Zwischen Schönheit
und Grausamkeit der Bilder
Neue Experimental-Filme
und -Videos
Von
Johannes C. Tritschler
Auch wenn es
nach wie vor kaum Abspielstätten gibt, die es wagen, ihr Publikum
mit den faszinierenden oder aufwühlenden Bildern und Inhalten experimenteller
Filme und Videos zu konfrontieren, ist die Experimentierfreudigkeit
avantgardistischer Medienschaffender ungebrochen. Ihre Öffentlichkeit
finden sie zumeist nur auf Festivals wie dem European Media Art
Festival Osnabrück, der VIPER in Luzern oder den Internationalen
Kurzfilmtagen von Oberhausen - Festivals, die auch ungewöhnlichen
und nicht immer leicht konsumierbaren Werken ein Forum bieten. Einige
der aktuellen Produktionen sollen hier vorgestellt werden.
Schöne Bilder
In
ihrer Schönheit bis zum bewußten Kitsch übersteigerte Bilder präsentiert
der Belgier Bavo Defurne in "Matroos (Sailor)". Es ist
eine kleine Schwulengeschichte um einen Teenager, der von seinem
Freund, einem Seemann, von exotischen Ländern und dem gemeinsamen
Sternenhimmel träumt. Sehnsüchte und Befürchtungen tauchen auf,
während der Freund auf Großer Fahrt ist. Die Ikonographie schwuler
Mythen erinnert an Vorläufer wie Jean Genet, der den klassischen
schwulen Seemannsroman, "Querelle", geschrieben hat und
der von Rainer Werner Fassbinder für das Kommerzkino verfilmt worden
ist, oder an den amerikanischen Undergroundfilmer Kenneth Anger,
dessen "Fireworks" (1947) ebenfalls die Welt der Matrosen
als Folie nutzte. "Matroos" bietet zwar keine neuen Sichtweisen,
doch sind seine Bilder mit solcher Opulenz gestaltet, daß sie in
ihrer übertriebenen Kitschigkeit einen ganz eigenen, träumerischen
Reiz entfalten. Damit lehnen sich die Filmbilder an die Bildinszenierungen
des Künstlerpaares Pierre et Gilles an. Gerade im Vergleich mit
deren Arbeiten hätte man sich von Defurne jedoch gewünscht, daß
er seine Inszenierung und seine Bilder noch einen Tick mehr übersteigert
hätte, um das zwiespältige Vergnügen am Kitsch wirklich auf die
Spitze zu treiben.
Alte Bilder
Kitsch ist für
viele ein Synonym für den klassischen Hollywood-Film - und spätestens
seit "Titanic" nicht nur für das alte Holly-wood. Dieses
knöpft sich der Österreicher Martin Arnold in seinem Found-Footage-Film
"Alone. Life Wastes Andy Hardy" vor. Andy Hardy war die
Hauptfigur einer überaus erfolgreichen Familienserie der Jahre 1937
bis 1947, in der Mickey Rooney den überschwenglichen Teenager verkörperte.
Arnold benutzt kurze, ursprünglich nur wenige Sekunden lange Ausschnitte
aus diesem Serial und seziert diese. Durch Verlangsamung, Wiederholung
und Rhythmisierung der Einzelbilder entwickelt sich aus dem alten
Bildmaterial eine neue Szene. Diese hat nicht nur einen ganz eigenen
formalästhetischen Reiz, sondern öffnet auch den Blick für zunächst
nur unterschwellig vorhandene Inhalte. So legt z.B. die in Vibration
versetzte Hand des Sohnes auf der Schulter seiner Mutter plötzlich
ödipales Begehren offen, das in der herzigen Heile-Welt-Atmosphäre
zu vermuten, aber nicht zu sehen war. Wie grandios Martin Arnold
sein "gefundenes" Material beherrscht, beweist er auch
damit, daß er den Originalton miteinbezieht. Dies ist keineswegs
selbstverständlich, wird die Neugestaltung doch umso komplizierter,
wenn Bild und Ton berücksichtigt werden müssen. Bei Arnold wird
der Gesang von Judy Garland - ein weiterer Hollywood-Kinderstar,
der in der Hardy-Family-Serie frühe Erfolge feierte - ebenso gnadenlos
auseinandergenommen wie die Bilder. Und plötzlich ist auch die Qual
hinter der gespielten Fröhlichkeit zu hören. Völlig zu Recht wurde
"Alone. Life Wastes Andy Hardy" mit dem Großen Preis der
Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen ausgezeichnet.
Weit
weniger ausgefeilt als Martin Arnolds Kleinod ist "Robert Mitchum"
des Briten David Priestman. Auch er benutzt Fremdmaterial und zwar
aus dem Film "The Night of the Hunter". Diese einzige
Regiearbeit des Schauspielers Charles Laughton aus dem Jahre 1955
ist selbst ein sehr eigenwilliger Hollywoodfilm, in dem Robert Mitchum
einen habgierigen Prediger spielt, der auch vor Mord nicht zurückschreckt.
Priestman wählt einzelne markante Szenen aus, montiert sie neu und
läßt im Hintergrund einen schaurig-schönen Song von Julien Cope
über Robert Mitchum erklingen. "Robert Mitchum" ist nicht
besonders innovativ, aber es ist ein unterhaltsames kleines Video,
bei dem man für ein paar Minuten in der Welt des klassischen Hollywood-Films
schwelgen kann, ohne sich von dieser ganz vereinnahmen zu lassen.
"Grausame"
Bilder
Sowohl Fremdmaterial
als auch selbst inszenierte Szenen verwendet der Berliner Jürgen
Brüning in "Blut". Und er tut gut daran, durch diesen
formalen Kniff die beiden inhaltlichen Ebenen seines Videos zu trennen.
Mit von ihm gewohnter Radikalität beschäftigt sich Brüning mit dem
Tod, dem "zufälligen" und dem geplanten. Auf der einen
Seite steht die persönlich geprägte Schilderung des Sterbens einer
drogensüchtigen, jungen Frau, auf der anderen der herbeigesehnte
oder auch nur phantasierte Tod innerhalb einer sadomasochistischen
Beziehung. Im ersten Fall hört man aus dem Off die eindrückliche
Erzählung einer Frau, die die letzten Tage der Drogensüchtigen miterlebt
hat. Die Bilder, die die Erzählung begleiten, sind zurückgenommen
und zeigen ausschließlich Aufnahmen in einem abgeschlossenen Raum.
In ihm bewegt sich stellvertretend und mit reduziertem Spiel eine
nackte, junge Frau (Bridge Markland). Das Gesagte wird nicht einfach
bildlich dargestellt, weil es in seiner Tragweite auch gar nicht
darstellbar ist, sondern fordert die Assoziationen des Zuschauers
heraus, was die Situation aber nicht weniger grausam macht. Nicht
inszeniert, sondern mit Szenen aus einem japanischen Pornofilm bebildert
wird der Briefwechsel zweier Männer, deren Beziehung mit dem gewaltsamen,
aber freiwilligen Tod des einen endet. Mit "Blut" gelingt
es Brüning zwei Formen von Todessehnsucht zu dokumentieren. Das
selbstzerstörerische Leben im Bannkreis der Droge und die sexuelle
Obsession, die erst im Tod ihren erlösenden Höhepunkt findet. Beide
Lebensgeschichten wirken nach und ihre parallele Darstellung sorgt
für kontroverse Diskussionen, inwieweit diese Verquickung überhaupt
erlaubt ist. So zwingt Brüning aber den Zuschauer, Stellung zu beziehen,
wie selbstbestimmt er seinen eigenen Abgang aus dieser Welt wünscht.
Fröhliche Bilder
Locker-leicht
wirkt dagegen Stephan Sachs’ neuer Film "Quay Landing".
Beschränkt auf weniges, unspektakuläres Bildmaterial präsentiert
Sachs eine filmische Tüftelarbeit. Eingestimmt durch die zeitlupenhafte
Beobachtung zweier "lebender Schaufensterpuppen" nimmt
sich Sachs das Schaulaufen auf einer Strandpromenade vor. Einzelne,
kurze Szenen des Strandlebens von Venice sind aus der immergleichen
Kameraperspektive aufgenommen, werden mehrfach wiederholt und gegeneinander
geschnitten. So entwickelt sich ein eigentümliches Panoptikum, ehe
eine letzte Einstellung - am Strand, bei Sonnenuntergang - den ironischen
Schlußkommentar liefert. "Quay Landing" ist ein Paradebeispiel
für filmischen Schnitt, sowohl auf der Bild-, als auch auf der Tonebene.
Sachs unterlegt seine Szenen mit wenigen Takten populärer Musik,
die ebenfalls mehrfach wiederholt werden und sorgfältigst zum Bildmaterial
montiert sind. Man darf raten, von wem die eindrücklichen Schnipsel
stammen - und wird kaum auf die wundervolle Kombination von Lou
Reed und Frank Sinatra kommen. Was technisch so überzeugend gestaltet
ist, gibt dem Film seine Leichtigkeit und ist ein wahrhaft ästhetischer
Genuß. Auf der inhaltlichen Ebene ist "Quay Landing"
die Auseinandersetzung mit dem Sehen und Gesehenwerden - was nicht
zuletzt auch die beiden Pole von Zuschauer und Film sind.
Zerstörte Bilder
Ziemlich
radikal macht sich Lawrence F. Brose über seine Bilder her. In seinem
Film "De Profundis" setzt er den Zuschauer einem visuellen
Feuerwerk aus, dem viele allerdings nicht gewachsen scheinen, wenn
sich der Kinosaal im Lauf der einstündigen Dauer immer weiter leert.
Zwar sind die formalen Mittel, denen Brose sein Bildmaterial unterwirft
nicht neu, aber überaus gekonnt angewendet.
Mit handentwickelten
Szenen, der Verwendung von Negativaufnahmen und einer permanent
Unruhe ausstrahlenden Einfärbung der Bilder, kommt der Zuschauer
gar nicht in Versuchung, sich davon tragen zu lassen, sondern muß
sich ständig der Bilderflut stellen. Inspiriert von Oscar Wildes
im Gefängnis entstandener Schrift "De profundis" spiegelt
Brose Schein und Sein homosexuellen Lebens. Spielerische Szenen
mit Matrosen, die auf einer Yacht zeigen was sie haben, ein Blow
Job, Szenen hinter Gittern, das mystische Spiel mit Masken und Travestie-Spiele
präsentieren spotlighthaft einen Blick auf schwules Treiben. Unkonventionell
warnt Brose vor einer überhandnehmenden Sehnsucht nach "Normalität",
die die eigene Identität sowohl in künstlerischem, als auch in sexuellem
Sinne erneut einschränkt. Ebenso wie die Bilder für Vielfalt und
Differenzierung plädieren, setzen sich auch die Töne vom Gewohnten
ab. In der ebenfalls von Oscar Wilde inspirierten Musik des Komponisten
Frederic Rzewski hat Brose das akustische Äquivalent zu seinen eigenwilligen
Bildern gefunden. "De Profundis" ist einer der beeindruckendsten
Experimentalfilme, die in der letzten Zeit entstanden sind.
Virtuelle Bilder
Die Arbeit der
Avantgarde ist immer auch die Beschäftigung mit zeitgenössischen
Themen der Gesellschaft. Einem solchen hat sich die amerikanische
Filmemacherin, die sich Camera Obscura nennt, angenommen. Ihr experimenteller
Spielfilm "Virtue" beschäftigt sich mit der Flucht in
die virtuelle Realität. Im Mittelpunkt steht eine junge Frau, deren
Liebhaber nach dem Geschlechtsakt verstorben ist. Um sich aus ihrer
Frustration zu befreien, setzt sie eine Cyberspace-Brille auf, die
ihr eine andere Welt vorgaukelt. Diese muß jedoch mit neuen Chips
bestückt werden, was die Protagonistin in die eigentümliche Welt
der Dealer virtueller Realitäten führt. Konsequenterweise sind die
Spielszenen in Schwarzweiß gehalten, während sich die schöne neue
Welt virtueller Sinneseindrücke in Farbaufnahmen entfaltet. Camera
Obscura entwickelt hier mit sparsam, aber sehr überlegt eingesetzten
formalen Mitteln eine Geschichte, die den Zuschauer in die Auseinandersetzung
zwischen gelebter und virtueller Realität zwingt. |