Nr. 9 / Dezember 1998

















Gästebuch


Heimelektro Ulm - Fortschrittliche Popmusik from in beat ween

Die Sterne stehen gut für Bernd Karner. LEESON traf den Labelmacher von Heimelektro Ulm, an einem Ort, der besser nicht gewählt werden konnte: Das Café Fortschritt ist kaum einen Steinwurf von den Heimelektro Headquarters entfernt und wahrscheinlich der beste Platz auf die Welt, um bei Kaffee und Kuchen ein sonntagnachmittägliches Interview zu führen.

von Markus Hablizel

Geht es um elektronische Musik, haben bestimmte Städte, Regionen oder Länder ihren spezifischen Klang. Zumindest wird das oft behauptet. Wenn man vom Köln-, Hamburg-, München- oder Wien-Sound spricht, scheint jeder zu wissen, was gemeint ist. Dies ist meistens direkt verbunden mit einem oder mehreren Labels, die den Klang nach außen transportieren, gleichzeitig aber auch sinnstiftend für das Innen sind. Also für die Produzenten, DJs, Schreiber und Rezipienten. Im günstigsten Fall hat dieser Klang einen oder mehrere soziale Orte, einen Club, ein Café oder eine Lounge. Der überwiegende Teil solcher Sounds wird immer noch in Metropolen hergestellt und konsumiert. Jetzt schreien einige Beflissene sicherlich Source/Heidelberg oder Payola/Weilheim. Gut, doch auch hier bestätigt die berühmte Ausnahme wohl die Regel. Wenn da nicht ...

...Ulm wäre.

buben.jpg (8517 Byte)Alles begann 1995 mit einer Radioshow bei Radio Free FM, Ulms nicht-kommerzieller Radiostation. Die Show wurde gehostet von Tobias Bezler und Bernd Karner, die bemüht waren, die Klammer elektronische Musik möglichst weit zu öffnen. Konkret bedeutete das, daß zwischen Oval, Aphex Twin, Jeff Mills und Liquid Sky immer noch genügend Platz für (noch) weniger populäre Ansätze blieb. Daß derartige Sendungen kaum ein Millionenpublikum erreichen, dürfte klar sein. Doch die, die zuhören, haben ein tiefergehendes Interesse. So auch hier. Alle Künstler, die heute auf Heimelektro Ulm veröffentlichen, stießen durch die Sendung auf Karner und Bezler.

Ein Jahr später konstituierte sich aus eben genannten Ressourcen die Bewegungsgruppe, die im Jazzkeller Sauschdall (ein studentisch geführter Club in Ulm) eine wöchentliche Clubnacht installierte. Ohne einen Anfall von Megalomanie darf behauptet werden, daß diese von 1996-98 existierende abendliche Ruhe ihresgleichen in Deutschland suchen mußte. Wöchentlich gab sich die Crème de la Crème europäischer und transatlantischer Elektronikschaffender die Klinke in die Hand. Die Bewegungsgruppe ließ nichts unversucht, auch noch den letzten Weirdo hinter seinem Sampler hervorzulocken. Wie die Legende besagt, habe sogar Richard James a.k.a. Aphex Twin mit einem Gastspiel geliebäugelt, zu dem es dann leider nicht gekommen ist. Kurz und gut: Man hatte Glamour für sich gepachtet. Dummerweise erkannte das Ulmer Publikum die Aura dieses Abends eher selten und die Musiker schraubten oft vor 40-50 Leuten an ihren Sequenzern. "Durch die Radioshow und die Clubnacht haben wir ziemlich viel gelernt. Erstens diese ganze organisatorische Sache und dann kamen natürlich die vielen Kontakte, die jetzt für Heimelektro sehr dienlich sind".

Parallel zur Präsentation dufter Künstler, begann man an eigenen Sachen zu basteln und stellte fest, daß man anderen Soundbastlern in nichts nachstand. Nachdem diese Ressourcen erkannt waren, gab es verstärkt Abende, an denen kein auswärtiger Gast zugegen war und man die eigenen Fähigkeiten präsentierte.

"Irgendwie war das die Geburt des Labels. Wir haben gesehen, daß wir viele Dinge genausogut machen, wie die Leute, die wir immer einladen. Warum also jemanden für einen Abend aus London einfliegen, wenn man den Platz auch selbst ganz gut ausfüllen kann." Gesagt, getan. Nach einigen Live-Events mit Leuten aus dem eigenen Umfeld gründete Karner das Label Heimelektro Ulm, auf dem schon bald eine erste, selbstgebrannte nichts Negatives. Im Gegensatz zu Großstädten hast du in Ulm viel mehr Freiraum Dinge zu tun, hier gibt es eben nicht soviel Konkurrenz. Außerdem ist das Publikum viel gemischter, so etwas wie eine feste Szene für das, was wir machen, gibt es nicht. Auch ein fester Club, der natürlich immer bestimmte Regeln und Verhaltensweisen nach sich ziehen würde, existiert nicht. Aus diesen ganzen Umständen ergab sich dann eben auch der Name des Labels: Heimelektro Ulm. Hier findet viel im privaten oder kleinen Rahmen statt."

Zur Zeit releasen auf dem Label drei Projekte, die aus vier Leuten bestehen: Scarcubem, Lupo Borax und Urban Soul Research. Hinzukommen noch der Labelchef selbst, als DJ und ein Zwei-Mann-Projekt namens Lleuchtmittel, das die Heimelektro-Live PAs mit ihren grandiosen Live-Visuals unterstützt. Auch außerhalb der Stadt an der Donau ist Heimelektro aktiv. Scarcubems und Lupo Borax’ Live-Gig im Mai in Hamburg erscheint auf TFSM/Superstition, sie remixen für eine Plattenmeister-Compilation und sind auf dem Zehnkampf-Popstar-Sampler vertreten. Außerdem bastelt Urban Soul Research gerade an einem Track für die CD eines Baseler Kunstprojektes. Desweiteren ist man live unterwegs, zwischen Helsinki und Neapel. Da geht einiges…

…music please!

heimele.jpg (16860 Byte)Wie also klingt Ulm, respektive Heimelektro Ulm? Antwort des einfachen Ulmer Volkes: "Gut klingt das." Diesem Urteil würde ich mich ohne jegliche Einschränkung anschließen. Das schöne an Heimelektro LP1 ist, daß sich die einzelnen Projekte klanglich extrem voneinander unterscheiden, aber auf LP-Länge nahezu symbiotisch miteinander verschmelzen, so-daß an keiner Stelle der Eindruck entsteht, hier werde vereint, was nicht zusammengehöre. Lupo Borax, der kaum elektronische Musik hört, verkittet im Er-öffnungsstück extrem skelettierte Beats mit Slideguitar-, Orgel-, Gesangs- und diversen anderen Samples zu einem Popsong (sic!), der nicht von dieser Welt zu sein scheint. Wo Lupo Borax sich in Zen oder der Kunst der perfekten Kombination von Samples übt, schaltet Urban Soul Research ein leistungsfähiges Elektronenmikroskop zwischen Klangquelle und Aufnahmemedium. Analyse statt Synthese. Hier wird Klang atomisiert und erst nach eingehender Un-tersuchung, mit viel Bewegungsfreiheit ausgestattet, wieder zusammengesetzt. Die Teilchen bewegen sich fortan von alleine und werden ihrerseits wieder zu Forschungsobjekten, diesmal für den Hörer. Selten war Klangforschung spannender. Für Scarcubem spielt (Film-) Sprache eine wichtige Rolle. Zwar wird mit derartigen Samples sehr sparsam umgegangen, doch könnte die Wirkung kaum effektvoller sein.

Ähnlich wie im Hip Hop scheinen (Film-) Zitate als Referenz an Werke zu funktionieren, die einen subjektiven Wert für die Produzenten besitzen. Zumindest könnte man dies aus der bewußten Art und Weise herauslesen, wie Scarcubem mit diesen Samples umgehen. Wer jetzt an flächige 08/15 Blubber-Soundtrackvariationen denkt, liegt meilenweit daneben. Die meisten ihrer Stücke sind extrem tanzbar und haben einen immens niedrigen Artyness-Faktor. Die Beats ihrerseits sind kunstvoll aus allerbestem Material geschnitzt und ich bin der festen Überzeugung, daß es niemandem gelingen wird, nicht zu tanzen. Ein Tor, wer anderes dabei denkt.

Mein Eindruck, daß man bei Heimelektro Ulm nicht an extrem abseitigem, schwer zugänglichem Sound arbeitet, wird von Bernd Karner gern bestätigt: "Wir sind ein Poplabel, nenn’ es freie Popmusik." Der Meinung bin ich auch.

Nachtrag:
Geschichten, die das Leben schrieb: Da sitzt man mit seinem Lebensabschnittsmitbewohner bei Kerzenschein, Grießbrei und Weißbier in der nächtlichen Küche und hört den zweiten Heimelektro-Demosampler. Track Nummer elf reißt einen zu so Bemerkungen hin, wie: "Geiles Stück". Das Stück antwortet und eine zarte Computerstimme sagt "Fuck me".

Wer will der kann:
Kontakt Heimelektro Ulm
Bernd Karner
fax ++49.40.3603111040
e-mail heimelektr@aol.com

Letzte Änderungen: 24.08.2006
Produziert von
Peter Pötsch