Nr. 9 / Dezember 1998

















Gästebuch


Die kleine Jazz-Ecke

Von Axel Bußmer

(ab) Joe Zawinul - "World Tour"
Live-CD (Escapade)

Fusion, verstanden als das Verschmelzen unterschiedlicher Stile (so war’s Anfang der Siebziger mal gemeint), kredenzt auch der ehemalige "Oregon"-Percussionist und John McLaughlin-Partner Trilok Gurtu. Heute wird’s meist Worldjazz genannt. Auf seiner neuesten CD "Kathak" (Escapade) verknüpft der indische Perkussionist gewohnt souverän Rhythmen und Melodien aus seiner Heimat mit jazzigen Klängen. Gleichzeitig ist die CD, im Vergleich zu früheren Aufnahmen, sehr eingängig. Dies liegt hauptsächlich an der zugrunde liegenden Idee, Stücke für den Kathak (ein urbaner, hochentwickelter Tanzstil aus dem Norden Indiens) zu schreiben. Hier zeigt Bassist Kai Eckhart de Camargo, auch ein alter McLaughlin-Partner und beim "Vibe Tribe" natürlich wie so oft chronisch unterfordert, einiges von seinem Können (Kleiner Tip am Rande: Das Zusammenspiel McLaughlin/Eckhart/Gurtu ist kongenial auf "Live at the Royal Albert Hall" [JMT] und, allerdings nur auf zwei Stücken, "Que alegria" [Verve] dokumentiert).

Nette Fusion-Musik mit Ethno- und Funkeinschlag, gespielt von einem Haufen exzellenter Musiker (Bill Evans, Mitchel Forman, Kai Eckhardt de Camargo, undsoweiter) gibt es vom "Vibe Tribe", der Gruppe des Gitarristen Richard S. (eigentlich Schumacher) auf ihrem Zweitling "Foreign affairs" (Lipstick Records), der nahtlos an den groovenden Vorgänger anknüpft.

Belanglosen Popjazz kredenzt "Metro"-Gitarrist Chuck Loeb auf "The moon, the stars and the setting sun" (Lipstick). Da auf seinen Konzerten allerdings viele junge Menschen gesichtet wurden, verkauft sich das akustische Junk-Food sicherlich wie Sau. Schließlich ist auch die akustische Belanglosigkeit Kenny G. für einige ein ganz großer Jazzer.
And now to something completely different!

Direkt ins kommerzielle Ghetto steuert das "Zentralquartett" mit ihrem neuestem - (kurze Bedenkpause) - Meisterwerk "Careless love" (Intakt). Die vier DDR-Free-Jazzer Conrad Bauer (tb), Ulrich Gumpert (p), Ernst-Ludwig Petrowsky (sax, cl, fl) und Günter Sommer (dr, perc), inzwischen in Konstanz lebend, reagieren mit ihrer Musik auf die Freuden des Kapitalismus mit vielen derangierten Märschen, Free-Eruptionen und schrägen Bluesstücken. "Careless love" ist schon jetzt eine der CD’s des Jahres 1998 und der kongeniale Kommentar zur bundesrepublikanischen Wirklichkeit: dreckig, schmutzig, eklig und - bei genauerem Hören - von bestechender Schönheit. Kurz: Platte des Jahres!

Everybodys Darling Jim O’Rourke kann, wie sein Output und die zahlreichen Meldungen in den einschlägigen Zeitschriften zeigen, über Arbeitsmangel keineswegs klagen. "Weighting" (For4Ears), eingespielt mit Percussionist Günter Müller ist ein weiters Schmuckstück in seiner Diskographie. Mit ihren überwiegend ruhigen Improvisationen schließen die beiden an ihre erste auf CD dokumentierte Impro-Begegnung "Slow Motion" (ebenfalls For4Ears) nahtlos an. Elektrische Poesie halt.

Obwohl die Grundidee von "Earth Bound - Composition for Voice, Percussion and Electronics" (For4Ears) von Hermann Bühler sehr abstrakt und in ihrer Ausführung sehr elektronisch ist, stehen eindeutig die Stimme von Bonnie Barnett und das ruhige, kontemplative Percussionsspiel von Fredy Studer im Mittelpunkt. Genaugenommen ist die leicht meditative Soundarchitektur  "Earth Bound" ein 35-minütiges Feature für Studer, der mit wenigen Tönen einen maximalen Effekt erzielt.

Nicht sonderlich abstrakt, überhaupt nicht elektronisch, aber sehr abwechslungsreich und, im Vergleich zu anderen Aufnahmen der Saxophonistin Co Streiff, sehr eingängig ist "Am Berg" (Unit Records). Doch das verwundert auch nicht weiter. Schließlich spielte ihre ‘Ethno-Schrott’-Band Kadash hier nicht eine weitere Avantgarde-Jazz-CD ein, sondern untermalte einen Text des befreundeten Lyrikers Roland Heer. Er verarbeitete mit dem Text "bergfahrt - ein dramatisches gedicht", welches er für die CD überarbeitete, den Tod seines Freundes Kaspar. Kadash untermalte den zwischen Banalität, Absurdität, Groteske, Filmzitat und Sprachgewalt oszilliernden Text mit nicht minder beeindruckenden Klängen. Hier wird der Tod zu einem einzigen delyrischen B-Pcture mit billigen Posen, großen Gesten, Tod, Blut, Alpendramatik und einer special appereance von Reinhold Messner als "das Licht". Allerdings, wer jetzt an das schon etwas ältere "Watzmann"-Drama von Wolfgang Ambros (auch da ging’s um Berge und den Tod) denkt und begeistert zugreifen will, sollte vielleicht doch die Finger von "Kadash am Berg" lassen. Schließlich ist die CD dagegen ein einziger avantgardistischer Horrortrip.
Vipraphonist Florian Poser legte nach seinem letztjährigen gelungenem Brazilian Experience mit "Pacific Tales" (Acoustic Music Records) endlich wieder - nach fast einem halben Jahrzehnt - eine CD mit seiner regulären Gruppe (u. a. mit Saxophonist Martin Classen und "Dreiklang"-Bassist Martin Wind) vor. Posers höchst unterhaltsame Tales erinnern teilweise an die überaus erfolgreichen Blue Note-Funkjazz-Aufnahmen aus den Sechzigern. Aber auch Anklänge an den ECM-Jazz, Gary Burtons formidable Fusion-Bands aus den Siebzigern, etwas Latin, Gospel und Blues sind vorhanden.

Der junge deutsche Schlagzeuger Jochen Rückert (Jahrgang 1975 und, bis er die CD hörte, "Dreiklang"-Mitglied) mischt inzwischen die New Yorker Jazzszene auf. Daneben spielt er in Jungle-Projekten und bei der NYC-Punkband "Hoss" mit. Also definitiv ein Guter, der hohe Ansprüche an sich stellt. Deshalb ist sein Debüt "Introduction" (Jazzline/Alex Merck Music) auch keines der stupiden Drummer-will-auch-einmal-Bandleader-sein-Alben. Schließlich überlies Rückert das Komponieren anderen. Beispielsweise John Coltrane, Sonny Rollins, Dave Brubeck und Cole Porter. Auch lud er einige der interessantesten jungen Jazzer ins Studio ein: unter anderem Saxophonist Chris Potter und die Gitarristen Kurt Rosenwinkle und Ben Monder. Zusammen spielen sie allerfeinsten Modern Jazz, der die Errungenschaften des Free und Punk Jazz bewußt integriert und einem kräftigen Schlag hin zur Avantgarde hat.

Auch die "Septer Bourbons", die früher noch "Septer Bourbons Incredible Four" hießen und seit Januar 1993 ohne Besetzungswechsel existieren (was in Jazzjahren eine Ewigkeit ist!), spielen auf ihrer neuen CD "The Smile of the Honeycakehorse" (Jazzline/Alex Merck Musik) freier und selbstbewußter als auf ihrem im Selbstverlag erschienenem Erstling "Fishing for compliments". Es ist druckvoll gespielter zeitgenössischer Jazz, der sich nicht scheut eingängige Themen zwischen skandinavisch-folkloristischen und städtischen Idiomen kunstvoll zu verzieren. Dabei steht das Ensemblespiel gegenüber solistischen Aktivitäten eindeutig im Vordergrund.

Moderner Bigband-Jazz der Extraklasse präsentiert Pianist Joachim Raffel, Schüler von Bob Brookmeyer, auf seiner neuesten CD "Another Blue" (Acoustic Music Records). Dabei borgen die oft sehr bildhaften Themen sowohl vom Free- wie vom Latin-Jazz.

Der 1938 geborene Sopranist Perry Robinson veröffentlicht mit seinem Quartett (Simon Nabatov, p, acc, Ed Schuller, b, Ernst Bier, dr) mit "Angelology" (Timescrape Jazz) eine tadelose Modern Jazz-CD, die weitab von musikalischen Revolutionen ist. Aber wer hätte so etwas auch von einem Mann, der auf seiner neuesten Veröffentlichung auf von ihm geschriebene Kompositionen aus den Jahren 1962 und 1963 zurückgreift, fester Teil der damaligen Avantgarde war und in den vergangenen Jahren unter anderem mit Ray Anderson, Carla Bley, Archie Shepp und Allen Ginsberg spielte, ernsthaft erwartet? Jedenfalls hört man die Spielfreude des seit über einem Jahrzehnt zusammenspielenden Quartetts alter Hasen und genießt die Ausflüge in Bop, Free und Klezmer-Gefilde. "Angelology" ist nicht mehr und nicht weniger als eine höchst gelungene und abwechslungsreiche unprätentiöse Lehrstunde im dichten, zeitgenössischen Quartettspiel. Tja, the tradition continues...

Letzte Änderungen: 24.08.2006
Produziert von
Peter Pötsch