Nr. 11 / Februar 2000

















Gästebuch


In Kürze

[tb] Akkordeon, Piano, Gitarre, diverse Haushaltsgeräte, Tape-Recorder und menschliche Stimmen – das New Yorker Duo Music Tapes entführt auf seiner »1st Symphony For Nomad« [Merge/Cargo] in eine bizarre Klangwelt. Stücke wie »1st Imaginary Symphony By Vacuum Cleaner« oder »Song For The Death Of Parents« liegen irgendwo zwischen obskurem Lo-Fi und durchgeknalltem Frickel-Pop.

[mz] In einem musikalischen Land wilder, fetter Beats, Soundtrackanleihen und groovender Dance- und Soulversatzstücke wären Cuba alias Christopher Andrews und Ashley Bates mit ihrem Album »Leap of Faith« [4AD/Zomba] vielleicht Könige, zumindest aber Helden eines zwischen Electronic und Bandformat pendelnden Danceprojektes. Das mal so big-beat-lastig wie die Chemikal Brothers klingt, nur um sich an anderer Stelle so zärtlich wie Morcheeba in den Soul zu flüchten. Mit Kuba haben Cuba dabei wenig zu tun, sieht man einmal davon ab, dass einer der beiden Kanadier kubanischer Abstammung ist. »Leap of Face« – mit den Gastsängerinnen Shara Nelson, Angie Brown und Rachel Goswell entstanden – entwickelt seine Höhepunkte eigentlich immer ausgehend von atmosphärischen, instrumentalen Soundtrackimpressionen, die sich dann in der Folge immer tanzbarer gestalten. Anspieltips: »Devil’s Rock«, »Peak Flow«.

[tb] Den großen Hammer haben Consolidated auf ihrem neuen Album »Tikkun« [Clearspot/EfA] daheimgelassen. Aus dem heftigen Industrial-Alles-Andere-Crossover ist funklastiger, gemäßigter Kreuzüber geworden, mäßig spannend nur, aber auch nicht wirklich schlecht.

[mz] Was mit den beiden Samplern »BossaCucaNova« und »Brasil 2Mil« seinen Anfang nahm – die musikalische Reise durch die Styles der neuen Brazilian Szene – findet nun mit »Sao Paulo Confessions« von Suba und »Outro lado« von Zuco 103 [beide Crammed/EFA] seine Fortsetzung. Die schönen groovenden Bekenntnisse des in Sao Paulo ansässigen Produzenten Suba [u. a. Marina Lima, Bebel Gilberto, Arnaldo Antunes] geraten dabei zu einem Vermächtniswerk, ist doch der gebürtige Jugoslawe jüngst bei einem Brand in seinem Haus ums Leben gekommen. Grund genug noch einmal intensiver Hinzuhören auf die Vermischung von akustischen und elektronischen Klängen, von brasilianischen Einflüssen und modernen Elelctronic-Sounds, die Subas Beitrag bereits zu einem Höhepunkt auf den »Brasil 2Mil«-Sampler machten. Souliger und jazziger gestaltet sich der jüngste Output von Ziriguiboom, dem brasilianischen Unterlabel von Crammed Disc: Zuco 103. Zuco 103, das sind der Amsterdamer Drummer Stefan Kruger, der deutsche Keyboarder Stefan Schmid und die brasilianische Chanteuse Lilian Vieira, die auf ihrem Debütalbum Jazz, Bossa Nova, Funk und Drum & Bass mischen und immer dann spannend geraten, wenn sie ihr Jazzwurzeln zum Teufel schicken und statt dessen den Drum & Bass-Gehalt in den Vordergrund rücken.

[tb] »Downhill City« [Clearspot/EfA] ist ein neuer deutscher Film, dessen Soundtrack niemand Geringeres als die phänomenalen finnischen 22-Pistepirkko verbrochen haben. Kongenial gelingt es dem Trio Filmsounds mit dem typischen Pistepirkko-Grummel-Rock-Shuffle zu kombinieren. Gute Sache!

[fs] Minimal techno der feinsten Art, die fast noch Ikeda überloopt. Auf seiner Mini-CD »Pulse Beats« [Staalplaat] zelebriert Akira Yamamichi die hochfrequenten Impulsschläge im spannungsreichen Wechselspiel von Dauern und Tonhöhen, bis die Frequenz durch das Wahrnehmungsintervall hindurchschießt und sich im Nichts der Zeit verliert. Und dann wieder diese Impulse, die an das bekannte Spurrillenknacken erinnern und aufgetürmt zu einem durchdringlichen Beat die ganze organische Zerebralfläche elektrisieren. Was für eine Spannung, High Voltage.

[tb] Ex-Plan-Mitglied Moritz R hat ihn ausgegraben, die Ex-Plan-Kollegen Fenstermacher und Pyrolator machen es mit ihrem Label AtaTak möglich, dass die alte LP des Werbekonzeptionisten [er erfand die legendäre Afri-Cola-Werbung], Fotografen und Designers Charles Wilp, »Charles Wilp fotografiert Bunny« [AtaTak] erstmals auf CD erscheint. Wir hören Lounge-Core und Sixties-TV-Serien-Musik, Exotica und Hazlewood-Adaptionen, Barjazz und durchgeknallte Spoken-Word-Beiträge. Hübsch!

[tb] Jahrelang hatte der Australier Hugo Race immer ein wenig damit zu kämpfen, dass er wie eine kleine Version seines bekanteren Landsmannes Nick Cave geklungen hat. Spätestens seit »Valley Of Light« [96] hat Race seinen eigenen Stil gefunden. Wobei sein dunkler, reifer City-Blues auch wie bei Herrn Cave in die Abgründe der menschlichen Seele eintaucht, dabei vorwiegend Liebe und Verlust derselben thematisiert. Zuweilen erinnern die neuen Songs auf »Last Frontier« [Glitterhouse/TIS/eastwest] aber auch an R. L. Burnside und Tom Waits [»Ghosting In The City«]. Dass Hugo Race auch seine Jazz-Lektion gelernt hat, zeigt »Angels Watching Over«, ein potentieller Soundtrack zur Verfilmung eines James-Ellroy-Romans.

[mz] Eigentlich schon immer etwas ganz Schlimmes waren die 4AD-Helden Dead Can Dance. Um so erstaunlicher ist, dass das Dead-Can-Dance Gründungsmitglied Brendan Perry nun mit »Eye of the hunter« [4AD/Zomba] ein Solowerk vorgelegt hat, das man sich nicht sofort auf den Müllberg der Musikgeschichte wünscht. »Eye of the hunter« zeigt Perry als gereiften, melancholischen Songwriter, der in so jemanden wie Tim Buckley, von dem er »I must have been blind« covert, ein Vorbild und eine Inspirationsquelle sieht. Hätte er den unvermeidlichen Hall, der auf vielen Tonspuren Bombast schafft, beiseite gelassen, man würde das mit Gitarren, Mandoline, Bass, Schlagzeug und vielfältigen Streicherklängen eingespielte Album »Eye of the hunter« neben Buckley, Walker und den anderen Großen einordnen. So bleibt bei diesem eigentlich schönen Album ein merkwürdiger Beigeschmack.

[tb] Auch genervt vom Swing-Revival! Wie man sich Duke Ellingtons Musik annehmen kann, ohne die plumpe Nostalgie zu verbreiten – das zeigt das New Yorker Projekt Ballin’ The Jack mit seinem Album »Jungle« [Knitting Factory]. Dass der Zugang zum Swing hier ein eigener ist, dafür bürgt alleine, dass sich in den Reihen des Septetts u. a. Frank London, ansonsten Kopf der Neo-Klezmer-Band The Klezmatics befindet.

[tb] Mehr als ein Hauch Krautrocks wabert durch »Karoshi« [City Slang/EfA], wenn das amerikanische Quartett Salaryman »Thomas Jefferson Airplane« huldigt oder den »Strong Holder« macht. Post-Rock, Neo-Elektronik, groovenden Elektro-Rock-Funk und den erwähnten krautigen Rock verschmilzt die Band mit dem japanischen Namen [Salaryman steht für Angestellte] zum spannenden Gemisch. Eklektizistisch wie das Cover-Art-Work, das mit einem Yin-Yang-Symbol aufwartet, in das Dollarzeichen eingearbeitet sind.

[mz] Auch wieder mal ein Lebenszeichen gibt es von den amerikanischen Violent Femmes. »Viva Wisconscin« [Volgato/Zomba] nennen sie ihr Best-
of-Album, das in Form eines Livealbums daherkommt. Aufgenommen 1998 während einer Acoustic-Tour finden sich darauf die Hits der vergangenen 18 [!] Jahre, unplugged eingespielt und kein bisschen angestaubt. Den größten Teil nehmen dabei zurecht die wegweisenden ersten beiden Alben auf Slash-Records ein. Stücke wie »Hallowed Ground«, »Prove my Love« oder auch »Blister in the sun« und »Country death song« wirken auch heute noch so frisch wie am ersten Tag. Ende Februar 2000 soll übrigens mit »Freak Magnet« das erste Studioalbum seit fünf Jahren in den Läden stehen; im März gehen die Femmes auf ausgedehnte Tournee. Wir sind gespannt was Gordan Gano, Brian Ritchie und Guy Hoffman [der Victor deLorenzo-Ersatz] uns da servieren werden.

[tb] Hinter Antonelli Electr. verbirgt sich der Düsseldorfer Stefan Schwander, der seit fast 15 Jahren mit elektronischer Musik arbeitet, u.a. beim Düsseldorfer Label Atatak [Der Plan] veröffentlicht. Nach dem fulminanten Erstling »Peng Peng Baby« [1998] mit seinem minimalistischem Techno-Pop, bringt »Me, The Disco Machine« [Italic/EfA] nun einige Maxis sowie das brandneue Werk »Automatic Music« zusammen. Schwander, der nebenbei noch Möbel baut, gelingen feine Tracks zwischen Neo-Disco und Techno-House, Dub, Achtziger-Synthie und Ohrwurm-Pop. Anspieltips sind der Vocoder-Disco-Hit »I Don’t Want Nobody Else But You« und »Bohannon«, eine Hommage an den gleichnamigen Disco-König. Ein Album voller Hits!


[lind] »Musik aus der Dose« [Eigenvertrieb; phrox@ taktischklug.com] nennt der Ulmer Phrox sein selbstproduziertes Debüt, das die verschiedenen Möglichkeiten aktueller Tanzflur-Mucke intelligent durchdekliniert und sich keinesfalls ins »Elektropop«-Umfeld der Ulmer Heimelektriker ein-und unterordnen lässt. Plattenfirmen all around the world: Signt diesen Mann!

[tb] Früher war Jay Denham vor allem wegen seiner harten, kickenden Techno-Tracks bekannt. Seit der in Kalamazoo im US-Bundesstaat Michigan lebende DJ, Poducer und Labeleigentümer [Black Nation Label] beim Münchner Disko-B-Label veröffentlicht geht’s in Richtung harten Techno-Funk und Techno-Soul. So auch auf der »Synthesized Society« [Disko B/EfA], dem Nachfolgealbum seines 98er-Werkes »Escape To The Black Planet« wo der 34jährige auch erstmals mit vocals arbeitet und mit Tracks begeistert, die rocken und nicht nur im Club sondern auch im heimischen Player gute Dienste leisten sollten.

[fs] Was passiert, wenn man 12 Drucker per Anleitung kommunizieren lässt? Banale Büro-Technologie erwacht zum Leben und entwickelt ungewohnt rhythmische Performance-Atmosphäre, wie Penderecki schon 1962 [»Fluorescences«] wusste, als er mit einem Drucker seine Obertongewächse kolorierte. »The User« [Staalplaat] bietet neben einer charmanten kleinen »symphonie #1 for dot matrix printers« hierzu ein paar ASCII-Text-files zum Testen und Remixen. Keine Scheu, »The User« wartet auf Eure »new text files and/or sound recordings« at www.sat.qc.ca/the_user/ oder kontaktet per mail an: theuser@sat.qc.ca

[tb] Mit seiner [immer noch existierenden?] Band Mutter macht Max Müller eher heftige Musik. Solo hören wir da ganz andere Klänge vom gebürtigen Wolfsburger. Das sind dann manchmal fast schon Popsongs, was wir auf »Endlich tot« [What’s So Funny About/EfA], seinem zweiten Soloalbum hören. Wenn da nicht die, mal sperrigen, mal lustigen Instrumentals und Hörspielartiges wie »Das Vermächtnis« wären. Max Müller singt und greint von der Liebe, leidet an der Welt. Viele Stücke lassenen einen aber auch etwas ratlos zurück.

[mz] Lange ist es her, dass Frederick Barthelme, Steve Cunningham und Mayo Thomson sich kompositorischen Experimenten à la »The Parable of Arable Land« oder »Coconut Hotel« hingaben. »Hazel«, das letzte Lebenszeichen von Red Krayola aus dem Jahre 1996 featurte u.a. John McEntire, David Grubbs und Jim O’Rourke und war regelrecht entspannt poppig. Härtere Kost versteckt sich hinter »Fingerpainting« [Drag City/Cargo], dem jüngsten Red Krayola-Output, das sich unveröffentlichten Songs aus dem Jahre 1966 – und damit Red Crayola – zuwendet und diese ausgehend von den 90igern neu interpretiert und elektronisch anreichert.


[tb] Aus Boston kommt die Songwriterin mit dem schönen Namen Merrie Amsterburg. Ganz hübsch sind die Songs auf ihrem Debütalbum »Season Of Rain« [Zoe Records/EfA]. Mal sanft folky, mal etwas rockiger. Die Coverversion von »Walking On The Moon« [Police] hätt’s für meinen Geschmack freilich nicht gebraucht.

[tb] Wie bei Stereolab scheint auch bei den befreundeten High Llamas, dem Projekt von Sean O’Hagan zur Zeit ein wenig die Luft raus zu sein. Natürlich hören wir auch auf »Snowbug« [V 2/Zomba] wieder diese luftigen Popsongs zwischen Bacharach und Brian Wilson, brasilianischen Klängen, französischem Pop und Brit-Pop. Richtig spannend ist das im Moment leider nicht mehr.

[mz] Eine faszinierende Hör-Reise in die für europäische Augen und Ohren fremde Welt des Himalaya hat der französische Soundtrackkomponist Bruno Coulais mit seiner Arbeit »Himalaya – The Rearing of a chief« [Virgin] entworfen. Der gleichnamige Film von Eric Valli startete am 23.12.99 in den deutschen Kinos. Coulais gelingt es westliche Instrumente und Klänge mit einem Stück tibetischen Lebens in Einklang zu bringen, orchestral [Bulgarian Symphony Orchester] und zugleich doch kammermusikalisch schlicht, Klänge und Songs zu entwerfen, die von tibetanischen Künstlern wie Tsering Lodoe, Tensing-Phüntsock Tsalung oder Lama Gyurme zum Leben erweckt werden.

[tb] Wenn die Belgierin Elisabeth Esselink nicht als Solex Musik macht, führt sie zusammen mit ihrem Freund in Amsterdam einen Second-Hand-Plattenladen. »Pick Up« [Matador/Zomba] heißt das zweite Album von Solex, wo sie wie schon auf dem gefeierten Debüt »Solex vs. The Hitmeister« ziemlich durchgeknallte Popsongs spielt.

[tb] Die neue CD der Münchner Merricks, »Escape From Planet Munich« [Sub Up/EfA] ist schon etwas länger draußen. Weil das Album mit seinen Sounds zwischen Neo-Disco, Glam-Pop, perkussivem Rock ohne Gitarren und Pop zu schön ist, sei hier noch einmal kurz darauf hingewiesen. Leider ist die Merricks-Tour schon herum, wenn dieses LEESON erscheint. Live sind die Münchner inzwischen supergut geworden!

[tb] Der in München lebende Österreicher Hans Platzgumer ist immer für eine Überraschung gut. Nachdem er einst Kopf der Alternative-Rock-Band HP Zinker war, kennt man ihn seither als Mitglied der Goldenen Zitronen und als Electro-Wizzard mit Aura Anthropica, Seperator oder Fingerfood. Beim neuesten Projekt arbeitet er nun mit dem in München ansässigen japanischen Sänger CaMi Tokujiro zusammen. Das erste Album des Duos mit dem blumigen Namen Shinto [Der göttliche Weg] heißt »Liberal Bullshit« [Disko B/EfA] und bringt eine feine Syntheses aus diversen elektronischen Dance-Stilen und Pop mit japanischen Texten.

[tb] Mental Blox ist das Projekt des Kaliforniers Matt Haines, der u.a. als Remixer von Deejay Punk Rocs »Buster Speaker« aufgefallen ist. Auf seinem ersten Album »First On The Blox« [Airdog Recordings] zeigt Mental Blox was eine Electro-Harke ist. Gutes Album!

[tb] Dass beim englischen Songwriter Billy Bragg oft auch die B-Seiten besser sind als die A-Songs vieler bekannter Kollegen, belegt die Compilation »Reaching To The Converted« [Cooking Vinyl], auf der allerdings auch einige rare A-Seiten sind. Demnächst soll übrigens eine zweite Coproduktion mit den amerikanischen Wilco erscheinen, auf der wieder Woody-Guthrie-Songs gecovert werden. Wir sind gespannt!

[tb] Die norddeutsche Spaßguerilla aus dem Hause Plattenmeister tobt auf dem Sampler »Medikamentendose« [Plattenmeister/Indigo]. Blödel-Pop und Spaß-Rap, Pseudo-NDW und Dancefloor wie er auch sein kann. Ob Fischmob mit einer Schlumpf-Version von »Bullenschweine« oder Bio Bonsai, Kirmes, Ifa Wartburg oder Adolf Noise – eine ganz lustige Angelegenheit. Richtig klasse: Station 17 und DJ Koze mit »Lila Pause« – ist auch auf dem neuen Station-17-Album [siehe Extra-Kritik] zu finden.

[tb] Papa M ist eine Inkarnation des »Post-Rockers« David Pajo alias Aerial M, der auf »Live From A Shark Cage« [Domino/Zomba] seine instrumentalen Folk-Not-Folk-Rock-Not-Rock-Tracks unters Volk jubelt. Mit Banjo und Akustikgitarren, E-Gitarren und gesampeltem Elektrozeugs, Anrufbeantworter-Sprüchen und feinen Rhythmus-Pattern. Irgendwo zwischen Tortoise, Palace und Sam Prekop. Schöne Platte.

[tb] Das Londoner Label Soulciety hat mit seinen »Nuyorican«-Sampler die Sinne schon für die Latino-Musik New Yorks geschärft, die Berliner Piranhas legen nach: »Central Park Rumba« [Piranha/EfA] heißt ein Album des kubanisch-puertorikanischen Trommlers Eddie Bobe, der für seinen Multikulti-Rumba hier die Crème der New Yorker Latino-Szene um sich geschart hat.

[tb] »End Time« [Thrill Jockey] heißt das bereits sechste Album der Countryband Freakwater, einem wunderbaren Trio um die Eleventh-Dream-Day-Drummerin Janet Bean Beveridges. Zwölf klasse Songs des Songwriterinnen-Duos Beveridge und Catherine Ann Irwin, die sich hier auch beim Singen abwechseln. Klassisch mit Dobro, Pedal-Steel, Mandoline und Banjo instrumentiert, sorgt eine dreiköpfige String-Section sowie Gast-Drummer Steve Goulding [u.a. Mekons] für Erweiterung. Sicher eine der besten Freakwater-Platten.


[lind] Super! Schon in der letzten Ausgabe priesen wir das umfassende Engagement unseres ehemaligen Konstanzer Kumpels Multipara [jetzt: Berlin] als Mailingslisten-Host, Musiker und Plattenveröffentlicher: Bei allem Misstrauen gegen solche Konzepte. Hier artikuliert sich wirklich so etwas wie ein »elektronischer Underground« zwischen Kommunikation und community. Die neue lux-nigra-vinyl-EP »No Movement No Sound No Memories« [h0444rrf@rz.hu-berlin.de] bringt neben den üblichen Verdächtigen der biophilia-Mailingliste auch einen Remix des immer unerlässlicheren Berliner-Dub-Meisters Stefan Bethke aka Pole. Bestellen!

[tb] Brit-Pop-Fans, die sich gefragt haben, was denn wohl Pete Astor, einst Kopf der Weather Prophets, heute macht, sollten beim Album »Stars Of Super 8« [Matador/Zomba] des Duos The Wisdom Of Harry ein Ohr riskieren. Gemeinsam mit dem Kollegen David Sheppard bastelt Astor hier mit Sampler, Computern und Gitarren, hübsche kleine Popsongs, die es auch schon mal, wie im Falle von »Fragments Of Harris« zur Single der Woche im NME geschafft haben. Die CD sammelt die bisher erschienen Singles und EPs von The Wisdom Of Harry.

[tb] Die Lo-Fi-Flagge des Hauses K Records von Calvin Johnston [Labelchef und mit seinen Beat Happening einst »Miterfinder« der Lo-Fi-Geschichte] halten auch die Microphones auf »Don’t Wake Me Up« [KRecords/Cargo] hoch. Wobei der Mann hinter diesem Soloprojekt, Phil Elvrum [auch bekannt als Drummer der D+] ganze Gerätschaften ins heimische Wohnzimmer geschleppt hat und einen Sound veranstaltet, der viel zu mächtig für ein Soloprojekt ist. Auschecken!

[lind] Hurra! Endlich mal wieder was neues von unserem Ravensburger Kumpel Mellokat aka Christof Klaus. Der Drum-And-Bass-Mann mit dem großen Reggae-Herzen bringt uns auf seinem sub.version-Label die »Soundboy Haffi Run«-EP [subversionrec @hotmail.com] des Münchner Lions Den Sound Systems. Dahinter verbergen sich der legendäre BR-Radio-Mann Noe Noack und Hans Platzgumers Separator-Partner Albert Pöschl. Ungewöhnlich, harsch jenseits der Klischees und erstaunlich emanzipiert von englischen und jamaikanischen Vorbildern ... Hervorragend: das lässige »Give Me A Reason« mit der großartigen Lady Saw!

[tb] »Save Yourself« [K/EfA] heißt das neue Werk der amerikanischen Make Up, die hier wieder einmal im psychedelischen Garagen-Underground der 60s wühlen und auf eindrucksvolle Weise zeigen, dass Retro nicht nur verschnarcht sein muss [Lenny Kravitz & Co.] sondern auch Spaß machen kann. Sehr fein: die Live-Coverversion des Traditionals »Hey Joe«, dessen Original fälschlicherweise immer Herrn Hendrix zugeschrieben wird, das aber unser Held, der Crooner Tim Rose anno 1966 schon vor Hendrix eingespielt hat.


[tb] Eine feine Gitarrenarbeit und gelegentlich zwingende Melodien [klasse Stück: »Mesmerized«] zeichnet das Chicagoer Quartett Ether Frolics aus. »40 K« [Trocadero/TIS] heißt das Debüt der Band, die in besseren Momenten an die Replacements und Big Star erinnert.

[tb] Ein bisschen was von den amerikanischen They Might Be Giants bzw. Ween hat das Berliner Duo No Underground, das auf »Free Transform« [Noisolution/EfA] hemmungslosem Eklektizismus betreibt und uns einige nette, schräge Popsongs beschert, die im Falle des Ohrwurms »Love Machine« und des schön abgehangenen »City Boy« Hitcharakter haben.

[tb] Ein wenig »arty« klingt das, was das Quartett Das Weeth Experience auf seinem dritten Album »Aural Scenic Drive« [Strange Ways] veranstaltet. Das ist es dann wohl auch, was die Hanseaten von ihren im Info genannten Vorbildern Giant Sand, Calexico und Yo La Tengo unterscheidet. Ein Stück wie »Two Tracks« kommt zum Beispiel zu bedeutungsschwer daher. Das Instrumental »Slumberqueen« passt dann wieder besser.

[tb] Wenn Aki Kaurismäki für einen seiner Filme eine Fake-Rockabilly-Band benötigen würde, dann würde ich ihm das Freiburger Liquid Laughter Lounge Quartet empfehlen. Die Vier klingen auf ihrem feinen Debüt »Yonder Chickens...Get Lonely« [Ritchie Records/Cargo] als h«tten sie ihre Lektionen der Platten von Nick Cave und den Cramps, Johnny Cash und Gallon Drunk gelernt.

[tb] Aus der Posse des kalifornischen Quannum Labels stammen die Blackalicious, die schon seit mehr als zehn Jahren zusammenarbeiten. Auf ihrem Album »NIA« [Mo Wax/Connected] schrauben Gift Of Gab und Chief Xcel zusammen mit anderen Freunden aus der Quannum-Ecke den State Of The Art in Sachen Westcoast-Rap sehr hoch. Hitverdächtig: »Deception«

[tb] Volume 3 der feinen Reihe »Music For Modern Living« [Lounge Records/99 Distribution] bringt eine exquisite Mischung verschiedener Styles zusammen: Von Brasil-Pop über Latin und House bis zum Popklassiker. Echte Bringer dieses Samplers der Hamburger Lounge-Posse sind dabei »der Tiger« Tom Jones mit einer Coverversion des Sixties-Heulers der Shocking Blue »Venus«, Astrud Gilbertos »Let Go [Canto De Ossanho] sowie das famose, amüsante »Margaret Evening Fashion« der Berliner Easy-Listening-Täter Les Hammond Inferno.


[lind] »poiréz« heißt die tolle neue Platte vom For-4-Ears-Label des Baselbieter Trommelelektronikers Günter Müller. Im Quartett trifft Müller auf die St. Galler Elektronikpioniere von Voicecrack und den vom HipHop kommenden jungen Marseiller Extremturntablisten Erik M: Hier werden nicht nur Leute, die die sensationellen Voicecrack Livesets [wie etwa vor knapp einem Jahr in Konstanz mit und gegen Borbetomagus] kennen »gluschdig«. Die 4 breiten üppige Texturen und Soundnetze aus, in denen sich der willige Zuhörer nur allzu leicht verstrickt.

[tb] Wenn er nicht gerade im Berliner Bungalow-Hauptquartier in der Skalitzer Straße herumhängt und sich dort um acts wie Stereo Total, Yoshinori Sunahara & Co. kümmert, bastelt Sänger und Gitarrist Ken Steen alias Space Kelly an der eigenen Musikerkarriere. Mit dem gleichnamigen Quartett Space Kelly gibt es auf der Vinyl-Single »Die schönsten Mädchen gibt es in Amsterdam« [Lounge Records/EfA] hübschen Boy-Pop mit hymnischem Charakter. Irgendwo zwischen Die Zimmermänner [kennt die noch jemand?], Sportfreunde Stiller und , ähem, Echt.

[tb] Schon etwas länger draußen, deshalb hier nur noch einmal kurz der Verweis: Mit seinem neuen Album »Showtime« [Trikont/Indigo] gelingt Rocko Schamoni sein Meisterwerk! Poppige Melodien mit Funk- und Souleinflüssen treffen auf kluge Texte, die auch mal amüsant dürfen. Stücke wie der wunderschöne Popsong »Der Mond« oder die Coverversionen »Gegen den Staat« und »Wegrennen« haben Hitcharakter.

[tb] Sein jüngstes Album »Open All Night« zeigte Marc Almond wieder von seiner besten Seite, die neue EP »Tragedy« [XIII Bis/Blue Star] legt nach. Neben dem Titeltrack gibt’s Remixe von »Threat Of Love« [featuring Siouxsie Sioux] sowie »My Love«, den kein Geringerer als Almonds alter Wegbegleiter aus Soft-Cell-Tagen Dave Ball verbrochen hat. Dazu drei unveröffentlichte Extratracks und zwei Video-Tracks.

[lind] Schön, dass Heimelektro Ulm [Vgl. das erleuchtende Feature des Kollegen Hablizel in LEESON Nr. 9] kein »in Ulm, um Ulm und um Ulm herum« Projekt bleibt, sondern ständig seinen Horizont erweitert. Mit dem in Köln lebenden Holländer Roger van Lunteren ist Boss Bernd Karner ein schöner Fang gelungen, der sich gut in das zwar experimentelle aber doch immer relaxt poppige Format der Heimelektriker einfügt. Auch die Neigung, zu sehr langen, fast episch anmutenden Tracks teilt van Lunteren mit den Ulmern. »tmaens« [Heimelektro Ulm/EfA] ist der schöne, melancholische Soundtrack für den endlosen Konstanzer Herbst! Coole Nebelmusik! Geigenschwaden.

Letzte Änderungen: 28.12.2001
Produziert von
Peter Pötsch