlos auseinandergenommen wie die Bilder. Und plötzlich ist auch die Qual hinter der gespielten Fröhlichkeit zu hören. Völlig zu Recht wurde "Alone. Life Wastes Andy Hardy" mit dem Großen Preis der Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen ausgezeichnet.

blut.jpg (10083 Byte)Weit weniger ausgefeilt als Martin Arnolds Kleinod ist "Robert Mitchum" des Briten David Priestman. Auch er benutzt Fremdmaterial und zwar aus dem Film "The Night of the Hunter". Diese einzige Regiearbeit des Schauspielers Charles Laughton aus dem Jahre 1955 ist selbst ein sehr eigenwilliger Hollywoodfilm, in dem Robert Mitchum einen habgierigen Prediger spielt, der auch vor Mord nicht zurückschreckt. Priestman wählt einzelne markante Szenen aus, montiert sie neu und läßt im Hintergrund einen schaurig-schönen Song von Julien Cope über Robert Mitchum erklingen. "Robert Mitchum" ist nicht besonders innovativ, aber es ist ein unterhaltsames kleines Video, bei dem man für ein paar Minuten in der Welt des klassischen Hollywood-Films schwelgen kann, ohne sich von dieser ganz vereinnahmen zu lassen.

"Grausame" Bilder

Sowohl Fremdmaterial als auch selbst inszenierte Szenen verwendet der Berliner Jürgen Brüning in "Blut". Und er tut gut daran, durch diesen formalen Kniff die beiden inhaltlichen Ebenen seines Videos zu trennen. Mit von ihm gewohnter Radikalität beschäftigt sich Brüning mit dem Tod, dem "zufälligen" und dem geplanten. Auf der einen Seite steht die persönlich geprägte Schilderung des Sterbens einer drogensüchtigen, jungen Frau, auf der anderen der herbeigesehnte oder auch nur phantasierte Tod innerhalb einer sadomasochistischen Beziehung. Im ersten Fall hört man aus dem Off die eindrückliche Erzählung einer Frau, die die letzten Tage der Drogensüchtigen miterlebt hat. Die Bilder, die die Erzählung begleiten, sind zurückgenommen und zeigen ausschließlich Aufnahmen in einem abgeschlossenen Raum. In ihm bewegt sich stellvertretend und mit reduziertem Spiel eine nackte, junge Frau (Bridge Markland). Das Gesagte wird nicht einfach bildlich dargestellt, weil es in seiner Tragweite auch gar nicht darstellbar ist, sondern fordert die Assoziationen des Zuschauers heraus, was die Situation aber nicht weniger grausam macht. Nicht inszeniert, sondern mit Szenen aus einem japanischen Pornofilm bebildert wird der Briefwechsel zweier Männer, deren Beziehung mit dem gewaltsamen, aber freiwilligen Tod des einen endet. Mit "Blut" gelingt es Brüning zwei Formen von Todessehnsucht zu dokumentieren. Das selbstzerstörerische Leben im Bannkreis der Droge und die sexuelle Obsession, die erst im Tod ihren erlösenden Höhepunkt findet. Beide Lebensgeschichten wirken nach und ihre parallele Darstellung sorgt für kontroverse Diskussionen, inwieweit diese Verquickung überhaupt erlaubt ist. So zwingt Brüning aber den Zuschauer, Stellung zu beziehen, wie selbstbestimmt er seinen eigenen Abgang aus dieser Welt wünscht. quay.jpg (11072 Byte)

Fröhliche Bilder

Locker-leicht wirkt dagegen Stephan Sachs’ neuer Film "Quay Landing". Beschränkt auf weniges, unspektakuläres Bildmaterial präsentiert Sachs eine filmische Tüftelarbeit. Eingestimmt durch die zeitlupenhafte Beobachtung zweier "lebender Schaufensterpuppen" nimmt sich Sachs das Schaulaufen auf einer Strandpromenade vor. Einzelne, kurze Szenen des Strandlebens von Venice sind aus der immergleichen Kameraperspektive aufgenommen, werden mehrfach wiederholt und gegeneinander geschnitten. So entwickelt sich ein eigentümliches Panoptikum, ehe eine letzte Einstellung - am Strand, bei Sonnenuntergang - den ironischen Schlußkommentar liefert. "Quay Landing" ist ein Paradebeispiel für filmischen Schnitt, sowohl auf der Bild-, als auch auf der Tonebene. Sachs unterlegt seine Szenen mit wenigen Takten populärer Musik, die ebenfalls mehrfach wiederholt werden und sorgfältigst zum Bildmaterial montiert sind. Man darf raten, von wem die eindrücklichen Schnipsel stammen - und wird kaum auf die wundervolle Kombination von Lou Reed und Frank Sinatra kommen. Was technisch so überzeugend gestaltet ist, gibt dem Film seine Leichtigkeit und ist ein wahrhaft ästhetischer Genuß. Auf der inhaltlichen Ebene ist "Quay Landing" die Auseinandersetzung mit dem Sehen und Gesehenwerden - was nicht zuletzt auch die beiden Pole von Zuschauer und Film sind.

Zerstörte Bilder

matroos.jpg (7498 Byte)Ziemlich radikal macht sich Lawrence F. Brose über seine Bilder her. In seinem Film "De Profundis" setzt er den Zuschauer einem visuellen Feuerwerk aus, dem viele allerdings nicht gewachsen scheinen, wenn sich der Kinosaal im Lauf der einstündigen Dauer immer weiter leert. Zwar sind die formalen Mittel, denen Brose sein Bildmaterial unterwirft nicht neu, aber überaus gekonnt angewendet.

Mit handentwickelten Szenen, der Verwendung von Negativaufnahmen und einer permanent Unruhe ausstrahlenden Einfärbung der Bilder, kommt der Zuschauer gar nicht in Versuchung, sich davon tragen zu lassen, sondern muß sich ständig der Bilderflut stellen. Inspiriert von Oscar Wildes im Gefängnis entstandener Schrift "De profundis" spiegelt Brose Schein und Sein homosexuellen Lebens. Spielerische Szenen mit Matrosen, die auf einer Yacht zeigen was sie haben, ein Blow Job, Szenen hinter Gittern, das mystische Spiel mit Masken und Travestie-Spiele präsentieren spotlighthaft einen Blick auf schwules Treiben. Unkonventionell warnt Brose vor einer überhandnehmenden Sehnsucht nach "Normalität", die die eigene Identität sowohl in künstlerischem, als auch in sexuellem Sinne erneut einschränkt. Ebenso wie die Bilder für Vielfalt und Differenzierung plädieren, setzen sich auch die Töne vom Gewohnten ab. In der ebenfalls von Oscar Wilde inspirierten Musik des Komponisten Frederic Rzewski hat Brose das akustische Äquivalent zu seinen eigenwilligen Bildern gefunden. "De Profundis" ist einer der beeindruckendsten Experimentalfilme, die in der letzten Zeit entstanden sind.

Virtuelle Bilder

Die Arbeit der Avantgarde ist immer auch die Beschäftigung mit zeitgenössischen Themen der Gesellschaft. Einem solchen hat sich die amerikanische Filmemacherin, die sich Camera Obscura nennt, angenommen. Ihr experimenteller Spielfilm "Virtue" beschäftigt sich mit der Flucht in die virtuelle Realität. Im Mittelpunkt steht eine junge Frau, deren Liebhaber nach dem Geschlechtsakt verstorben ist. Um sich aus ihrer Frustration zu befreien, setzt sie eine Cyberspace-Brille auf, die ihr eine andere Welt vorgaukelt. Diese muß jedoch mit neuen Chips bestückt werden, was die Protagonistin in die eigentümliche Welt der Dealer virtueller Realitäten führt. Konsequenterweise sind die Spielszenen in Schwarzweiß gehalten, während sich die schöne neue Welt virtueller Sinneseindrücke in Farbaufnahmen entfaltet. Camera Obscura entwickelt hier mit sparsam, aber sehr überlegt eingesetzten formalen Mitteln eine Geschichte, die den Zuschauer in die Auseinandersetzung zwischen gelebter und virtueller Realität zwingt.

Letzte Änderungen: 24.08.2006
Produziert von
Peter Pötsch