Nr. 8 / Juni 1998

















Gästebuch


kurztips

[mz] Wenig Neues gibt es aus dem musikalischen Noise-Universum der schottischen Jesus & Mary Chain zu vermelden. Ihr neustes Werk „Munki" [Creation/Sony] bewegt sich in wohlbekannten musikalischen Gefilden. Zwischen „iloverocknroll" und „ihaterocknroll" finden sich 15 Songs, die sich ohne weiteres schon auf einem früheren Album der Brüder William und Jim Reid hätten finden können. Wenngleich „Munki" im Vergleich zum Vorgängeralbum „Stoned & dethroned" insgesamt etwas energetischer ausgefallen ist. Das remixte „Perfume" tönt wie ein Outake von Primal Scream, der Band ihres ehemaligen Schlagzeugers Bobby Gillespie. Die Single „Cracking up" verbindet all das, was man an den beiden Schotten immer geschätzt hat: emotionslosen, arroganten Gesang, monotone Bass und Gitarrenriffs à la Velvet Underground und eine Textzeile, die so stupid sie auch immer sein mag, einem irgendwie im Gedächtnis haften bleibt. Mitunter hat das sogar, wie bei dem folkigen „neverunderstood" etwa, richtiggehend Größe. Jim und William Reid sind wahre Meister der Reduktion, die seit nun beinahe 14 Jahren ein und dieselbe Platte machen und lediglich den Gehalt an Feedback und Noise variieren. Bravo!

[mh] Die fulminante Compilation „Lyricist Lounge Volume I" [Open Mic/ Rawkus] faßt [sehr schön aufbereitet] die Aktivitäten des regelmäßig in New York stattfindenden Lyricist Lounge - Showcase zusammen und featured die derzeit angesagtesten MCs und Open Mic Poets. Viele Worte müssen an dieser Stelle nicht verloren werden, da die Lounge weiter vorne im Heft (siehe Artikel über Underground-HipHop) ausgiebig erläutert wird. Nur soviel sei gesagt: ohne diese Compilation kommt ihr garantiert nicht über den Sommer. Falls doch, dann schreibt mir bitte wie.

[mz] Vorbei sind die Zeiten von „Freaks", von „Separations", von „claustrophobia, suffocation and holding hands" im kleinen Kreis. Zumindest mußte man das denken, nach dem letzten megaerfolgreichen und doch zwiespältigen Album „Different Class". Umso erstaunlicher ist es, daß Pulp nach „Common people", nach „Disco 2000" und diversen Brit und Brat-Awards doch noch mal den Rückwärtsgang eingelegt haben. „This is hardcore" [Island/Mercury] ist ein Schritt zurück im positiven Sinne, nach „Babies" und vor „His ‘n’ hers". Noch immer bestimmen die große Gesten von Jarvis die Musik von Pulp. „This is hardcore" ist Prozac-Pop, mitunter bitter, höchst depressiv und gleichzeitig glamourös. Zum ersten Mal singt Jarvis primär in der ersten Person Singular. „the rave is over, Sheffield is over, men are over, women are over, irony is over, bye bye" verkündet programmatisch und pathetisch „The day after the revolution". Höhepunkt bleibt trotzdem das Titelstück „This is hardcore", eine thematisch sperrige Single, die das Peter Thomas Sound Orchester zitiert und in den höchst zynischen, frustrierten, scheinbar emotionslosen Zeilen gipfelt „And that goes in there, and that goes in there, and that goes in there, and that goes in there/and then it’s over/Over/what a hell of a show..." And what a hell of a song! P.S. Die Vinylversion enthält vier Extratracks.

[fs] Chemische Prozesse sind nun auch hörbar, als dumpfe Einschläge. Kein audiophiles Begleitmaterial zu „In Stahlgewittern", sondern computerverstärkte Detonationen von Propan-Luft-Gemischen stellt Bastiaan Maris in „Large Hot Pipe Organ" [Staalplaat/Tesco] vor, einer nach „The Heater" und „Relaytors de Luxe" (Maris/Homsy) weiteren Installation chemo-akkustischer und elektro-mechanischer Instrumente, deren Intensitäten hier je nach Länge der 20 präparierten Pfeiffen variieren und in wohlgesicherter Entfernung einschlagen. Für Unerschrockene: Der Zoom ist der große schwarze Drehschalter am Receiver: Also zweifellos ein interessantes Experiment.

rare.gif (15898 Byte)[tb] Was machen That Petrol Emotion eigentlich? Früher, in prä-brit-pop-Zeiten mal eine geschätzte nordirische Kapelle, und inzwischen von der Bildfläche verschwunden. Wieder aufgetaucht ist jedenfalls Sean O`Neill, einst Gitarrist und so etwas wie Kopf der Gruppe, der nun auch, wie viele andere einstige Rockmusiker, sich in Richtung Dancefloor orientiert. Gemeinsam mit Locky Morris, einem der bekanntesten Bildhauer Irlands und der ehemaligen Dozentin für Kunstgsechichte, Mary Gallagher, macht O`Neill als Rare in Sachen dancefloor-gestütztem Pop. Wobei „Peoplefreak" (RTD) ein ausgesprochen hübsches Album geworden ist, das mal mit Trip-Hop oder Drum & Bass, mal mit harschen Gitarren, mal mit elektronisch verzerrten Sounds arbeitet. Dazu die sphärisch-schöne Stimme von Frau Gallagher. Anspieltips: „Something wild", „Trains to nowhere" und „Seems like".

[tb] Klasse Bandname, gute Platte. Nachdem in England schon nach zwei Singles („Kool Rok Bass" und „Disco Machine Gun") ein grosser Hype um die Lo Fidelity All Stars betrieben worden ist, wurde das erste Album der Sechs aus London heiß erwartet. Wobei „How To Operate With A T Blown Mind", erschienen auf dem derzeit heißesten englischen Pop-Label Skint [Epic/Sony] nicht zuviel verspricht. Stichwort Big Beat. Ziemlich souverän kommen die Songs daher und die Einflüsse aus HipHop, Breakbeats, P-Funk, Soul und Rock/Punk passen. Neben der neuen Single „Vision Incision" gefällt vor allem „Battleflag".

[mz] Für so eine Art „This Mortal Coil goes Worldmusic" steht das zweite Soloalbum des Dead-can-Dance-Gründungsmitglieds Lisa Gerrard, das sie zusammen mit ihrem langjährigen, musikalischen Partner Pieter Bourke aufgenommen hat. Auf „Duality" [4AD/Rough Trade] verbinden sich exotische Klänge mit Popmusik, vertrackte Rhythmen mit soundtrackartigen Ethno-Klängen und lyrischen Texten. Bestimmt wird das Ganze von der außergewöhnlichen Stimme von Lisa Gerrard, die auf „Duality" ihr Organ im Spiegel diverser weltmusikalischer Einflüsse erschallen läßt. Für 4AD-Liebhaber!

[tb] Vier auf Stühlen sitzende, musizierende Herren der Willard Grant Conspiracy waren die große Überraschung bei der jüngsten Tournee des Walkabouts-Duos Chris & Carla. Ehrlich gesagt haben die vier Amis aus Boston den Hauptact mit ihren geschmackvollen, langsamen Torch-Songs und ergreifendem Slow-Core ganz schön in den Bo-den gespielt. Songs voller Herzblut und Leidenschaft, gesungen von einem Sänger mit wirklich großer Stimme, der ein wenig wie eine XXL-Version von Buddy Holly aussah. Vergleiche gefällig: Low, Souled American, Triffids (wegen der Stimme) und Tindersticks: Nachzuhören auf dem soeben erscheinenen zweiten Album „Flying Low" [Slow River/RTD].

[fs] Akifumi Nakajima, besser bekannt als AUBE, läßt in seinem neuen Projekt „Mort Aux Vaches – Still Contemplation" [Staalplaat/Tesco] ein rhythmisch variables Echolot und einen sensiblen Hochfrequenzbereich gegeneinander antreten und scheint zuzusehen („– Still Contemplation"), was mit diesem Duett passiert. Überschneidungen, Ablösungen, Konkurrenz oder Harmonie, diese Beurteilung sei dem Hörer überlassen. Nur soviel, es ist ein 1stündiger Atem vonnöten.

gautsch.gif (14456 Byte)[tb] Er ist der „König des Pop", so der schönste Titel auf dem Debütalbum [V 2/RTD] des 24jährigen Studenten Gautsch. Leider baut die CD nach dem grandiosen Opener etwas ab. Gut die Hälfte der Songs zwischen Beck-inspiriertem Low-Fi-Pop und Non-HipHop sind trotzdem große Klasse. „Den Abend" mit seinem, echt, Klaus-Lage-Sample, „Ravemädchen" oder „Unterm Sofa".

[mz] Ein paar übriggebliebene, desperate, australische Blues-Heroen gibt es noch: Nick Cave, Hugo Race oder eben Louis Tillet. Letzterer hat gerade sein viertes Solo Album „Cry against the faith" [Normal] veröffentlicht, einmal mehr eine musikalische Reise in dunkle Gefilde der Seele. Weniger kammermusikalisch und düster als auf dem formidablen Vorgängeralbum „Letters to a dream" (1992) zwar, aber immer noch hauptsächlich den menschlichen Abgründen zugewandt sind die Texte des Australiers mit der klassischen Piano-Ausbildung. Verflossene Liebschaften, gebrochene Herzen, Einsamkeit und zitternde Hände im Morgengrauen sind narrative Versatzstücke dieser Piano-Bar-Jazz-Blues-Musik, die immer wieder von Bläsersätzen aufgelockert wird und eigentlich nur richtig eklig werden kann, wenn das Saxophon von Diana Spence musikalischen Raum beansprucht. Anspieltips: „Tombstone Eyes" und das elegische „It’s gonna rain".

[fs] Wer die Sprachexperimente aus den 50ern und 60ern (Lily Greenham liest Greenham, Heissenbüttel, Jandl u.a.) kennt, der kann sich vorstellen, was jaap blonk auf „vocalor" [Staalplaat/Tesco] unternehmen: Eine phonetische Klangkollage, die sich an Vokalen, Konsonanten und Silben abarbeitet und als Höhepunkt und Abschluß im „Lautgedicht" (nach Morseprinzip) von Man Ray gipfelt. Äußerst experimentell und durchaus interessant.

[tb] Jennifer Herema und Neil Hagarty besser bekannt als Royal Trux sind bereits seit einigen Jahren mit ihrem trashigen Garagenrock unterwegs. Man erfreut sich einer relativ großen Fangemeinde und hat gewissen Kultstatus inne. „Accelerator" [Domino/RTD] ist das siebte Album dieser Trash-Rocker mit hohem Glam-Faktor, die trotz diverser Seventies-Bezüge, zum Glück eines definitiv nicht sind: Retro-Rocker! Das verhindert nicht zuletzt auch die ironische Herangehensweise an die Musik und die enorme Durchgeknalltheit des Pärchens. Ob bei der Country-Persiflage „Yellow Kid", dem Swamp-Rocker „Another year" oder „Liar", meinem persönlichen Favoriten.

[mz] Die Trip-Hop-Nachwehen geistern durch die Songs von Morcheeba und Hipkiss. Erstere haben gerade ihr zweites, deutlich weniger dancebeatlastiges Album „Big Calm" [Wea/Public Propaganda] veröffentlicht, letztere ihr Debütalbum „Bluebird" [Sony/Public Propaganda]. Während Morcheeba ein wirklich nettes Pop-Album mit Streicherarrangements, Danceversatzstücken, Folk- und Dub-Anklängen („Friction" featured den NY artcore Psychonauten Nosaj von New Kingdom) geschaffen haben, liebäugeln Hipkiss mitunter mit Easy-Listening-Sounds. Vieles wirkt dabei unausgegoren, mitunter langweilig (richtiggehend häßlich ist die ein oder andere Gitarrenspur). Auch im gesanglichen Vergleich hat Morcheeba Frontfrau Skye Edwards Hipkiss-Sängerin Catherine Mather einiges voraus: Während Skyes Stimme Soul hat, erstarrt bei Mather vieles zur reinen Pose. Die gemeinsame Vorliebe für Soundtracks (von John Barry bis Henry Mancini) soll Hipkiss zusammengeführt haben. Ein Einfluß, der einem auf „Bluebird" auf Schritt und Tritt begegnet, aber eben primär in der Form klanglicher Allgemeinplätze.

[tb] Heftiger Garagenrock mit der schwedischen Retro-Kapelle Silverbullit, die auf ihrem gleichnamigen De-bütalbum [Clearspot/EfA] auf den Spuren der Stooges, 13th Floor Elevators und Doors (jaja, das Örgelchen) sind. Gut gemacht, ohne Zweifel und auch nett, doch wer braucht so was heute noch? Oder wieder?

[fs] Was bei Fabrikation von LEESON Nr.7 noch im Dunkeln lag, daß man nämlich bei Justin Bennetts „Cityscape" per Mausklick zweidimensional und akustisch durch eine multiethnisch-urbane Landschaft zappen konnte, er-hält nun seine Ergänzung. „The mosques of tanger" [mCD auf Staalplaat/ Tesco] importiert vorab orientalisches Flair (Gebetsgesänge, ländliche Geräusche u.ä.), wovon sich die Einwohner dieses lieblichen Städtchens, wenn auch nicht videoinstallativ (wäre sicher auch sehr interessant), so doch in absehbarer Zukunft realiter vergewissern werden können. Hier ein kleiner Vorgeschmack.

[tb] Daß es allmählich Zeit wird für einige Gedanken an den Synthie-Pop der frühen Achtziger Jahre, zeigen ja nicht nur Kreidler, sondern auch I-f, dessen Elektro-Synth-Song „Space Invaders Are Smoking Grass" schön mit Elementen von damals spielt. Enthalten ist der tolle Track auf dem jüngsten Sampler von Interdimensional Transmissions, der Techno-Electronic-Listening-Reihe „From Beyond" [Sub Up/EfA]. Wobei auch der Rest, ob nun u-ziq alias Mike Paradinas, Krok oder Synapse überzeugt.

[tb] Schlicht Wagon nennt sich ein countryinfiziertes Quintett aus St.Louis/Missouri, das sein sehr schönes zweites Werk einfach „Anniversary" [Glitterhouse/TIS/ eastwest] nennt. Eingespielt wurde die Platte in einer Scheune, was mich natürlich an eine andere feine „Scheunen-Platte", „In The Pines" (1986) der australischen Triffids erinnert. Wobei die mit Dobro, Lap Steel Gitarre, Cello und sonstigem Instrumentarium eingespielten Stück übrigens genauso nahe am Folk sind wie am Country. Weshalb manche Kollegen das als Countryrock bezeichnen, bleibt mir jedenfalls ein Rätsel. Anyway, welche Schublade hier aufgemacht wird: gute Platte!

nagativ.gif (14068 Byte)[fs] Commercials all over the world! Kaliforniens innovative Cut-Up-Combo Negativland präsentiert mit ihrer „Happy Heroes" EP [Seeland/Staalplaat] eine weitere Klangkollage aus wohlbekannten Motiven, die mit einem erfrischenden Remix des gleichnamigen Track unmittelbar an das Vorläuferprojekt „Dispepsi" (Leeson, #7) an-schließt. Als Plus gibt es hierzu dann noch ein „One World Advertising"-"Happy Heroes"-Wendeposter, das man sich möglichst auch nicht entgehen lassen sollte. Wertung unverändert: It fits all you need, anyway.

[tb] Nach Film- und Theatermusiken und den Hörspielen mit Haage und Ammer, arbeitet Ex-Nebauten-Schlagwerker F.M.Einheit nun mit der 22jährigen dänischen Sängerin Gry zusammen. Wobei „Touch of E!" [Our Choice/RTD] zwischen einer Art nordischem Trip-Hop, Pop, Dark Wave und Filmsoundtrack hin- und herpendelt. Trotz einiger guter Songs ingesamt nicht so wahnsinnig spannend.

[fs] „Long Stones & Circles", schwankend zwischen `ambient industrial’ und `musique concrète’ , ist ein Gewebe von natürlichen Klängen (Grillen, Steine, Wind, Salz oder Wasser), Instrumenten (Gitarren, Metronome) und rezitierenden Stimmen, die die am-bienthafte Stimmung über 18 Minuten (Maxi-CD) hinweg bestimmen und einen faszinierenden Einblick in das Werk des Duos Kinkelaar/de Waard [Beequeen] bahnen. Vielleicht ein wenig verwirrend, aber schon allein der Verpackung wegen audiophil.

[tb] Allererste Adresse für deftigen Garagen-Rock ist das Hamburger Crypt-Label. Fans werden das Bostoner Trio Cheater Slicks nach fünf regulären Alben bereits kennen. „Skidmarks" bringt nun auf über 70 Minuten insgesamt 18 Outtakes, Raritäten, Radioaufnahmen sowie Songs vom unveröffentlichten ersten Album (1989). Wem die Cramps nach all den Jahren zu zahm geworden sind, der höre hier mal rein.

[fs] „Crisis In Clay", der zweite Versuch von den 5UU’s (ReR) nach „Hunger’s Teeth" (1994) ist ein buntes Einerlei, das progressiven Rock a la Zappa und frühe Produkte Henry Cows (Cow/Cutler/Frith/Cooper/Hodgkinson) -man denke nur an die drei Stricksocken-Editionen (`73/`74/`75, Virgin)- zu einem Soundcluster verwebt, das doch an die Vorbilder nur annähernd heranreicht. Bei aller Liebe fürs Detail ergibt das ein hektisches Gebilde, das ohne Leitfaden, Struktur und Netz auszukommen meint. Oder ist das vielleicht das, was man unter progressiver Avantgarde versteht? Ich hoffe nicht. Wertung: Eher enttäuschend, wenn man die Vorlagen in Erinnerung ruft.

Letzte Änderungen: 28.12.2001
Produziert von
Peter Pötsch